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Stuttgart: Wie Rechte gezielt mit Überreaktionen Nazi-Terror verharmlosen

von | Jun 22, 2020 | Aktuelles, Analyse, Schwer verpetzt

Die Panikmache von Stuttgart

Kommen wir zuerst zu den Fakten, denn ich fürchte, das Wissen darüber, was am Wochenende in Stuttgart passiert ist, ist nicht bei allen gleich. Und genau das ist bereits das Kernproblem. Nachdem die Polizei einen 17-jährigen Deutschen wegen eines mutmaßlichen Drogendeliktes kontrollierte, kam es zu Ausschreitungen durch Teile der anwesenden „Partyszene“. Letztlich waren es 400 bis 500 „Feiernde“, die die Beamten angriffen, Läden zerstörten und plünderten. 19 Beamte seien verletzt worden, einer sei dienstunfähig (Quelle).

Die Polizei betonte noch einmal ganz genau, dass sie nach der „momentanen Sicht der Dinge“ eine „politische Motivation für diese Gewalttaten ausschließen“ kann. Das ist wichtig. Denn das heißt, was in Stuttgart passierte, war eine Randale der „Partyszene“, die übermäßig alkoholisiert und männlich war. Warum das relevant ist, dazu kommen wir später. Erst einmal: Als ich auf Twitter von „Feierenden“ und „Randalen“ schrieb, wurde mir bereits Relativierung und Verharmlosung vorgeworfen. Dabei sind das die Begriffe, die die Polizei verwendet hat, die sicher nicht im Verdacht steht, hier zu verharmlosen (Quelle).

Warum es Verharmlosung sein soll, wenn ich die Fakten beschreibe

Geplünderte Läden, verletzte Polizist*innen: Keine Frage, dass diese Gewalt inakzeptabel ist. Das bestreitet auch niemand ernsthaft. Politiker*innen aller Couleur verurteilten die Gewalt selbstverständlich (Grüne, CDU, SPD, Linke, FDP).  Aber das war keine „nie dagewesene“ Gewalt. Das war kein „Bürgerkrieg“. Das war kein „Terroranschlag“. Und das war kein politischer Protest, der von Anfang an die Polizei als Ziel hatte. Dass diese Beschreibung bei einigen bereits Schnappatmung verursacht, ist Teil des Problems. Warum muss es nur schwarz und weiß geben? Warum muss man immer die Superlative auspacken? Schauen wir uns mal an, wie reagiert wurde.

Schnell waren in den Twitter-Trends „Bürgerkrieg“, dann sogar „Antifa“, „Ausländer“. Zur Erinnerung: Es war unpolitisch nach aktuellem Stand. Das war nicht „die Antifa“. Das ist absurd. Und weil auf einigen mutmaßlichen Aufnahmen Menschen mit dunkler Hautfarbe zu sehen waren, waren es auch nicht gleich „Ausländer“. Dass Rechtsextreme – wie die AfD – Straftaten automatisch für politisch halten, wenn der Täter bei der Straftat auch noch schwarz war, ist ja nichts neues (mehr dazu).

Politische Ausschlachtung

Dass die AfD-Blase gestern unter den Hashtags (und in den Kommentarspalten) ihren Spaß hatte, müssen wir nicht extra betonen. Für AfD und Co sind ohnehin immer die gleichen Schuld. Linke, Antifa, Ausländer: Das sagen sie bei hohen Mieten, Corona und schlechtem Wetter. Wie Rassisten ihre Propaganda bespielen und derartige Vorfälle instrumentalisieren, sollte niemanden interessieren außer Nazis und solche, die sie verharmlosen wollen. Wir werden dem auch keine extra Bühne bieten, es wissen ohnehin alle, was für Lügen dort verbreitet werden. Nur ein Highlight: AfD-Politiker sprechen bereits von der „bunten Kristallnacht“. Ihr seht: Sie haben ihren Spaß mit der Propaganda.

Viel problematischer sind die nicht extrem rechten Politiker von CDU, CSU und FDP. Diese lassen sich von der künstlichen Empörung von rechts (Das hatten wir doch alles schon bei Gretas Bahnsitzplatz, Umweltsau usw.) dazu hinreißen, den Vorfall ebenfalls zu instrumentalisieren. Da leugnet die CSU plötzlich eiskalt jegliche Polizeigewalt, weil anscheinend nicht Gewalt gegen Polizei und Polizeigewalt gleichzeitig existieren können, da wird jede Forderungen nach sinnvollen Maßnahmen wie das Antidiskriminierungsgesetz als plötzlich falsch dargestellt. Da ist die Diskussion rund um taz und rassistischer Polizeigewalt plötzlich Schuld an Stuttgart. Wie?!

