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„Cancel Culture“ – ein Gespenst geht um

von | Dez 23, 2020 | Aktuelles

„Cancel Culture“ – ein Gespenst geht um

Gastbeitrag von Maurice Conrad

Einer der prägenden Begriffe im Jahr 2020 war “Cancel Culture”. Schenkt man den Erzählungen derer, die diesem Begriff zu seinem Ruhm verholfen haben, Glauben, so handelt es sich dabei um ein perfides Instrument, um Personen des öffentlichen Lebens im Sinne der „linksgrünen politischen Korrektheit“ medial zu vernichten. Dabei ist der Begriff „Cancel Culture“ nicht nur ein fantastischer Anglizismus – er klingt im ersten Augenblick auch tatsächlich wie ein politik- oder kommunikationswissenschaftliches Phänomen. Alles in allem: Das Gespenst „Cancel Culture“ wirkt wissenschaftlich, klingt fundiert und man könnte ihm fast eine Chance geben – wenn da nicht die auffällig inflationäre Verwendung aus zwei ganz bestimmten Ecken wäre.

Verwendet wird der Begriff fast ausschließlich durch zwei Arten von Medienschaffenden: Protagonisten wie Jan Fleischhauer, Julian Reichelt, Dieter Nuhr oder Ulf Poschardt auf der einen und eindeutig Rechtsextremen auf der anderen Seite. Das konservative Feuilleton der FAZ oder die Boulevard-Intellektuellen wie Poschardt nutzen die „Cancel Culture“, um auf die drohende Gefahr „eingeengter Meinungsräume“ aufmerksam zu machen. Rechtsextreme formulieren den gleichen Gedanken weniger geschönt und sprechen direkt von „linker Mainstreampropaganda“.

Was beiden gemein ist: Sie bespielen damit die selben Narrative. Es sind vermeintliche Angriffe auf Meinungsfreiheit, Pluralismus und Demokratie, vor denen sie uns nur allzu gerne beschützen wollen. Und sie kommen von „den Linken“. Warum der Begriff Cancel Culture allerdings weniger ein echtes Phänomen als ein Kampfbegriff gekränkter Publizisten auf der einen und Rechtsextremen auf der anderen Seite ist, möchte ich im Folgenden erklären.

Aber wofür wird der Begriff ganz konkret eingesetzt?

Es wird immer dann die „Cancel Culture“ ausgerufen, wenn ein Künstler oder eine Künstlerin eine Äußerung oder Veröffentlichung getätigt hat, die eine Reihe anderer Menschen dazu bringt, öffentlich Kritik zu äußern. Diese Kritik beinhaltet oft auch die Aufforderung, die betreffende Person weniger zu konsumieren, zu deabonnieren und insgesamt weniger Interaktion zu erzielen. Die Idee dahinter ist relativ simpel: Die Veröffentlichungen einer Person sind nur so relevant, wie die Reichweite, die sie wahrnimmt. Und Reichweite ist kein Naturgesetz oder ein ultimatives Recht, sondern basiert auf Interaktion und selbstbestimmtem Konsum von Inhalten dieser Person. So weit, so gut? Nicht ganz.

Laut „Cancel Culture“ sei dieser Schritt undemokratisch und autoritär. Genau hier entsteht aber auch das tiefe Problem dieser Theorie: Denn es ist nicht undemokratisch oder autoritär. Genau betrachtet ist es ziemlich mündig. Die Reflexion, seinen eigenen (selbst bestimmten) Konsum von Inhalten dahingehend zu hinterfragen, welche Auswirkung er auf die Reichweite von Aussagen der ihnen zugrunde liegenden Personen oder Institutionen hat, ist kein undemokratischer Akt, sondern Ausdruck einer aufgeklärten Gesellschaft.

