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Studie: Medien waren zum Ukrainekrieg regierungskritisch & differenziert

von | Dez 23, 2022 | Aktuelles

Deutsche Leitmedien sind in ihrer Berichterstattung über den Angriffskrieg auf die Ukraine kritisch mit den Positionen und Handlungen der Regierung umgegangen. Sie haben insgesamt differenziert, regierungskritisch und vielseitig berichtet, es kamen verschiedene Positionen zu Wort. Lediglich beim Thema Waffenlieferung bestand überraschende Einigkeit. Das zeigt der Zwischenbericht einer quantitativen Studie, die die Lage genau untersucht hat. Damit sind die zentralen, prominent diskutierten Vorwürfe von Precht und Welzer stark in Zweifel gezogen.

Kritik an den Medien, so aus dem Bauch heraus

In ihrem Buch “Die vierte Gewalt”, das Ende September erschienen war, hatten Harald Welzer und Richard David Precht steile Thesen zur Lage der Berichterstattung in deutschen Leitmedien zum Krieg in der Ukraine rausgehauen. Eine Datengrundlage gab es für die Behauptungen nicht, sie basierten viel mehr auf dem Bauchgefühl der beiden Herren. Dafür reagierten die beiden umso empfindlicher, wenn Journalist:innen ihre Thesen kritisieren und ihnen mangelnde Genauigkeit und fehlende Faktenlage vorwarfen. Jetzt ist eine Studie erschienen, die die entsprechenden Daten liefert – und die Thesen von Precht und Welzer in ein ungutes Licht wirft. 

Gegenrede unerwünscht? 

Steile Thesen und vorwurfsvolle Behauptungen aufstellen und dann auf Kritik empfindlich reagieren ist natürlich eine beliebte Taktik. Besonders eindrücklich stellten Welzer und Precht diese in der Talkshow von Markus Lanz Ende September zur Schau. In der Talkshow waren mit Robin Alexander, Stellvertretender Chefredakteur von der Welt, und Melanie Amann, Mitglied der Chefredaktion vom Spiegel und Leiterin des dortigen Hauptstadtbüros, zwei führende deutsche Journalist:innen vertreten, denen im Buch selbst Vorwürfe gemacht wurden. 

Offenheit für eine Reaktion und kritische Auseinandersetzung der beiden Journalist:innen zu den im Buch gemachten Vorwürfen zeigten Precht und Welzer wenig. “Das steht so nicht im Buch“, giftete Richard David Precht auf nahezu jeden Versuch von Amann und Alexander, Aussagen aus dem Buch zu paraphrasieren, um darüber zu diskutieren. In einigermaßen unermesslicher Arroganz ließ er sich schließlich dazu hinreißen, Amann gegenüber zu erklären: „Am Anfang habe ich gedacht, das ist Absicht. Inzwischen habe ich den Verdacht, Sie haben gar nicht verstanden wovon wir reden“ (min. 39:00). Okay, wenn eine Juristin und Topjournalistin nicht versteht, wovon ihr in eurem Buch schreibt, vielleicht habt ihr dann einfach ein sehr schlechtes Buch geschrieben?

Aber was steht denn nun im Buch?

In der Sendung erfährt man also vor allem, was angeblich nicht im Buch steht. Aber was steht denn nun eigentlich drin? Andrej Reisin bringt es in einem Artikel bei Übermedien so auf den Punkt: 

“Einerseits beschreiben die Autoren den „immensen und immer stärker anwachsenden medialen Druck“ auf den zögernden Bundeskanzler, schnell mehr Waffen und insbesondere „schwere Waffen“ zu liefern. Andererseits heißt es nur wenige Seiten später: „Im Angesicht von Kriegen rücken die Medien sehr nahe an die Regierung heran. (…) Das Dilemma bei der konzertierten Übernahme des Regierungs-Narrativs durch sämtliche Leitmedien aber ist, dass sie nun nicht mehr in der Lage sind, die Position eines Dritten gegenüber den Angegriffenen und den Angreifern einzunehmen; jene Position, die auf bestmögliche Weise dazu geeignet ist, objektiv über das Geschehen und seine Deutungsmöglichkeiten zu berichten.“