Sie denken, wenn sie sich hier eindeutig positionieren und übertreiben, würden sie ihren Support für die Polizei zeigen. Natürlich gab es auch die rechten Kandidaten (und es sind nur Männer), die auch gleich rassistisch schussfolgern, dass das nicht passiert wäre, wenn die betrunkenen Männer eine weiße Hautfarbe gehabt hätten.

Und dass es *natürlich* Asylbewerber hätten sein müssen, denn welcher *echte* Deutsche hat schon eine dunkle Hautfarbe, richtig? Dass die rechtsextremen Hetzer*innen von der AfD so etwas von sich geben ist schlimm genug. Wenn aber diese rassistische Ideologie über Gruppen wie die „WerteUnion“, die gut vernetzt ist mit der AfD-Blase, diese Dinge in den demokratischen Diskurs trägt, haben wir ein Problem.

Keiner traut sich zu sagen, dass das irre ist

Und warum funktioniert diese rechte Eskalation und Instrumentalisierung so gut? Wie die Rechtsextremismusexpertin Natascha Strobl schon auf Twitter schrieb: Niemand traut sich jetzt zu sagen, dass viele dieser Reaktionen völlig übertrieben sind. Denn es gibt nur Gut oder Böse – und wer sich hinstellt und die Darstellung von „Bürgerkrieg“ relativiert (zu Recht!), wird sofort in die Ecke gestellt, dass er oder sie die Gewalt gutheiße oder den Vorfall verteidigen wolle. Wer das nicht glaubt, liest einfach nur die Kommentare unter diesem Artikel.

Wenn die Nazi-Blase daherkommt, und mit Hilfe von einigen rechten Unionspolitikern, der BILD und liberalen Accounts, denen viele Rechtsextreme folgen (mehr dazu) PoC die Schuld dafür gibt, dass Feierende randaliert haben, weil sie die Wochen zuvor beklagt haben, dass sie nachgewiesenermaßen überproportional von der Polizei kontrolliert (und getötet) werden (mehr dazu), dann ist das eine Täter-Opfer-Umkehr. Und hat nichts mit der Realität zu tun. Ich bezweifle, dass ein jugendlicher Partygänger aus Stuttgart die taz gelesen hat und meinte, jetzt müsse er Polizist*innen angreifen. Wenn das so wäre, müsste man das erstmal nachweisen – und zwar in Form eines geordneten Strafrechtsprozesses mit ordentlichem Beweisaufnahmeverfahren.

Die rechte Diskursverschiebung als Strategie

Warum die Nazi-Blase Stuttgart ausschlachtet, muss ich glaube ich nicht extra erklären: Sie wollen die bildliche Untermalung ihrer vorangegangen „Antifa-Verbieten“-Spinnerei (mehr dazu). „Antifa“ hat mit Stuttgart rein gar nichts zu tun, aber dass ausgerechnet diese Gruppe Fakten nicht interessieren, ist ja nichts Neues. Dass die Anwesenheit von Menschen mit nichtweißer Hautfarbe auch nichts mit Migration oder Asylrecht zu tun haben muss, spielt dort auch keine Rolle. Nazis sind Nazis, und geben „Ausländer “ an allem Schuld und hassen Muslime. Wer hätte es gedacht?

Das Problem ist, dass es funktioniert. Wenn die Hashtags „Bürgerkrieg“ lauten und künstlich gepusht werden und lauter vermeintlich ganz unschuldige, ganz sicher demokratische Accounts in den DruKos und Kommentarspalten auftauchen und fordern, dass dieser ach so unglaubliche Skandal aufgeklärt werden soll, welche sonst Hanau verharmlost haben; welche sagen, dass die taz zur Verantwortung gezogen soll, obwohl sie ihrer Kolumnistin gerade in den Rücken fällt, dann denken auch rechte Demokraten, sie müssten da vermeintliche Stärke zeigen. Entweder, weil sie sich von den rechten Trollen eine rechte Mehrheit vorgaukeln lassen oder weil sie heimlich auch so denken. Und dann greift der Innenminister die Pressefreiheit an, indem er eine Journalistin anzeigt (Quelle).

