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Vom Wähler abgehängt: versteht die Linke noch „den Osten“?

von | Sep 2, 2019 | Aktuelles, Analyse

Vom Wähler abgehängt: versteht die Linke noch „den Osten“?

Von Tobias Wilke

Die Erklärungsmuster sind bekannt. Die Linke wiederholt sie gebetsmühlenartig, weite Teile der Medien nehmen sie dankbar auf und machen sie sich zu eigen, wenn es darum geht, den rechtsdrehenden Urnengang der Wähler im „abgehängten Osten“ zu erklären. Das Problem: Menschen in abgehängten Regionen werden wie selbstverständlich gleichgesetzt mit abgehängten Menschen in den Regionen. Doch das ist keineswegs dasselbe! Vielleicht war die Linke auch deshalb der große Verlierer der gestrigen Wahlen, weil sie ein paar Strukturdaten falsch interpretiert hat.



Was heißt hier „abgehängt“?

Reportagen aus der Provinz und Ost-Erklärer in Talk-Shows bemühen gern die stets gleiche Aufzählung, wenn es darum geht, Menschen in einer Region als „abgehängt“ abzustempeln. Abwanderung zumeist gut ausgebildeter Jüngerer, daraus folgende Überalterung, schlechte Bus- und Bahnanbindung, kaum Kulturangebote, geschlossene Läden, lausige Gehälter. Und dann streift auch noch der Wolf durchs Dickicht. Klar, das könnte auf das Gemüt schlagen. Den AfD-Wählern, die in jenem ländlichen Raum besonders zahlreich sind, war aber laut infratest dimap ein anderes Thema viel wichtiger: Zuwanderung. Und das muss man mal kurz sacken lassen. Wo Abwanderung womöglich das größte Problem ist, stemmen sich die vermeintlich am schlimmsten Betroffenen ausgerechnet gegen Zuwanderung!

Abhängen ohne rechts runterzufallen: das Saarland

Betrachtet man Wirtschaft und Demografie, gibt es auch im Westen Regionen mit schlechten Indikatoren und düsteren Zukunftschancen. Das Deutsche Institut für Wirtschaft stuft das gesamte Saarland als eine von 19 „gefährdeten Regionen“ in Deutschland ein. Anders als beispielsweise die Landkreise Meißen oder Sächsische Schweiz/Osterzgebirge in Sachsen. In Brandenburg zählen Uckermark, Barnim oder Märkisch-Oderland genauso wenig dazu wie Oder-Spree.

In diesen Regionen wurde die AfD bei den gestrigen Landtagswahlen jedoch stärkste Kraft. Im Saarland hingegen käme die AfD aktuell auf 8%, die Linke als vermeintliche „Ostpartei“ auf 12%. Strukturschwäche und Abstiegsängste müssen also nicht zwangsläufig mit hohen Ergebnissen für die AfD einhergehen. Das sehen AfD-Wähler offenbar ähnlich. Laut infratest dimap spielte „Soziale Sicherheit“ bei lediglich 11% der AfD-Wähler in Sachsen eine Rolle. Bei den Wählern der Linken lag dieser Wert bei 27%, bei SPD-Wählern sogar bei 31%.

Der „unterbezahlte Ossi“: ein großes Missverständnis

Einer der beliebtesten Indikatoren für die vermeintlich eklatante Benachteiligung ostdeutscher Landluftatmer ist das sogenannte „Mediangehalt“. Die Arbeitsmarktexpertin der Linksfraktion im Bundestag, Sabine Zimmermann aus Zwickau in Sachsen, wird in den Medien regelmäßig wegen dieser Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit zitiert. Der Tenor: 30 Jahre nach dem Mauerfall verdient ein Ostdeutscher für die gleiche Arbeit 700 Euro weniger als sein Kollege aus Westdeutschland!

Leider geben sich die wenigsten die Mühe, diese Aussage zu hinterfragen. Wenn man das ganze nämlich auf Kreisebene betrachtet, wird schnell klar: der Vergleich hinkt gewaltig, die Spitzenreiter Ingolstadt und Wolfsburg dürften nicht nur Autonarren ein Begriff sein. Es hat also etwas mit dem jeweiligen Arbeitsmarkt in der Region zu tun, nicht mit „individueller Benachteiligung“ Ostdeutscher.