Den Kontext nicht vergessen

Aussagen, die eine Person tätigt, sind immer im Kontext ihres gesamten Schaffens zu betrachten. Niemand kann eine Veröffentlichung eines Protagonisten unterstützen, ohne dabei sekundär auch andere Dinge zu unterstützen, die diese Person öffentlich äußert. In welcher Relation dieses Wechselspiel zwischen Konsum und Unterstützung steht, ist nicht ultimativ beantwortbar und hängt von unendlich vielen Faktoren ab – ob der Künstler oder die Künstlerin noch lebt, in welcher Beziehung er oder sie zu seinem oder ihrem Werk steht, was er oder sie sich vielleicht dabei gedacht hat und – ja auch die Zeit. Ebenso gilt aber: Was für mich unwichtig ist, kann für andere unverzeihlich sein. Das muss mir nicht passen, aber das – und auch daraus resultierende Boykottaufrufe – zu respektieren, ist Ausdruck von Freiheit.

Es mag sein, dass ein derartiges Reflexionsvermögen für viele Publizist:innen einem Schock gleich kommt, weil es auch dazu geeignet ist, Relevanz neu zu ordnen – es ist aber nicht undemokratisch. Hingegen scheint ein eklatanter Teil der Medienwelt nur einfach nicht damit klar zu kommen, dass zur Meinungsfreiheit auch gehört, anderen nicht zuhören zu wollen und auch andere zur Abstinenz aufzurufen.

Die Angst vor Machtverlust

Publizist:innen, Journalist:innen und Politiker:innen des 20. Jahrhunderts sind es gewohnt, dass ihre publizistische Position auch zugleich eine Machtposition beinhaltet. Eine Position, die eine derart fundamentale Kritik, wie sie durch Social Media passieren kann, entweder nicht zulässt oder mindestens ihre persönliche Gnade voraussetzt. „Kritik bitte nur, wenn ich möchte“, lautet die Devise. Dass Plattformen wie Twitter gestern noch völlig irrelevante Personen dazu befähigen, einen Tweet abzusetzen, der von einem Ulf Poschardt – ob er will oder nicht – gelesen wird, ist neu. Und diese Entwicklung bedeutet, dass Minderheiten, die bisher wenig in den Strukturen publizistischer Monopole vertreten waren, sich diese Mechanik zu Nutze machen.

Die einzige Reaktion des Chefredakteurs auf die Belege, dass einer seiner Autoren Lügen und Desinformation verbreitet hat

Ein Ulf Poschardt ist also damit konfrontiert, dass aus seiner Sicht irrelevante Personen aus dem Nichts zu Boykott und Kritik – also Gegenöffentlichkeit – mobilisieren können. Und sie sind dabei völlig unabhängig von seiner Gnade. Das mag völlig logisch klingen – für diese Menschen ist es tatsächlich ein Kulturschock. Es kränkt nicht nur Poschardt, sondern eine ganze Reihe von Publizist:innen. All das sind Menschen, die diese Neuordnung medialer Wirksamkeit nicht verstehen und akzeptieren können. Ihre Reaktion: Die Reflexion anderer zu ihrem Konsumverhalten wird zur „Cancel Culture“ erklärt – auch, wenn es nur die Wahrnehmung individueller Freiheit im Zuge eines aufgeklärten Medienkonsums ist.

Die Angst vor Aufklärung

Dass der Boulevard Angst vor dieser Aufklärung hat, ist natürlich verständlich – schließlich basiert das ganze Geschäftsmodell auf maximal unaufgeklärten Konsument:innen. Dass teils auch das Feuilleton, in Folge einer Kränkung durch die neue Realität publizistischer Machtverhältnisse im Internet, diesen pseudo-wissenschaftlichen Begriffen bei ihrer Etablierung hilft, ist allerdings bedenklich.

Historisch betrachtet ist dieses Phänomen nicht weiter neu. Ein zentrales Element unseres Fortschritts ist die zunehmende Dezentralisierung von publizistischen Monopolen – zumindest auf lange Sicht. So wie sich die katholische Kirche gegen den Buchdruck, der ihnen die Monopolstellung über die Auslegung der Bibel streitig machte, echauffierte, echauffierte man sich, als die Zeitungen und der Funk weitere Monopole brachen und die Erschaffung von Öffentlichkeit niederschwelliger gestalteten. Und heute sind Publizist:innen aus einer Zeit ohne Internet damit überfordert, dass sich Gegenöffentlichkeit und Kritik in den sozialen Medien leichter mobilisieren lassen als je zuvor.

