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Böll-Stiftung nimmt Podcast vom Netz – Eingeknickt vor Anthroposophen

von | Nov 18, 2022 | Aktuelles

Von Matthias Meisner

Diese Auseinandersetzung mit der anthroposophischen Bewegung war fürs grüne Milieu ganz offensichtlich eine gehörige Prise zu scharf: Die parteinahe Heinrich-Böll-Stiftung in Baden-Württemberg und ihre bayerische Schwesterorganisation Petra-Kelly-Stiftung haben einen etwa 45-minütigen Podcast vom Netz genommen, in dem der Journalist Dietrich Krauß zum Thema Anthroposophie sprach. Dies sei „vorübergehend“ geschehen, hieß es.

Dem vorausgegangen war eine Intervention der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland. Sie hatte in einem dreiseitigen Protestbrief an die beiden Stiftungen Krauß vorgeworfen, sich „falsch, diffamierend und perfide“ über die Anthroposophie geäußert zu haben. Es handele sich bei dem Podcast und eine „bizarre Anhäufung von Halbwahrheiten“, Krauß verbreite ein „Zerrbild“ über die Bewegung und wolle „den totalen Ausschluss der Anthroposophie aus dem öffentlichen Leben“. Das Schreiben liegt dem Volksverpetzer vor.

„eine menschenfeindliche Ideologie“

Die Vorwürfe verfingen – zumindest im ersten Anlauf. Die Geschäftsführerin der Petra-Kelly-Stiftung, Gesa Tiedemann, sagte auf Volksverpetzer-Anfrage: „Wir haben den Podcast mit Dietrich Krauß in Reaktion auf das Schreiben der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland vorübergehend offline gestellt. Derzeit beraten wir mit den ehrenamtlichen Gremien der Petra-Kelly-Stiftung Bayern und der Heinrich-Böll-Stiftung Baden-Württemberg über das weitere Vorgehen.“ Der Geschäftsführer der Böll-Stiftung Baden-Württemberg, Andreas Baumer, äußerte sich fast wortgleich.

Besonders empörte sich die Anthroposophische Gesellschaft in dem von Monika Elbert und Michael Schmock – beide Vorstand und Generalsekretärin bzw. Generalsekretär – unterzeichneten Schreiben über eine Passage in dem Podcast, in dem Krauß gesagt hatte, es gäbe „anthroposophische Behinderteneinrichtungen, die betrachten Behinderung als eine Strafe von Fehlverhalten aus dem letzten Leben“. Der Autor sagte weiter: „Also das ist so eine menschenfeindliche Ideologie und dass man solchen Leuten offiziell die Betreuung von gehandicapten Menschen übergibt, das finde ich einfach fahrlässig.“ Die Anthroposophische Gesellschaft entgegnet, eine solche Aussage des Autors lasse sich „nirgends belegen“, sein Vorwurf „entbehrt daher jeder sachlichen Grundlage“.

ein ganzer Stapel Belege

Krauß legte der Böll-Stiftung indes einen ganzen Stapel Belege für seine Äußerungen vor. Darunter sind Auszüge aus verschiedenen Reden von Rudolf Steiner, dem Begründer der Anthroposophie. Steiner sprach 1910 in Bremen über „Lebensfragen im Lichte von Reinkarnation und Karma“ und philosophierte dabei über die Eigenschaft der „Lügenhaftigkeit“: Er sagte: „In einer Inkarnation wird da der Mensch im Alter scheu. Aber in der nächsten Inkarnation wirkt diese Eigenschaft sich als Architekt des Leibes aus. Da tritt das Kind nicht nur schwach auf, sondern so, dass es überhaupt kein rechtes Verhältnis zu seiner Umgebung gewinnen kann, dass es schwachsinnig ist.“ Im selben Jahr sagte er in Hamburg, ein „früherer Hang zur Lügenhaftigkeit“ führe im späteren Leben zu einer „schwachen Organisation“ eines Menschen, „eine Organisation, die sozusagen unrichtig gebaut ist, die regellos gebaute innere Organe in der feineren Organisation zeigt“.