Bei Lanz hatte Robin Alexander bereits darauf hingewiesen, dass sich die beiden Hauptthesen deutlich widersprechen: 

“Beide Dinge schließen sich eigentlich denklogisch aus. Entweder wir haben uns mit Scholz auf was einigt, oder wir treiben Scholz zu was, was er eigentlich nicht will.” (min 13:00

Behauptungen ohne Recherche

Die Journalistin Amann kritisierte insbesondere, dass die beiden Autoren einfach ihre persönliche Wahrnehmung als Tatsachen darstellen. Belegen ließen sich ihre Aussagen nämlich nicht. 

“Da stehen viele Dinge drin, die etwas mehr Recherche verdient hätten” (min 17:49), war etwa Amanns Kommentar. Und weiter: “Die Leute, die das Buch jetzt kaufen, bekommen die Behauptungen ohne die Recherche (23:58).

Studie erschien MItte Dezember

Jetzt ist endlich eine Studie da, die sich genau mit dem Thema befasste: Wie berichteten deutsche Leitmedien über den Angriffskrieg auf die Ukraine? Welzer und Precht hätten natürlich eigentlich auf die Veröffentlichung warten können und erst dann ihr Buch schreiben können, aufbauend auf Fakten. Aber dann hätte es eben mit wesentlich weniger steilen Thesen auskommen müssen..

Forscher der Uni Mainz analysieren auf breiter Datenbasis die Medienberichterstattung über den Krieg. Insgesamt wurden 4.300 Beiträge aus FAZ, Süddeutsche Zeitung, Bild, Spiegel, Zeit, ARD Tagesschau (20 Uhr), ZDF Heute (19 Uhr) und RTL Aktuell (18:45) mit Hilfe einer qualitativen Inhaltsanalyse untersucht. Die Beiträge erschienen im Zeitraum 24. Februar bis 31. Mai 2022.

Positive/negative Bewertungen

Bei einer qualitativen Inhaltsanalyse werden zunächst Kriterien festgelegt, welche Artikel untersucht werden. Etwa, dass sie in dem bestimmten Untersuchungszeitraum in einem der untersuchten Leitmedien erschienen sind und sich mindestens in einem Absatz mit dem Krieg in der Ukraine beschäftigen. Anschließend werden sogenannte Codes entwickelt, also knappe Zusammenfassungen bestimmter Aussagen oder Positionen. Ein Code in diesem Fall könnte etwa sein: „Kriegsverursacher: Russland“, ein anderer „Kriegsverursacher: NATO“, oder: „Bewertung Scholz positiv“ und „Bewertung Scholz neutral“ und „Bewertung Scholz negativ“.

Schließlich werden alle Artikel auf diese Codes hin untersucht. Es wird also gezählt, in wie viel Artikeln Scholz als positiv, negativ oder neutral bewertet wird oder welche Seite jeweils als Kriegsverursacher benannt wird. So bekommt man einen tatsächlichen Überblick darüber, was denn nun eigentlich wirklich geschrieben wurde.

Soviel schon einmal vorweg: Die Ergebnisse belegen weder die These der Einhelligkeit, noch der Regierungsnähe oder gar, dass die Medien Scholz vor sich hergetrieben hätten. Sie eigenen sich schwerlich für einen Skandal, sondern viel eher für ein Einführungsseminar in Funktionsweise und Kritik der Medien.

Die Ergebnisse

Werfen wir also einen Blick in die Studie.