Sich Mit Megafon beschweren, dass man nicht gehört wird

Trotzdem ist es bemerkenswert, dass ausgerechnet diejenigen, die ständig mit dem Megaphon durch die Gegend laufen, sich über ihre „mediale Vernichtung“ echauffieren. Es sind tatsächlich nämlich dieselben, die sich sonst über „nervige Minderheiten“ beschweren und vor der „Vereinnahmung des Diskurses“ durch diese Minderheiten warnen. Es entsteht der Eindruck, der Reflex „Cancel Culture“ könnte für eine Gruppe an Personen des öffentlichen Lebens stehen, die nie in ihrem Leben mit echtem Widerspruch konfrontiert waren und die Existenz kritischer Gegenöffentlichkeit erst aus dem Internet erfahren haben. Und aus Angst vor Bedeutungsverlust machen sie Gegenöffentlichkeit zum Gespenst – zur „Cancel Culture“.

Und die Masche scheint zu funktionieren: Häufig trägt die Beschwörung der „Cancel Culture“ erst zur weiteren Prominenz der selbst erklärten Opfer bei. Egal ob Lisa Eckhardt, Ulf Poschardt oder Dieter Nuhr: All diese Protagonist:innen haben, nach dem sie „gecancelt“ wurden, mehr als die dreifache Aufmerksamkeit genossen – Aufmerksamkeit, die sicherlich auch finanziell nicht unscheinbar geblieben ist. Bleibt nur zu hoffen, dass wir ihnen nicht auf den Leim gehen, wenn sie freiwillig oder unfreiwillig die Klaviatur von Rechtsextremen spielen.

Und ist das hier dann „rechte Cancel culture“?

Ebenso wird es auch immer das Geheimnis dieser Menschen bleiben, ob ihnen die vermeintliche „Cancel Culture“ der „Linken“ nur deshalb besonders aufgefallen ist, weil die üblichen Morddrohungen und Hassnachrichten fehlen, die systematisch organisierte Hetzjagden aus ihren eigenen Filterblasen sonst so mit sich bringen. Denn dass Boykottaufrufe kein rein linkes Phänomen sind, müsste offensichtlich sein. In rechten Kreisen ist man normalerweise ganz andere Kaliber von Boykottaufrufen gewohnt. Vielleicht fällt einem Ulf Poschardt, einem Jan Fleischhauer oder einem Dieter Nuhr einfach nicht auf, dass Aufhetzer wie WELT-Kolumnist Rainer Mayer ihre Boykottaufrufe nicht als solche deklarieren, sondern direkt in einer ganzen Lügen- und Ablenkungs-Kampagne inklusive Morddrohungen der Follower:innen gegen Kinder verstecken – vielleicht ist diese Blindheit aber auch Absicht.

Pseudo-„PanoramaGate“: Lügen, Ablenkungen & rechtsextreme Gewaltdrohungen

Denn die regelmäßige Anwendung des Systems Don Alphonso durch Rainer Mayer, bei dem nicht etwa Rezipient:innen dazu aufgerufen werden, Inhalte nicht mehr zu konsumieren, sondern Rechtsextreme aus der eigenen Followerschaft rekrutiert werden, um strafrechtlich relevante Drohungen, Mordphantasien und sexuelle Belästigung virtuell wie vor den Wohnungen der Opfer – meistens junge engagierte Frauen oder BIPoC – kundzutun, ist zum Beispiel bestens dokumentiert.

Jüngst Opfer dieser rechten Hardcore-Version von „Cancel Culture“ waren zum Beispiel die Rechtsextremismus-Forscherin Natascha Strobl oder Jasmina Kuhnke, auf Twitter als @quattromilf aktiv. Im Gegensatz zu den Shitstorms der Rechten wirken die Angriffe der „linken Cancel Culture“ fast wie ein schlechter Witz. Schlecht ist an diesem Witz vor allem, dass ihm nicht nur Boulevard-Intellektuelle wie Herr Poschardt oder ehemalige Satiriker wie Herr Nuhr, sondern auch konservative Tageszeitungen und Teile des Feuilletons auf den Leim gehen. Und das ist nicht nur schlecht – es ist gefährlich.

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Gastbeitrag von Maurice Conrad. Artikelbild: Axel Heimken/dpa


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