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Faktencheck: Wo Marlene Lufen Recht hat & wieso ihr Querdenker applaudieren

von | Feb 3, 2021 | Analyse

Lufen spricht wichtiges an – hat aber nicht ganz Recht

Die Sat1-Moderatorin hat in einem viralen Video wichtige Probleme unserer Gesellschaft angesprochen. Und es traf wohl den Nerv der Zeit: Bereits über 9 Millionen Aufrufe allein auf Instagram bekam ihr emotionales Video. Sie spricht Themen an, die oft zu wenig Aufmerksamkeit bekommen: Häusliche Gewalt, besonders gegen Frauen und Kinder, psychische Belastung. Und wie es für eine gute Journalistin gehört, hat sie feste Zahlen und Quellen mitgeliefert.

https://www.instagram.com/p/CKtDJhIKcf5/

Zu Recht erhält das Video so viel positive Aufmerksamkeit. Doch nicht wenige werden bereits bemerkt haben, kommt der Applaus auch aus einer Ecke, aus der man es nicht erwarten würde, wenn jemand vernünftige Argumente bringt: Pandemie-Leugner:innen wie Querdenken teilen das Video ebenso begeistert wie Menschen, die an die Wissenschaft glauben.

Natürlich hat man nicht automatisch Unrecht, wenn die „falschen“ Leute einem applaudieren. Querdenken hat auch eine Forderung formuliert, die wir bei Volksverpetzer bereits formuliert hatten:

Querdenken-Chef Ballweg gibt Volksverpetzer Recht & fordert harten Lockdown

Nein, es gibt aber einen Grund, warum Lufen auch Applaus von totalitären Maßnahmengegner:innen erhält: Weil sie ein paar wichtige Fakten vergisst und die Situation verkürzt darstellt. Ihre „Sorge, dass der Lockdown das Falscheste war“ spricht natürlich die Narrative von Pandemie-Leugner:innen an. Ihre Schlussfolgerung, den Lockdown allein für alle Probleme verantwortlich zu machen, ist nämlich verkürzt. Und Applaus von Querdenken und Co sind sicher nicht in ihrem Sinne gewesen.

Der Faktencheck

Schauen wir uns erstmal die Zahlen und Quellen an: Lufen erklärt, dass 23% mehr Fälle von Gewalt an Kindern in der Gewaltschutzambulanz der Charité im ersten Halbjahr 2020 verzeichnet wurden. Das ist richtig (Quelle). Sie erwähnt, dass 600.000 Kinder zu Hause Schläge, Stöße und Schlimmeres erleben. Das stimmt, das bezieht sich aber explizit auf Zeiten ohne Lockdown. „Die Befragung zeigt, dass es durchaus gefährliche Situation gibt in Familien, die während eines Lockdowns eben verschärft werden können„, erklärt eine Autorinnen der betreffenden Studie (Quelle).

Weiter erklärt Lufen, 461.000 Kinder haben im Jahr 2020 die „Nummer gegen Kummer“ gewählt (Quelle). Das ist extrem irreführend, denn im Jahr 2019 gab es 471.660 Anrufe (Quelle). Das heißt, der Lockdown hat auf diese Zahl eigentlich gar keinen Effekt gehabt. Außerdem waren 2019 lediglich 21,03% davon letztlich Beratungen. Weiter erklärt sie, dass die Online-Beratung einen Zuwachs von 31% im Vergleich zum Vorjahr erlebt habe. Der gesamte Zuwachs der Beratungen von 2018 auf 2019 war hingegen 35% (Quelle). 2020 bekam „Nummer gegen Kummer“ auch viel mehr Budget und verlängerte Erreichbarkeitszeiten, eben um dem Problem entgegen zu wirken (Quelle). 

Sie erwähnt 2,6 Millionen Kinder mit suchtkranken Eltern. Das ist richtig, aber die Zahl ist aus dem Jahr 2016 (Quelle). Der Anstieg bei Beratungen beim „Hilfstelefon Gewalt gegen Frauen“ ist korrekt (Quelle), auch der Anstieg von „Jugend Notmail“ (Quelle). Sie behauptet, dass 800.000 Menschen in Deutschland an Magersucht leiden. Das stimmt grob (Quelle, Quelle). Sie sagt auch, 50% der Haushalte seien Singles, dabei waren es 2018 nur 41,9% (Quelle). 74% der Depressiven geben wirklich an, den Lockdown belastend zu empfinden, wie Lufen erklärt, das gilt aber auch für 59% der anderen (Quelle). Und dass 67% der Jugendlichen sich psychisch belastend fühlen, scheint auch grob zu stimmen (Diese Quelle spricht von 57%, Quelle).

