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Warum wählt die „Unterschicht“ die AfD?

von | Mrz 12, 2018 | Analyse

Viele fragen sich, wieso die AfD von Menschen in prekärer Lage gewählt werden sollte, wo diese doch wenig bis gar nichts gegen Armut machen möchte. Wählt man einfach extremer, wenn man arm ist? So einfach ist das nicht.

Was ist nicht alles gesagt und geschrieben worden über diese Partei? Manchmal fühlt man sich wie ein Zuschauer im Kino, den Plot vorausahnend, aber unfähig einzugreifen. Nur, dass wir am Ende nicht aufstehen und gehen können. Und macht uns das nicht wütend? Will man nicht umhergehen, die Leute wütend schütteln und rufen „Das ist jetzt kein Spiel mehr, das ist Ernst!“? Denn im Prinzip wissen ja alle Bescheid, jede Woche hört man von anderer Stelle eine Statement a là „Also spätestens JETZT muss doch jeder wissen, was diese Partei wirklich will!“.

Die Veröffentlichung des Leitantrages zum Grundsatzprogramm der AfD im Mai 2017 war wieder ein solcher Moment. Ein naiver Beobachter hätte erwarten müssen, dass jeder Wähler, jeder Anhänger, jeder Mensch, der auch nur mit dieser Partei liebäugelt, sich die Sache durchliest und sagt „Na hoppla! Das ist ja überhaupt nichts für mich!“. Die abgehärteten politischen Zyniker unter uns haben, nicht ohne einen gewaltigen Schuss Resignation, gleichwohl die Reaktion der Öffentlichkeit korrekt vorausgeahnt: „Na und?“. Die grausigen kulturellen Implikationen, die mittlerweile kaum noch verhohlene Fremdenfeindlichkeit und das mittelalterliche Gesellschaftsbild sind von vieler Seite aus ausführlich und korrekt kommentiert worden, ich möchte mich an dieser Stelle auf eine andere Fragestellungen konzentrieren:

Warum wählt die „Unterschicht“ die AfD?

An dieser Stelle möchte ich vorrausschicken, dass „Die Unterschicht“ an dieser Stelle eine Art begrifflicher Platzhalter ist, der hier in Ermangelung eines präziseren Begriffes ausreichen muss. Gemeint sind in erster Linie solche gesellschaftlichen Milieus, die in sozialer und wirtschaftlicher Sicht als „abgehängt“ gelten.

Man ist also verführt, diese Leitfrage reflexhaft mit politischen Binsenweisheiten zu beantworten: „Wem’s schlecht geht, der wählt halt extrem“, „Enttäuschung bezüglich den etablierten Parteien“, „Die fallen doch nur auf plumpe Botschaften rein“ etc.. Aber merkwürdig daran ist vor allem, dass die AfD ganz offensichtlich keinen Narrativ der Unterschicht mit sich führt. Für die sozial Benachteiligten ist die AfD, mit brutaler Offenheit erklärt, eher Wolf als Hirte. Werfen wir dazu einen Blick in den erwähnten Leitantrag, hier möchte ich beispielhaft einige Aspekte hervorheben:

  1. Punkt 11.2 „Obergrenze für Steuern und Abgaben“: Um dies zu verstehen, muss man für den evtl. unerfahrenen Leser rasch die Beitragsbemessungsgrenze erklären:

Einen Teil unseres Einkommens zahlen wir monatlich z.B. in die Rentenversicherung ein. Allerdings ist dies durch die genannte Beitragsbemessungsgrenze gedeckelt, das bedeutet dass nur Einkommen bis zu einer Grenze von 74.700 € im Westen bzw. 64.800 € im Osten dieser Abgabenpflicht unterliegen. Jedes Einkommen über dieser Grenze wird nicht mehr für die Rentenversicherung herangezogen. Im Klartext: Jemand, der 100 000 € im Jahr verdient, zahlt den gleichen Betrag in die Rentenkasse ein, wie jemand, der 1 000 000 € oder 10 000 000 € verdient. Ähnliche Schranken gibt es auch bei den anderen Versicherungssystemen (z.B. Krankenversicherung). Man muss kein Politologe oder Fachökonom sein, um zu sehen, dass dies eine massive Entsolidarisierung höherer Einkommen ist.