Der Median hat nicht überall denselben Job!

Das Mediangehalt bezeichnet in den Tabellen der Bundeagentur für Arbeit das sogenannte „Mittlere Einkommen“. Von allen Vollzeitbeschäftigten in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt wird also der oder diejenige betrachtet, bei dem die eine Hälfte der Beschäftigten mehr verdient, die andere weniger. Um es sich ggf. leichter vorstellen zu können: stünden alle Beschäftigten nach Gehältern sortiert in einer Reihe, wäre das Gehalt dessen, der genau in der Mitte steht, das Mediangehalt für diese Region.

Beim Schlusslicht Görlitz (€ 2.272) ist das womöglich eine Altenpflegerin, in Ingolstadt (€4.897) vielleicht ein Schichtleiter Karosseriebau bei Audi. Es sind also nicht „riesige Gehaltsunterschiede für denselben Job“, manche Regionen haben wegen ihrer Wirtschaftsstruktur einfach mehr gut bis sehr gut bezahlte Jobs als andere. Görlitz ist also „strukturelles Schlusslicht“ und nicht etwa der Landkreis, in dem ostdeutsche Arbeitnehmer am stärksten diskriminiert werden.

In den bayerischen Städten Schweinfurt (€2.755), Coburg (€2.757) und Hof (€2.772) liegen die Mediangehälter deutlich unter dem von Jena mit €3.173. Keiner käme deswegen auf die Idee, dass „30 Jahre nach dem Mauerfall“ Bayern benachteiligt würden gegenüber Thüringern! Gehaltsunterschiede zwischen West und Ost gibt es natürlich dennoch: die Betriebsgröße spielt dabei eine durchaus erhebliche Rolle ebenso wie die Kaufkraft vor Ort. Der Malermeister in Ingolstadt kann wegen zahlungskräftiger Kundschaft andere Preise aufrufen als der Kollege in Görlitz. Er zahlt allerdings auch mehr für Dienstleistungen, die er selbst einkaufen muss.

Nennt es doch einfach „Rassismus“

Zu den Kernthemen von SPD und Linken gehörten im Wahlkampf „Gleiches Geld für gleiche Arbeit“, „Anerkennung von DDR-Biografien“, „Respekt vor Umbrucherfahrung in der Nachwendezeit“ , „Aufarbeitung der Treuhand“ und natürlich die vielfach zitierten „gleichwertigen Lebensverhältnisse in Stadt und Land“. Man gab sich also alle Mühe, dem selbst gemalten Jammerossi ständig neue Taschentücher zu reichen, um irgendwelche Tränen zu trocknen.

Er wählte trotzdem -vor allem in jenen „abgehängten Regionen“- lieber die AfD. Weil Abwanderung für ihn offenbar das weitaus kleinere Übel ist als die durch Wirtschaftswissenschaftler wie Prof. Joachim Ragnitz vom ifo-Institut Dresden dringend geforderte Zuwanderung. Doch dieses Problem will wohl niemand offen aussprechen. Die CDU in Sachsen zeigt zwar gelegentlich „klare Kante“ gegen Abgeordnete und Funktionäre der AfD, hütet sich aber davor, deren Wähler zu brüskieren – diese gilt es schließlich „irgendwie“ zurück zu gewinnen. Die Linke beschäftigt sich intensiv mit der Vergangenheit, geht aber maximal bis Anfang der 90er zurück, wo nach ihrer Lesart die CDU den Grundstein für vieles legte, was heute irgendwie „schief“ laufe.

Wurzeln in der ddr

Den angeblich Benachteiligten in den strukturschwachen Regionen des Ostens nun aber Rassismus zu attestieren hieße, dass man die Wurzeln auch in jener DDR suchen müsste, die die Linke allzu gern verklärt. So werden sich die Parteien wohl auch künftig mit Ideen überbieten, wie die AfD-Wähler im ländlichen Raum mit der doch eher illusorischen Ansiedlung von DAX-Konzernen im Nirgendwo und Überlandbussen im 15-Minuten-Takt besänftigt werden könnten. Die aber wollen vor allem wütend sein dürfen. Bevorzugt auf Ausländer.

Artikelbild: Andrey_Popov, shutterstock.com