  • Die Studie zeigt, dass die untersuchten Artikel am öftesten Entscheidungen der deutschen Regierung oder Probleme der deutschen Bevölkerung thematisierten, am zweithäufigsten der ukrainischen und am wenigsten häufig der russischen (S.4). Das ist insofern naheliegend, als dass es sich um deutsche Leitmedien handelt, und die Ukraine der angegriffene Staat ist. Dass Medien eher die Perspektive der Zielleserschaft oder der schwächeren und unterdrückten Seite darlegen, ist wohl nur schwer zu kritisieren.
  • Wie in früheren Studien zeigt sich, dass in den untersuchten Artikeln, in denen die deutsche Politik in den Blick genommen wird, insbesondere die Regierungsparteien thematisiert werden. Auch das ist logisch und sinnvoll, ist es doch Aufgabe der Medien, die Regierung kritisch zu begleiten.
  • Mit Blick auf die wichtigsten Konfliktakteure zeigt sich, dass der ukrainische Präsident Selenskyj relativ positiv bewertet wird, während der russische Präsident Putin sehr negativ bewertet wird (S. 6). Auch hier fällt es schwer, sich ein logisches gegenteiliges Szenario vorzustellen. Außer natürlich man fordert, dass ein diktatorisches, autoritäres Regierungsoberhaupt, dass mal eben einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen ein Nachbarstaat gestartet hat, netter gefunden werden sollte (WEGEN DER AUSGEGLICHENHEIT???!?!?) als der demokratische Vertreter des angegriffenen Staates.. Einen imperialistischen und völkerrechtswidrigen Angriffskrieg nicht negativ zu bewerten, bedeutet die Absage an jeden Humanismus.

Kommen wir zu Bundeskanzler Scholz

Wir erinnern uns: Im Buch von Welzer und Precht wurde den Leitmedien eine „konzertierten Übernahme des Regierungs-Narrativs“ vorgeworfen. Die Studie bestätigt das keinesfalls:

„Wurde Scholz nach seiner Zeitenwende-Rede am 27. Februar in den ersten drei Wochen nach Kriegsausbruch noch überwiegend positiv bewertet, verschlechterte sich seine Bewertung bis Mitte April im Zuge der anhaltenden Diskussionen um Waffenlieferungen und einen möglichen Scholz Besuch in der Ukraine fast kontinuierlich. Nachdem die Berichterstattungstendenz Anfang Mai kurzzeitig wieder leicht ins Positive gewechselt war, verschlechterte sie sich zum Ende des Untersuchungszeitraums erneut deutlich.” (S. 7)

  • Darüber hinaus wurde die Regierung insgesamt sehr unterschiedlich in verschiedenen Medien bewertet (S. 9). Damit ist die Behauptung der Einhelligkeit widerlegt.
  • In einem Aspekt herrscht große Einigkeit unter den Medien. Die allermeisten Artikel über alle Medien hinweg benennen Russland bzw. Putin als Kriegsverursacher (S. 10). Aber ist halt auch schwer was anderes zu behaupten, wenn er einfach ein anderes Land per Angriffskrieg überfällt?

Maßnahmen zum Krieg

  • Bei der Untersuchung in Hinblick auf verschiedene Maßnahmen zur Beendigung des Krieges ließe sich das größte Zugeständnis an Precht und Welzer machen. So werden diplomatischen Maßnahmen in den untersuchten Artikeln zu über 25 % als nicht sinnvoll bewertet. (S. 11). Die militärische Unterstützung, zum Teil auch mit schweren Waffen, wird dagegen überwiegend als sinnvoll eingestuft. Zu dem Zeitpunkt, in dem die Artikel erschienen, war Russland noch auf dem Vormarsch – wenn auch deutlich langsamer als von vielen erwartet worden war.
  • Die Aufnahme von Verhandlungen wäre mit massiven Gebietsverlusten der Ukraine an Russland einhergegangen. Russland zeigte schlicht keine Bereitschaft, über Positionen zu verhandeln, die für die Ukraine in irgend einer Form annehmbar gewesen wären. Es gab also sehr gute Gründe dafür, das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine zu unterstützen. Und auch hier zeigt sich: Abgesehen davon, dass nahezu alle Artikel für Humanitäre Unterstützung der Ukraine plädierten, lässt sich bei weitem keine Einhelligkeit feststellen.
  • Auch mit Blick auf die Bewertung der Maßnahmen im Medienvergleich zeigt sich, dass es insbesondere bei der Bewertung der Diplomatischen Maßnahmen große Unterschiede zwischen den verschiedenen Medien gibt (S. 12). Nicht nur wurden in einzelnen Medien Artikel mit unterschiedlichen Standpunkten veröffentlicht. Verschiedene Medien veröffentlichten mehr oder weniger Artikel mit bestimmten Bewertungen. Es kann also keine Rede von Einhelligkeit sein, weder innerhalb eines Medienhauses, noch im Medienapparat an sich.