Steiner erwähnte drei aufeinanderfolgenden Inkarnationen: „Oberflächlichkeit und Flatterhaftigkeit in der ersten Inkarnation, Hang zur Lügenhaftigkeit in der zweiten und physische Krankheitsdisposition in der dritten Inkarnation. Da sehen wir Karma an Gesundheit und Krankheit arbeiten.“ Diese Überlegungen vertrat Steiner über die gesamte Zeit seines Schaffens. 1924 in Dornach skizzierte er seine heilpädagogische Linie so: „Denn es ist schon interessant zu sehen, dass moralische Defekte, die mit dem Karma zusammenhängen, dass diese so starke Kräfte sind, wo karmische Immoralität ist, dass sie unweigerlich in Deformationen des physischen Organismus auftreten.“

Seelenpflegebedürftige ist hier ein Synonym für Behinderte

Dass dieses Gedankengut in der anthroposophischen Szene bis in die Neuzeit Anklang findet, zeigen unter anderem die 2002 verabschiedeten und bis heute gültigen Leitgedanken des Verbandes für anthroposophische Heilpädagogik, Sozialtherapie und soziale Arbeit. Dort heißt es unter der Überschrift „Unser Verständnis vom Menschen“, der anthroposophisch erweiterte Entwicklungsbegriff sei nicht auf leibliche und seelische Prozesse begrenzt. Die Persönlichkeit leite sich nicht ausschließlich aus vererbten und sozialen Bedingungen her, sondern sei „Ausdruck eines individuell-geistigen Entwicklungsstromes (…), der bereits vorgeburtlich wirksam war und über das gegenwärtige Leben hinaus Entwicklung veranlasst“. Der Verband benannte sich 2013 um in Bundesverband anthroposophisches Sozialwesen (Anthropoi). In ihm sind nach eigenen Angaben 182 Trägerorganisationen mit 263 Einrichtungen zusammengeschlossen, in denen ca. 17.000 Menschen mit geistiger, seelischer und mehrfacher Behinderung leben.

Das Rudolf-Steiner-Institut in Kassel bezieht sich bei seiner Ausbildung staatlich anerkannter Heilpädagog:innen – durchschnittlich 150 Seminarist:innen – ausdrücklich auf die Schriften von Steiner. Auf der Homepage heißt es: „Wie begegne ich seelenpflegebedürftigen Kindern? Wie kann ich bei mir selbst heilende Fähigkeiten ausbilden? Rudolf Steiners Buch ,Der heilpädagogische Kurs‘ bietet Antworten und weitere Anregungen zu diesen Fragen.“ Seelenpflegebedürftige ist hier ein Synonym für Behinderte.

anthroposophische Funktionäre leugneten kernelemente ihrer lehre

Das Studium all dieser Belege warteten die Grünen-nahen Stiftungen nicht ab, bevor sie die die Verbreitung des Podcasts auf Druck der Anthroposophischen Gesellschaft stoppten. Krauß sagt dem Volksverpetzer: „Ich bin schon erstaunt über die Chuzpe, mit der anthroposophische Funktionäre Kernelemente von Steiners Lehre leugnen, um der Öffentlichkeit weiter ein geschöntes Bild der anthroposophischen Weltanschauung präsentieren zu können. Umso schlimmer wäre es, wenn diese Linie bei einer renommierten Einrichtung wie der Böll-Stiftung verfangen sollte.“ Er versicherte, es gehe ihm an keiner Stelle darum, Menschen in diesen Einrichtungen zu diskreditieren. „Es geht darum kritisch zu beleuchten, ob Steiners Weltanschauung, die für die Ausbildung anthroposophischer Heilpädagogen zentral ist, überhaupt geeignet ist, Behindertenarbeit ethisch und fachlich anzuleiten.“

Krauß ist seit Jahren ein renommierter Experte zum Thema. Der Stuttgarter beschäftigte sich ausführlich auch mit den Verbindungen ins Querdenken-Milieu, das im Südwesten besonders stark verankert ist. Im Juli 2020 veröffentlichte er in der in Stuttgart erscheinenden Wochenzeitung „Kontext“ den Text „Wir können alles außer Impfen“ (Quelle). Einleitend hieß es: „Nirgendwo in Deutschland ist die Impfquote niedriger als in Baden-Württemberg. Will man verstehen, wo die schwäbische Impfparanoia ihren Ursprung hat, sollte man vor allem die Anthroposophie Rudolf Steiners in den Blick nehmen.“