Der Denkfehler

Wie wir bereits gesehen haben und was Lufen richtig anspricht, ist die gravierende psychische Situation – von allen eigentlich. Häusliche Gewalt, Suizidgefahr und so weiter. Mentale Gesundheit ist wichtig und wird zu wenig angesprochen. Dieser Satz ist aber äußerst gefährlich: „Immer wenn im TV irgendjemand sagt ‚Wir müssen uns noch ein wenig zusammen reißen, Lockdown durchhalten‘, hat irgendein Kind zu Hause die Faust vom Vater im Gesicht, wird irgendwo eine Frau geschlagen, überlegt ein Jugendlicher, ob er sich von der Brücke stürzt.“ Denn er suggeriert, dass das ohne Lockdown nicht der Fall wäre. Wir haben oben gesehen, viele der genannten Zahlen sind älter. Die Anzahl der Anrufe bei „Nummer gegen Kummer“ ist 2020 nicht gestiegen und die Online-Beratung stieg, aber weniger stark als im Vorjahr. Das heißt: Das sind alles bereits existierende Probleme.

Lufen lässt den Eindruck entstehen, als wären ohne Lockdown alle dieser Probleme plötzlich weg. Ohne Lockdown gab es ja offensichtlich auch häusliche Gewalt, Suizide, Depressionen. Sie stiegen in den letzten Jahren ohnehin. Andere Faktoren, wie Suizide, sind zumindest in Deutschland bis 2019 stetig weniger geworden (Quelle). Für 2020 liegen noch keine belastbaren Zahlen vor (Quelle), der Abwärtstrend könnte aber fortgegangen sein (Quelle). Den Betroffenen wird also offensichtlich nicht automatisch geholfen, wenn Diskotheken wieder offen sind. Lufen stellt es dar, als bestehe eine direkte Kausalität zwischen den Problemen von mentaler Gesundheit und Lockdowns. Überraschenderweise hatte der Lockdown für einen Teil der Bevölkerung (32%) sogar positive Effekte, da er für manche zur Entschleunigung führte (Quelle). Im ersten Lockdown war die Stimmung sogar überdurchschnittlich gut, nahm dann aber ab (Quelle).

Die Pandemie ist belastend, nicht nur Lockdowns

Dabei lässt sie auch außer Acht, dass die Pandemie-Situation allgemein psychisch belastet, ob Lockdown oder nicht. Untersuchungen zeigen, dass unter anderem die häufigsten Ängste der Menschen sind, sich anzustecken oder zu sterben oder gravierende Folgen von Corona davon zu tragen (Quelle). Und Lockerungen der Maßnahmen führen erst Recht nicht automatisch zu einer psychisch heilen Welt, wenn viele tausende Menschen täglich sterben. Angehörige zu verlieren ist traumatisch, aber auch Heimmitarbeiter berichten, unter Angststörungen nach der ersten Corona-Welle gelitten zu haben (Quelle). Bei Pflegepersonal dürften die Zahlen von PTBS wohl gestiegen sein (Quelle). Ohne Maßnahmen wären die psychischen Folgen ebenfalls viel gravierender.

Und nicht, dass man Menschenleben gegeneinander aufrechnen könnte, aber die Lockdowns retten schließlich auch Leben. Nicht nur durch Vermeidung von Infektionen, aber auch sinkende Zahl von Verkehrstoten (9%. Quelle), oder indirekt, da Deutschland seine Klimaziele 2020 erreichte (Quelle). Die Maßnahmen haben nebenbei die Grippe 2020 fast komplett aufgehalten, deren jährliche Todesfälle 2020 entsprechend wegfallen (Quelle). Das gilt auch für alle Infektionskrankheiten wie Windpocken, Rotavirus oder Norovirus (Quelle).