Medienkritik? JA BITTE!

Versteht uns nicht falsch, niemand hat was gegen Medienkritik. Im Gegenteil. Gerade wir beim Volksverpetzer schreiben ja ständig über faktisch falsche, problematische oder rassistische Berichterstattung, bei „alternativen“ wie „Mainstream“ Medien. Aber der Punkt ist, wir machen das auf Faktenlage und eben nicht allein aus einem Bauchgefühl heraus.

Precht und Welzer haben eine sehr große mediale Reichweite. Ihre Medienkritik war nicht nur inhaltlich falsch, sie nährte auch – obwohl sie sich explizit immer wieder klar davon abzugrenzen versuchten – das Narrativ der „Medienelite“, die mit „den Mächtigen“ unter einer Decke steckt. „Lügenpresse“-Vorwürfe von AfD & Co., nur nicht so formuliert. Damit tut sie dem Vertrauen in die Medien, um das sie sich angeblich sorgen, einen Bärendienst.

Der Journalist Nils Minkmar, der viele Redaktionen kennt, erklärt in Reaktion auf die Thesen von Precht und Welzer, was die beiden hätten wissen können, wenn sie sich nur etwas intensiver mit Recherche im tatsächlichen Mediengeschäft beschäftigt hätten:

„Es wird in jeder Redaktion permanent alles hinterfragt: Das Geschäftsmodell, die letzte Ausgabe, die generelle Strategie, die gegenwärtige Taktik, die Berichterstattung über Deutschland und die Welt und alles andere auch. Sind drei Wirtschaftsredakteur:innen im Raum, vertreten die auch drei Meinungen. Der verstorbene FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher, der es wirklich verstand, Themen zu setzen und von seiner Meinung überzeugt war, stöhnte einmal: Wenn ich erzähle, dass ich mit diesem oder jenem essen war, kann ich sicher sein, am nächsten Tag eines Verriss seines neuen Buches in der FAZ zu lesen!“

Was soll abgegruckt werden?

Müssen alle Meinungen abgedruckt werden? Natürlich gehört es zum journalistischen Ethos, vielfältige Meinungen darzustellen. Die eigene Meinung kritisch zu hinterfragen, offen für Fakten zu sein, die eine andere Position unterstützen. Aber es ist ein Unterschied, ob man verschiedene Meinungen zeigt, oder verschiedene Tatsachenbehauptungen. Meinungen ja, sofern sie faktenbasiert sind und keine Desinformation verbreiten.

 Brauchen wir wirklich einen Leitartikel in sämtlichen Medien über die Verschwörungserzählung einer Person, die Erde sei eine Scheibe? Müssen wir uns wirklich ernsthaft mit diesen faktisch falschen Behauptungen auseinandersetzten? Natürlich nicht, und zwar weil sehr gute Gründe dagegen sprechen. Medien sollen Menschen dabei unterstützen, sich eine fundierte Meinung aufgrund von verschiedenen Positionen und Fakten zu bilden und nicht irgendwelchen falschen und unwissenschaftlichen Quatsch zu glauben. 

Artikelbild: Rolf Vennenbernd/dpa