Dieses System möchte die AfD nun weiter ausbauen, sogar eine sog. „Flattax“ ist von Frau Petry (s. Wahlprogram BTW 2013) wieder angeregt worden. Dies bedeutet: Jeder zahlt den gleichen prozentualen Steuersatz, in diesem Falle maximal 25%. Dies würde eine massive Umverteilung von unten nach oben bedeuten.

  1. Punkt 11.4 „Gewerbe-, Vermögen- und Erbschaftssteuer abschaffen“: Dieser Punkt spricht wohl für sich. Auch hier ist deutlich, dass vor allem (und so gut wie ausschließlich) Vermögende auf Kosten der Allgemeinheit profitieren werden.
  2. Punkt 11.7 „Bank – und Steuergeheimnis wiederherstellen“: Übersetzung: Einladung zur Steuerhinterziehung, durch die der Gesellschaft schon jetzt Beträge im zweistelligen Milliardenbereich jährlich abfließen. Auch hier ist es unnötig weiter zu betonen, dass dies seltener kleinere Einkommen betrifft.

Verschiedene weitere Punkte – insbesondere im Bereich der Energiepolitik – könnten herangeführt werden, der Leser ist eingeladen, sich hier selbst ein Bild zu machen. Für uns ist in diesem Artikel nicht sonderlich wichtig, alle Nachteile der AfD für „den kleinen Mann“ heraus zu definieren, ich begnüge mich mit der Feststellung, dass die AfD *keine* Partei der Benachteiligten gegenüber den Vermögenden ist – sie ist umgekehrt die Partei der Vermögenden und Unternehmer, mit wirtschaftspolitischen Maßnahmen, bei denen selbst die FDP mitunter Skrupel zeigen würde.

Was bewegt nun einen Wähler aus eben diesen benachteiligten Schichten/Milieus, in dieser Partei seine persönliche Rettung zu sehen?

Wir wissen zwar, dass die AfD zu einem großen Teil von Besserverdienern gewählt wird (IW-Studie 2016), dennoch stolpere ich recht häufig über extreme Ansichten in eben diesen unteren Gesellschaftsmilieus. Wie lässt sich dies erklären, wieso agiert eine Schicht so diametral gegen ihre eigenen Interessen?

Die gängigsten Erklärungsansätze sind sicherlich schon reichlich breitgetreten worden: Geschürte kulturelle Ängste und fremdenfeindliche Ressentiments, Protestwählertum, konservative Gesellschaftsbilder und – womöglich – eine kaum totzukriegende Vorstellung der „Trickle Down“-Economy, einer naiven (und mittlerweile weitestgehend widerlegten) Ansicht, dass der Reichtum der Oberschicht schon nach unten „Durchsickern“ würde, wenn man die Wirtschaft von der Leine lässt. Aber all dies reicht meines Erachtens noch nicht aus, um zu erklären, wieso ein über die Jahrzehnte nicht als Rechtsextremist aufgefallener Arbeitsloser, Geringverdiener etc. bereit ist, eine Politik zu etablieren, die ihn noch weiter in den Staub drückt.

Die Wähler sehen sich als Opfer

Die Antwort liegt in meiner Ansicht nach in der Opferrolle der Personen selbst. Wir kennen dieses Spiel, auf vielen verschiedenen Ebenen inszeniert sich der Rechtspopulist als Opfer – sei es die Vorstellung des „Fremden im eigenem Land“, das Durchbrechen von vermeintlichen Tabus, die gar nicht bestehen („Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“), oder die allgegenwärtige kolportierte Ausbeutung durch „die da oben“. Gemeint sind hier in der Regel Politiker, die als „Diebe“ und „Verräter“ gesehen werden. Die Kontinuität dieser Opferrolle erstreckt sich nun auch auf den wirtschaftlichen Sektor. Der moderne Mensch sieht sich einem identitätszerreissenden Widerspruch gegenüber: Auf der einen Seite hat er die kapitalistische Werteordnung und den daraus resultierenden Leistungsgedanken völlig verinnerlicht, auf der anderen Seite steht in der Praxis sein (manchmal völliges) Versagen in diesem Kontext.