Anthroposophie und „Querdenken“

Der Beitrag wurde später in aktualisierter Version in das im April 2021 erschienene Buch „Fehlender Mindestabstand – die Coronakrise und die Netzwerke der Demokratiefeinde“ aufgenommen, ein Titel, an dem der Autor dieses Textes als Mitherausgeber beteiligt ist. Die Analyse von Krauß fand seinerzeit auch bei der Heinrich-Böll-Stiftung in Baden-Württemberg Aufmerksamkeit, die in den Schnittmengen zwischen der anthroposophischen Szene und den grünen Milieus ein wichtiges Thema sah. Im April 2022 organisierte die Stiftung eine Lesereise zum Buch „Fehlender Mindestabstand“, die Krauß und den Autor dieses Textes nach Freiburg, Stuttgart, Konstanz und Mannheim führte.

Schon zuvor war im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung Baden-Württemberg die Studie „Quellen des Querdenkertums“ entstanden (Quelle). Die Baseler Soziolog:innen Nadine Frei und Oliver Nachtwey analysierten im November 2021, dass im deutschen Südwesten die fest verankerte Alternativszene und die anthroposophische Bewegung Triebfedern von „Querdenken“ & Co. sind (Quelle).

Diese problematische Allianz wirkt bis heute nach – über die Grenzen des Bundeslandes hinaus. Im Oktober 2022 sollten an der anthroposophisch geprägten Privatuniversität Witten-Herdecke die „Querdenker“-Ikonen Stefan Homburg und Ulrike Guérot auftreten (mehr dazu). Der Plan wurde nach einem Volksverpetzer-Bericht, Kritik unter anderem des Grünen-Gesundheitspolitikers Janosch Dahmen (mehr dazu) und dem Protest von Studierenden (mehr dazu) nicht umgesetzt. Man könnte jetzt sagen: Sowas kommt von sowas.

„vehemente Angriffe auf kritische Journalist:innen“

Im Novemberheft des anthroposophischen Magazins „Info 3“ hieß es in einem neunseitigen Beitrag: „Die Bekämpfung von Anthroposophie und ihrer Praxisfelder in Blogs und auf Twitter sowie in Zeitungen und Fernsehsendungen hat sich in der Corona-Zeit in einer Weise gesteigert, die man sich noch 2019 – dem Jubiläumsjahr der Waldorf-Pädagogik mit viel positiver Medienresonanz – nicht vorstellen konnte.“ Von einer „gut koordinierten Aktion“ ist die Rede, von einem „Netzwerk“ – im Mittelpunkt der Blogger Oliver Rautenberg, auf Twitter als @AnthroBlogger unterwegs. Aber auch beispielsweise die Wissenschaftlerin Katharina Nocun, die vor ein paar Wochen gemeinsam mit Pia Lamberty das Buch „Gefährlicher Glaube – die radikale Gedankenwelt der Esoterik“ geschrieben hat, Dietrich Krauß als Redakteur der ZDF-Satiresendung „Die Anstalt“ und der Autor dieses Textes werden erwähnt. Kritik, die anthroposophische Bewegung würde in Fundamentalopposition zu den Corona-Maßnahmen stehen und sei ein Hort des „Querdenkertums“ wird als „Unterstellung“ zurückgewiesen.

Rautenberg sagt dem Volksverpetzer: „Die organisierte Anthroposophie scheint nicht willens oder in der Lage zu sein, sich den eigenen Problemen zu stellen. Die vehementen Angriffe auf kritische Journalist:innen ergeben das Bild eines in sich geschlossenen Glaubenssystems, in dem jede Kritik grundsätzlich einen Frevel darstellt.“

„Eine Auseinandersetzung mit der anthroposophischen Bewegung ist erst mal nicht geplant“

Die bittere Pointe: Über die Frage, was Anthroposophie und „Querdenken“ gemeinsam haben und was nicht, wollen die Grünen-nahen Stiftungen auch künftig diskutieren – aber auch nur über diesen Aspekt. Darum sei es in der Podcastreihe „Ein Spaziergang im Süden“ (Quelle) gegangen, sagt die Geschäftsführerin der Petra-Kelly-Stiftung, Gesa Tiedemann. Und nur darum soll es auch künftig gehen. Tiedemann sagt: „Eine Auseinandersetzung mit der anthroposophischen Bewegung ist erst mal nicht geplant.“ Das hört sich so an, als ob die „vorübergehende“ Löschung des Podcasts mit Dietrich Krauß nicht nur vorübergehend sein wird.

Artikelbild: svic