Kein Terroranschlag, kein Krieg

Die „Bürgerlichen“, die diese Rhetorik und Schuldzuweisungen übernehmen, legitimieren diese rechtsextremen Narrative und Übertreibungen. Wenn ich jetzt sage: Faktenfrei von „Kristallnacht“, „Bürgerkrieg“ und „Antifa“ und „Ausländern“ und „Abschiebungen“ zu schwafeln ist ein rechtsextremer Spin, dann empören sich alle, weil CDU und CSU-Politiker das ja auch gesagt haben und sind die jetzt rechtsextrem?! Nein, aber diese Narrative sind es. Und wenn nicht-rechtsextreme Politiker sie verwenden, dann politisieren sie gleichzeitig die Vorfälle in Stuttgart und entpolitisieren dessen Instrumentalisierung.

Und niemand will der Buhmann (oder -frau) sein, der oder die sich vermeintlich „auf die Seite der Randalierer“ stellt. Aber jetzt steht es im Raum: Wir werden die nächsten Monate in jeder Kommentarspalte und jeder Hassmail an eine Anwältin mit Migrationshintergrund, die von einer Polizeigruppe geschickt wurde,  „Stuttgart“ als Begründung für Rassismus und Hetze gegen „die Antifa“ hören. Und gleichzeitig stellt sich jemand von der CSU hin und meint, genau deswegen gäbe es kein strukturelles Problem mit der Polizei, ironischerweise.

Weil die Bilder in der Welt sind. Auch wenn, nochmal: Das nichts damit zu tun haben scheint. Das heißt nicht, dass nicht darüber geredet werden darf. Dass es keine Konsequenzen haben muss, dass es nicht verurteilt gehört. Aber das passiert ja. Das will ich hier auch nochmal klarstellen: Dieser Text und ich fordern angemessene Konsequenzen. Wer was anderes behauptet, instrumentalisiert und lügt schon wieder.

Verharmlosung von Nazi-Terror

Nein, diese Instrumentalisierung verhindert eine echte Problemanalyse: Warum kommen so viele Jugendliche dazu, sich solchen Randalen anzuschließen? Was sind die Probleme von Alkohol oder toxischer Männlichkeit? Nein, weil Stuttgart grün regiert wird oder ein paar davon keine weiße Hautfarbe hatten, ist das ganz sicher nicht passiert. Das sind die rechten Narrative, die sie in der Öffentlichkeit etablieren wollen. Aber hey, wir hatten dieses Jahr bereits einen Nazi-Terroristen, der 9 Menschen erschossen hat. Lübcke wurde vor einem Jahr von einem geständigen AfD-Aktivisten hingerichtet, der Zugang zu geheimen Polizeiakten hatte. Was ist mit Halle? Ist das irgendein Vergleich? Whataboutism? Derailing?

Wenn eine durchaus bemerkenswert zerstörerische Randale in Stuttgart künstlich das selbe – wenn nicht gar schlimmere – sprachliche Niveau wie Nazi-Terror erreicht, dann ist es kein Wunder, dass Leute denken, ein „linker Terror“, den es gar nicht gibt, sei genau so schlimm wie rechtsextreme Morde. Die Leute versuchen krampfhaft, ihre falschen Hufeisen-Vorstellungen auf die Realität zu stülpen und machen aus Randalen einer Partyszene zuerst eine „Antifa“ und dann sprechen sie so darüber, als hätte ein Terrorist, der die gleichen Verschwörungsmythen glaubt wie die AfD, 9 Menschen gezielt ermordet. Und das ist das Problem.

Diskursverschiebung

Wenn rechte Unionspolitiker jetzt genau so faktenfrei Schuldzuweisungen und Problemlösungen präsentieren, helfen sie letztlich nur dabei, den rechten Terror zu verharmlosen. Wie können sie beim nächsten rechtsextremen Mord sprachlich noch eins drauf setzen? Und dass man das nicht sagen kann, ohne einen Shitstorm zu bekommen, dass man angeblich Stuttgart verharmlose, ist ebenfalls Teil des Problems. Ja, ich verharmlose es. Denn es ist harmloser als das, was manche daraus machen. Es ist nicht harmlos. Aber es ist kein „Bürgerkrieg“ und kein „Terror“. Wenn wir es nicht schaffen, angemessen über Probleme zu reden, fehlt uns die Sprache und die Reaktion, um echten Terror und echte Bedrohungen ernst zu nehmen.

Artikelbild: Marijan Murat/dpa