Dieses Versagen muss rationalisiert werden, so dass das eigene Scheitern vermeintlich unfairen äußeren Einflüssen aufgeladen werden kann. Man ist in dieser Weltsicht nicht etwa deshalb arm, weil man selbst unzureichende Leistung erbracht hätte, sondern weil irgendein „Volksverräter“ (oder „Links-versiffter Gutmensch“ ™) die „natürliche“ Ordnung außer Kraft gesetzt hätte und unwürdige (gemeint sind hier Ausländer, „Asoziale“ oder gerne auch Kriminelle) Wesen zum Nachteil des ach so ehrlichen und aufrichtigen Arbeiters unterstützt. Hier bedient er sich unwissentlich einer Unterscheidung zwischen „raffendem“ und „schaffendem“ Kapital, die ihren Gebrauch hauptsächlich in den faschistoiden und latent antisemitischen Gesellschaftsgruppen Anfang der 20er, 30er Jahre des letzten Jahrhunderts fand. Hier wurde versucht zu trennen, was nicht zu trennen war: Es gibt in dieser Vorstellung einen „guten“ Kapitalismus, idealisiert im hart arbeitenden Familienunternehmer, der anständige Löhne zahlt, stets moralisch handelt und das wirtschaftliche Wohl der Gesellschaft auf seinem Rücken trägt, ihm gegenüber gestellt wird der „böse“ Kapitalismus, parametrisiert in gesichtslosen (und – man möge es beobachten – oft jüdischen) Großkonzernen, Banken und anderen Schurken, in die alles ausbeuterische am Kapitalismus ausgelagert wird.

Guter Kapitalismus vs. schlechter Kapitalismus

In Wirklichkeit sind diese beiden Aspekte nicht voneinander zu trennen, man kann den „raffenden“ Kapitalismus nicht klar abgrenzen, noch weniger kann man ihn aus dem Gesamtgebilde „herausschneiden“ um nur den „schaffenden“ zu erhalten – auch wenn dies nach wie vor die große Hoffnung aller Marktanhänger ist. Obwohl dieser Text keine ausführliche Kapitalismuskritik darstellen soll (und aufgrund des eher kurzen Formates auch gar nicht dazu fähig ist), muss ich diesen Punkt kurz ausführen, um den Argument Substanz zu verleihen: Als Beispiel des „guten“ Kapitalisten wurde oft die Familie Krupp herangezogen, die anständige Löhne zahlte, Arbeitern Wohn- und Bildungsmöglichkeiten zur Verfügung stellte und kurzum eben eine Art „menschlichen Antlitz“ vor sich her trug. Und wenn man auch sicherlich nicht allen kapitalistischen Akteuren den guten Willen absprechen kann, so ist doch festzuhalten, dass dieser Erfolg nur deshalb möglich war, weil Krupp in diesem Kontext seine „Wohltaten“ als Marktvorteil gegenüber seinen Konkurrenten fassen konnte. In einer Welt, in der jeder seine Arbeiter ausbeutet, führt die menschliche Behandlung der Arbeitskräfte, deren Ausbildung und Förderung, zu einem einzigartigen Produktivitäts-, Qualifikations- und Reputationsvorteil, die sich sofort in einen kapitalistischen Vorteil übersetzen lassen. Dies klappt aber nur deshalb, weil es genügend „schlechte“ Akteure gibt, von denen er sich in dieser Hinsicht abgrenzen kann. In einer idealisierten Welt, in der jeder seine Arbeitnehmer hervorragend behandelt und (wichtig!) in der es mehr Arbeitskräfte als Arbeitsstellen gibt, hätte umgekehrt sofort der „schurkische“ Unternehmer einen Vorteil, denn er kann auf ein breites Reservoir an qualifizierten Arbeitskräften zugreifen, ohne selbst Mittel investieren zu müssen. Weiterhin kann er die Mittel, die er sich an anständiger Bezahlung etc. einspart direkt in einen weiteren Wettbewerbsvorteil übersetzten – so gebiert der Schatten Licht und das Licht den Schatten.

Schlagen wir nun den Bogen zur unterdrückten Unterschicht – Diese Menschen *glauben* an den Kapitalismus in einer Art und Weise, die jede Faser ihres Denkens unbewusst durchdringt.

Ohne seine Grundsätze komplett zu verstehen, lebt der Bürger doch dessen Wertebild bis ins Extreme. Das Versprechen dieses Kapitalismus ist ebenso stark wie verführerisch: „Ertrage die Herren die dich niederhalten für nun, eines Tages bist du an der Reihe! Arbeite nur hart genug, und du wirst es sein, der die anderen niederhält“. Hier bedient sich der Kapitalismus einer fast religiösen Deutung: In einer Art „Weltfluchtideologie“ (Wie es auch die großen Konfessionen in sich tragen) soll das Mühsal im Heute durch die Herrlichkeit im Morgen belohnt werden. So ist das Wohlstandsversprechen die Karotte, die der Kapitalismus den Menschen am Stock vor die Nase hält, um sie zum Durchhalten zu animieren – eines Tages wird er sie schon schnappen können.

Und die AfD erreicht nun in den Köpfen dieser Menschen tatsächlich zweierlei: Zum einen bietet sie den Verlierern eine Ausrede für ihre Versagen, sie nimmt ihn tröstet am Arm und flüstert ihm zu „Hör mal – wir wissen doch beide, wenn hier alles mit rechten [Anm. d. Autors: No Pun intended] Dingen zugehen würde, dann würdest du hier nicht in der kleinen Bude hocken, Kippen schnorren, Jogginghosen tragen und jeden Euro zweimal rumdrehen. Du bist ein guter Arbeiter, ein fleißiger aufrechter, deutscher (!) Mann, und wenn „die da oben“ nicht jedem Faulenzer das Geld in den Allerwertesten blasen würden, dann hättest du deinen Job noch und würdest endlich dort stehen, wo du hingehörst“. Denn die „Asozialen“, das sind immer die anderen. Man selber ist die Ausnahme, das Opfer. Auch deshalb sehen wir das oft beobachtete Phänomen, dass gerade am unteren Ende der gesellschaftlichen Leiter die Kämpfe um Statussymbole und die damit verbundenen Urteile am erbittertsten geführt werden.

Man ist gleichzeitig Opfer, aber auch der verhinderte Held

Zum anderen bietet die AfD diesen Leuten im Denken aber nicht nur eine Ausrede, sondern auch ein Heilsversprechen. Zusammen mit dem wohldosiertem Gift des völkischen Denkens, welches dem armen Mensch gleichzeitig in’s Ohr geträufelt wurde, formt sich in seiner Vorstellung eine neues, mächtigeres Selbstbild: Er ist nun nicht mehr das hilflose Opfer der „etablierten Parteien“ und einer Gesellschaftsordnung die ihm – ganz unschuldig, wie er meint– allem beraubt hat, sondern er mutiert zu einer Art kräftigen deutschen Bären, im Prinzip fähig all die „hinterhältigen Hyänen“ in der Gesellschaft niederzubeißen und auseinander zu reißen, hätte man ihm doch nicht all diese Ketten angelegt. Und hier kommt die AfD und verspricht ihm, diese Ketten zu sprengen. In der Wirtschaft wird endlich wieder alles „anständig“, so wie „früher“, und – selbstverständlich – bedeutet das auch wieder den eigenen Aufstieg. Es kann ja in der Vorstellung dieser Menschen gar nicht anders laufen. Und daher schert sich der wirtschaftlich derzeit benachteiligte AfD-Wähler auch nicht um grausige Umverteilung von unten nach oben – er wird ja dann in der eigenen Vorstellung längst nicht mehr dazu gehören, unten werden nur noch die stehen, die es sowieso „verdienen“.

Man sieht: Dass Menschen aus diesen Milieus AfD wählen ist nur auf den ersten Blick erstaunlich, auf den zweiten Blick ist es in diesem Weltbild folgerichtig. Es ist das Resultat einer Gesellschaft, die irgendwo in der Postmodernen verloren gegangen ist, und sich nach dem „früher“ sehnt, selbst wenn es nie existiert hat. Sie ist ebenso das Resultat einer Kapitalismusinternalisierung, welche die Gesellschaft bis heute nicht in den Griff bekommen hat.

Die Lösungsmöglichkeiten für dieses bizarre Dilemma sind im Prinzip die gleichen, wie für alle anderen AfD-verknüpften Probleme auch: Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung. Aber womöglich müssen wir uns mit dem Gedanken anfreunden, dass die AfD nicht nur bezüglich kulturellen Ressentiments das Symptom eines tieferliegenden, strukturellen Problems in unserer Gesellschaft ist, sondern auch bezüglich eines verzerrten Leistungsgedankens, den wir uns über das letzte Jahrhundert Stück für Stück herangezüchtet haben.

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