Der Vergleich mit anderen Ländern zeigt sogar etwas ganz anderes: In Neuseeland gab es zwei harte Lockdowns, und nicht nur hatten sie kaum Corona-Tote zu beklagen, die Sterblichkeit allgemein ist gesunken (Quelle).

Lufen erwähnt nicht, was die Alternative ist

Und hier kommen wir zum Knackpunkt: Sie hat durchaus Recht, dass psychische Probleme in unserer Gesellschaft ein großes Problem sind. Aber weder stellt Lufen klar, dass das kein neues Problem ist, noch dass es nicht ausschließlich auf Lockdowns zurückzuführen ist. Sie bezeichnet Lockdowns als „das Falscheste“, ohne zu erklären, was denn die Alternative sein soll. Ein komplettes Abschaffen der Corona-Maßnahmen dürfte nicht nur wenig an der schlechten psychischen Lage etwas ändern. Es würde zu vielen, vielen Toten durch Corona führen. Und letztlich die mentale Gesundheit der Bürger:innen ebenfalls extrem belasten.

https://www.instagram.com/tv/CKzVXeuqjFD/?igshid=hgc2uqpdzoab

In einem Folgegespräch mit Dunja Hayali distanziert sich Lufen von der AfD und von Querdenker:innen, die ihr Video zur undifferenzierten Propaganda gegen Lockdowns missbrauchen (Quelle). Sie plädiert auch nicht dafür, alle Maßnahmen abzuschaffen, sie jedoch „differenzierter“ anzugehen. Ohne zu erklären, wie das denn aussehen soll. Sie sagt richtig, dass es nicht ihre Aufgabe ist, das darzustellen, sie sei keine Expertin. Das ist gut und richtig, aber wenn sie eine verkürzte Darstellung liefert, die alle psychischen Probleme der Gesellschaft monokausal auf Lockdowns zurückführen lässt und alles ohne besser wäre, müssen Leute schlussfolgern, dass Lockdowns weg müssen. Kein Wunder, dass alle Pandemie-Leugner:innen das Video so feiern.

Lufen erklärt im Talk mit Hayali, dass sie lediglich auf die mentalen Probleme aufmerksam machen wolle. Und sie hat vollkommen Recht. Ihr großer Fehler ist jedoch, einseitig und undifferenziert diese mit Lockdowns zu verknüpfen und Maßnahmen bzw. Lockdowns als Fehler darzustellen.

NoCovid würde Lockdowns auch schneller beenden

Wie bereits dargestellt, sind die Probleme real und werden natürlich durch die Pandemie verstärkt. Anstatt aber Corona-Maßnahmen, die viele Menschenleben retten, zu sabotieren, könnten wir dafür sorgen, dass die Infektions-, Intensiv- und Sterbezahlen weiter sinken. Eine seit Monaten von Expert:innen geforderte Forderung ist NoCovid bzw. ZeroCovid. In Kurzfassung bedeutet das: Für kurze Zeit einen harten Lockdown, ohne Schule, ohne nicht essentielle Berufe, um die Infektionszahlen schnell weit zu senken, damit man gefahrloser viel weiter öffnen kann als es derzeit beim „semi-harten“ Lockdown der Fall ist.

Corona ist mutiert & damit viel gefährlicher: Was wir jetzt tun müssen

Das könnte etwaige psychische Belastungen, häusliche Gewalt etc., die durch Lockdowns verstärkt werden könnten, ebenfalls verhindern, ohne uns zu sehr den Risiken von Corona auszusetzen. Denn es kann und darf keine Entweder-Oder-Geschichte sein, wie Lufen später ja auch erklärt. Anstatt aber lediglich alles auf Lockdowns zu schieben sollte der Appell viel eher sein, ganz allgemein und grundsätzlich Maßnahmen und Hilfen für mentale Gesundheit anzubieten. Und das wird ja zum Teil auch von der Regierung gemacht, wie man bei „Nummer gegen Kummer“ gesehen hat. Aber eben auch nach Corona. Am Ende füttert man leider so nur die fanatischen Narrative von Querdenken, AfD und Co. Und das ist sicherlich nicht im Sinne von Frau Lufen gewesen.

Artikelbild: Screenshots

Unsere Autor:innen nutzen die Corona-Warn App des RKI: