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Menschen Retten ist kein Verbrechen! – Die Wahrheit über Seenotrettung

von | Jul 10, 2018 | Aktuelles

Johann Pätzold war selbst auf dem Mittelmeer und hat Menschen gerettet.

Dieser Text wird weh tun. Ich werde Ihnen jetzt erzählen, was tatsächlich auf dem Mittelmeer geschieht, denn ich bin dort gewesen, ich habe es gesehen. Das zu wissen ist notwendig, denn unser Europa kann nur ein Kontinent des Friedens für uns und unsere Kinder sein, wenn wir die Augen nicht vor dem Unrecht verschließen. Darum möchte ich meine Gedanken und Erfahrungen mit Ihnen teilen. Und ich überlasse es Ihnen, wie Sie darüber denken, was Sie dann damit tun.

Mein Name ist Johann Pätzold und ich bin Komponist. Außerdem engagiere ich mich etwas in der lokalen Kulturpolitik und auch Zivilcourage ist mir äußerst wichtig. Das ist etwas, dass mir meine Mutter beigebracht hat, indem sie mir kurz nach der deutschen Wiedervereinigung Brote schmierte, die ich den Obdachlosen bringen sollte. Darum denke ich nicht viel darüber nach. Wenn ich einem Menschen helfen kann, helfe ich.

Außerdem glaube ich, dass wir verantwortlich sind als Bürger, gut informiert zu sein. Darum schaue ich abends die Nachrichten und bringe in Erfahrung, was in der Welt geschieht. Ich bin also niemand Besonderes. Ich bin eigentlich wie jeder andere auch, ein ganz normaler Typ aus der Mitte der Gesellschaft.

EUROPA WAR VERPFLICHTET, ZU HELFEN

Wer die Nachrichten verfolgt, weiß schon seit einigen Jahren, dass viele Menschen aus Verzweiflung ihr Leben riskieren und versuchen, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. Im Herbst 2013 wurde es so schlimm, dass innerhalb weniger Tage 400 Menschen ertranken. Eine furchtbare Eskalation des Sterbens, die Europa bis ins Mark erschütterte. Nie wieder durfte so etwas passieren. Umgehend wurde gehandelt: Italien rief die Marineoperation ›Mare Nostrum‹ aus.

Mehrere Schiffe der italienischen Küstenwache kreuzten auf dem Mittelmeer, um solche humanitären Katastrophen zukünftig zu verhindern. ​Mare Nostrum konnte so mehr als 150.000 Menschen aus Seenot retten und war dennoch völlig überfordert.​ Es ertranken immer noch zu viele. Es wurde eine kurzfristige europäische Lösung gefunden: ›Operation Triton‹ nach einem Jahr Mare Nostrum. ​

Die europäische Grenz- und Küstenwache (FRONTEX) griff nun mit Unterstützung der NATO ein, um Menschen aus dem Mittelmeer vor dem Ertrinken zu retten. Darüber musste auch nicht lange debattiert werden, ​denn die Europäische Union ist nach §98 des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen verpflichtet​, »​so schnell wie möglich Personen in Seenot zu Hilfe zu eilen, wenn sie von ihrem Hilfsbedürfnis Kenntnis erhält« und sie so​ vor dem Ertrinken zu retten.

Das Mittelmeer wurde zum Massengrab

Doch schnell wurde klar, dass selbst Triton diese Aufgabe nur unzureichend bewältigen konnte. Das Mittelmeer verwandelte sich zusehends in ein Massengrab. Nachdem schon mehr als 10.000 Menschen ertrunken waren, organisierten sich in Europa verschiedenste Personen und fingen an, Lösungsansätze zu entwickeln. ​Das waren Menschen aus der gesellschaftlichen Mitte, Mittelständler, Linke und Konservative gemeinsam, die kleinere Schiffe kauften, um selbst vor Ort zu helfen.

Da passierte etwas Unglaubliches, weil es zeigte, was möglich ist, wenn Menschen unabhängig ihrer politischen Lager zusammen stehen. Hilfsorganisationen wie ›Ärzte ohne Grenzen‹ und ›Save the Children‹ unterstützen ebenfalls die Seenotrettung. Organisationen wie ›Sea Watch‹ gründeten sich und fuhren mit anfangs noch kleinen Booten, um zu helfen. So kam auch ich damals mit der ​Sea Eye als einfacher, ungelernter Maschinist dazu.

Dazu entschied ich mich nicht, weil ich einen Helferkomplex gehabt hätte, sondern weil es immer das Richtige ist, denjenigen zu helfen, die in lebensbedrohender Not sind. Und weil ich in der Lage war, zu helfen. Ich war 3 Monate auf der ​Sea Eye​ und beteilige mich seitdem an der Öffentlichkeitsarbeit für die Seenotrettung im Mittelmeer.

Ich beobachtete, wie die Jahre vergingen und die zusammengewürfelte Besatzung der Schiffe zu eingespielten Teams wurden. Wir konnten effizient Menschenleben retten und haben sehr gut mit Frontex, der NATO und der Küstenwache Italiens zusammen gearbeitet. Mittlerweile wurden zehntausende Menschen vor dem Ertrinken gerettet, aber der Ton hat sich verändert.

Parteien wie die AfD verbreiteten Lügen über unsere Arbeit

Und benutzten junge Menschen, deren Sorgen nur zu gut zu verstehen sind, für eine schamlose politische Agenda. Zeitgleich unterstützen sie die ›Identitäre Bewegung‹, welche uns mit ihrem Schiff an der Rettung von Menschen hindern sollte. Sie forderten gar das Bundesverdienstkreuz für diese rücksichtslose und kopflose Behinderung von uns.

Die traurige Pointe dieser Aktion war, dass das Kreuzfahrtschiff der ›Identitären‹ selbst in Seenot geriet und ausgerechnet wir es retten mussten. Traurig ist das, weil wir kostbare Zeit verloren, in der wir andere Rettungseinsätze hätten fahren konnten. Ich präsentiere Ihnen jetzt eine grausame Rechnung: Zu der Zeit, als ich noch im Mittelmeer mitgefahren bin, da entdeckten wir pro Tag und pro Schiff -– und wir waren viele Schiffe –- mindestens 2, oftmals 3 bis 5 gekenterte Schlauchboote.

Rundherum trieben​ ​häufig ein paar Leichen im Wasser. Die Körper, meist in Bauchlage, stark aufgebläht, der Kopf unter Wasser, die Haut aufgedunsen und völlig weiß –- von Kindern und Frauen bis hin zu kräftigen Männern. Selbst bei einem längst toten Babykörper hält man Ausschau nach der Mutter — das ist verrückt. Jedes dieser Boote war mit Sicherheit mit bis zu 180 Menschen gefüllt, wie wir von den Booten wissen, die noch nicht gekentert waren und internationale Gewässer erreichten. Alle Leichen haben wir aber nie gefunden.

Die lagen schon längst auf dem Meeresgrund oder wurden Tage später an den umliegenden Küsten angespült. Wir konnten nur die auf dem Wasser treibenden Leichen zählen und haben es dann Rom so weitergegeben. Das waren immer etwa 10-20 tote Körper. Nur diese Leichname sind in die Statistik der Ertrunkenen im Mittelmeer eingeflossen. Dann erhält man eine Zahl wie 1.500 oder auch mal 3.000 pro Jahr. Eine sehr geschönte Zahl, so makaber das auch klingen mag. Die Dunkelziffer ist brutal.

Theoretisch müssen wir die 3.000 mindestens mal 10 nehmen

Unsere Dunkelziffer ist so unfassbar hoch, dass wir darüber selbst kaum sprechen, weil sie uns Angst macht. Ich erinnere mich an ein Gespräch im Büro (wir haben uns dabei flüsternd unterhalten), da wurde intern eine 60.000 als niedrig, aber durchaus realistisch angegeben. Das jedoch wäre eine furchtbare Werbung für viele unserer Politiker. Eine 60.000 auf der einen Seite, eine Festung Europa auf der anderen Seite. Das wäre selbst für den CSU-Wähler zu viel. Vermutlich sogar für den ein oder anderen AfD-Wähler.

So ganz habe ich die Hoffnung in die Menschen ja noch nicht aufgeben. Die Menschen, die gerettet wurden, bettelten uns an, sie nicht an die libysche Küstenwache zu übergeben.​ ​Lieber würden sie zurück in das Wasser springen und ertrinken, als zurück nach Libyen zu müssen. Die schwangeren Frauen wurden über Monate hinweg von den libyschen Aufsehern vergewaltigt.

Und in Europa reden Rechtspopulisten darüber, dass es unverantwortlich sei, als schwangere Frau über das Mittelmeer zu flüchten. Es ist nur leider schwer, als Frau nicht schwanger zu werden, wenn man täglich mehrfach vergewaltigt wird. Und ich denke, es ist legitim, vor seinen Peinigern weg zu laufen. Verzeihen Sie meinen Zynismus.

Die Männer, die wir aufnahmen, waren oft verheiratet gewesen und hatten Familien gehabt. Sie erzählten, dass man ihre Frauen gerne als demütigende Foltermethode im Beisein der Ehemänner vergewaltigte und wenn sie dann schwanger wurden, erschoss. Wenn die Töchter noch zu jung waren, hat man ihnen gleich die Kehle durchgeschnitten und mit kleinen Jungen passierte im Grunde dasselbe.

Junge, hübsche Frauen wurden auf Marktplätzen verkauft wie Vieh

Und das hat sich mit Sicherheit bis heute nicht geändert. Das passiert immer noch und ich befürchte, es ist noch viel schlimmer geworden, seitdem die EU ihre NO-WAY-Politik, die Festung Europa, aufbaut. Was in Libyen passiert, ist mit Worten nicht zu beschreiben. Es ist die Hölle. Diese Menschen, diese Leute, diese Schicksale, werden jetzt im Moment von meinen Kollegen und Kolleginnen gerettet.

Ständig mit der Angst im Nacken, entweder von den Libyern schon auf See erschossen oder in Europa wegen ›Schleusertätigkeiten‹ eingesperrt zu werden. Schleusertätigkeiten, weil wir die Menschen nach Europa bringen. Dabei ist das gar nicht unsere Aufgabe. Im Gegenteil: Wir wollen Menschen vor dem Ertrinken retten. Danach ist unsere Aufgabe eigentlich beendet und so sollte es auch sein. Es ist Aufgabe der EU, beziehungsweise ihrer Mitgliedsstaaten, uns die Menschen abzunehmen.

Wir werden erpresst, die Menschen nach Europa zu bringen

Früher war die Zusammenarbeit mit Frontex nicht zu beanstanden. Die Schiffe kamen zu uns und haben die Geflüchteten aufgenommen. Migrationsangelegenheiten sind schließlich Behördensache, Lebenretten jedoch ist zivile Pflicht. Das Dreiste aber ist, dass wir, die Nichtregierungs-Organisationen (NGOs), von Italien mit Billigung der Europäischen Union erpresst wurden, einen sogenannten ​Code of Conduct, also eine Art Verhaltenskodex, zu unterzeichnen, der uns dazu verpflichtet, die Menschen selbst nach Europa zu fahren und unsere Hilfe damit kriminalisiert.

Selbst der wissenschaftliche Dienst des Bundestages schreibt dazu in einem Bericht: »Der von Italien vorgelegte Verhaltenskodex wird sehr unterschiedlich und kontrovers bewertet. Die Spannbreite der Einschätzungen reicht von einer ›konzertierten Schmierenkampagne‹ gegen private Seenotretter bis hin zum ›Hilferuf‹ der italienischen ​Regierung in Richtung ihrer europäischen Counterparts.«

Wir haben uns dagegen gewehrt, weil es den Vorwurf nur bestärkt hätte, dass wir Schleuser wären. Aber man hat uns im wahrsten Sinne fertig gemacht. Alles veränderte sich am Osterwochenende 2017, sowohl die Zusammenarbeit mit Frontex als auch mit der NATO. Etwa 4.000 Menschen waren mit ihren Booten auf dem Meer und das Wetter wurde immer unruhiger. Es war eine unfassbare, humanitäre und moralische Katastrophe. Keines der Schiffe antwortete auf die Notrufe.

Die NATO ließ uns mit dem Retten alleine

Ein Schiff der NATO, die ​Rhein, befand sich gar in Sichtweite, funkte noch ein zynisches »wir sind voll« und fuhr fort. Niemand antwortete auf die Hilferufe der NGOs. Die ersten 1.000 Menschen konnten auf mehr als 30 Fahrten gerettet werden. Derweil war ein Schiff, die Iuventa, allein mit bis zu 3.000 Menschen, darunter viele Frauen und Kinder.

An Bord selbst waren 400 Menschen untergebracht, damit war sie mehr als überfüllt und bereits selbst in Gefahr zu kentern. Der Rest der Menschen war noch immer in den Schlauchbooten. Schutz fand die Iuventa bei dem starken Wetter irgendwann im Windschatten eines Tankers. Es ist nicht zu sagen, wie viele Menschen an diesem Osterwochenende auf dem Mittelmeer starben. Zu viele. Es sind zu viele.

Die Iuventa ist ein Schiff der Jugendorganisation ›Jugend Rettet‹. Sie besteht aus Schülern, jungen Studenten, jungen Menschen mit Idealen, die von einem besseren Europa träumen und deren Taten ein Wegweiser für uns sein sollten. ​Jugend Rettet​ gehörte zu den Organisationen, welche den ​Code of Conduct​ nicht unterzeichnet hatten.

Wie an einem von uns ein Exempel statuiert wurde

Im September 2017 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage wegen Menschenschmuggels gegen die Organisation. Angeblich gab es Fotos und Audiomitschnitte, die dann aber etwas ganz anderes zeigten, als was ihnen vorgeworfen wurde. Die allermeisten Anklagepunkte wurden mittlerweile fallen gelassen. Das Schiff jedenfalls wurde beschlagnahmt und bis heute nicht wieder freigegeben.

Für die anderen NGOs war das ein Signal, das kaum fehl zu deuten war. Wenn heute Schiffe der NGOs mit aus Seenot geretteten Flüchtlingen nicht in die Häfen von Malta und Italien gelassen werden, ist das das Ergebnis genau dieser Entwicklung — obwohl wir den Kodex unterschrieben haben — oder gerade deshalb?

Die Beschlagnahmung der ​Lifeline​ im Juni 2018 ist der vorläufige Gipfel dieser Eskalation

Offiziell geht es da um eine fehlerhafte Beflaggung. Aber darum geht es natürlich nicht. Selbst die ​Sea Watch 3, welche unter der offiziellen niederländischen Flagge fährt, darf nicht mehr den Hafen verlassen. All die anderen kleinen NGO-Boote fahren als in den Niederlanden registriertes Sportboot.

Das war nie ein Geheimnis (wenn es gerade auch so dargestellt wird). Das ist auch nicht illegal. Ausschlaggebend ist das Kapitänspatent. Claus-Peter Reisch, der das entsprechende Patent hat um auf internationalen Gewässern zu fahren, wird gerade für etwas angeklagt, für das es keine Grundlage gibt. Es geht nur darum, Zeit zu schinden, um die Organisation auszubluten.

Nicht einmal mehr die Aufklärungsflugzeuge der NGOs dürfen starten, um im Mittelmeer nach Seenotfällen zu suchen. Die Politik scheint alles zu unternehmen, dass die Öffentlichkeit nicht mehr hinschauen kann. Unsere Arbeit wurde im Laufe der letzten Monate so erschwert, dass wir immer mehr Menschen auf ihrer Fahrt nach Europa nicht retten konnten und die Todeszahlen wieder nach oben schossen.

Rekordtodeszahlen im Juni 2018

Bis zum Juni diesen Jahres sollen bereits mehr als 1.400 Menschen ertrunken sein. Ein trauriger Rekord. Ich will nochmals betonen: Unser ​ursprünglicher Auftrag war die schlichte Seenotrettung. Wir haben die Menschen aus dem Wasser gezogen und an die Rettungsleitstelle in Rom die Anzahl der Geretteten gemeldet. Wir dürften uns aus eigener Kraft nicht mehr bewegen, sobald wir auch nur einen Flüchtling an Bord hatten. Seit dem CoC, müssen wir also zwangsläufig geltendes Recht brechen, indem wir gezwungen sind, dem CoC zu folgen und die Geflüchteten zu transportieren.

Sei es drum — dann aber von der Politik kriminalisiert zu werden, während man gleichzeitig die Bilder davon, was sich täglich auf dem Meer zuträgt, nicht mehr aus dem Kopf bekommt, ist schizophren. Wenn ich heute Kindergeschrei höre, breche ich innerlich zusammen. Wenn ich dann Männer wie Dobrindt und Seehofer, die eine Partei vertreten, die das Wort ›christlich‹ im Namen trägt, von der ›konservativen Revolution‹ reden höre, von der ›Festung Europa‹, dem ›Migranten-sofort-Abweisen‹-Unfug oder den ›Asyltourismus‹-Thesen, dann bleibt mir mein Essen im Halse stecken.

Seehofer fällt uns in den Rücken

Es lässt mich kopfschüttelnd und entsetzt zurück, wenn mein Innenminister die Zivilcourage, die mich meine Mutter lehrte, kriminalisier. Während ich das deutsche Grundgesetz ehre, indem ich mit bestem Wissen und Gewissen danach handle. Das ist etwas, das mich nicht einmal mehr wütend macht, es verletzt mich. Es macht mich müde und traurig und fassungslos. Die Mehrheit der Deutschen — ach!, die Mehrheit der Europäer — fühlt mit dem Schicksal dieser Menschen mit Sicherheit genauso wie ich.

Aber es wird nicht leichter, Engagement zu zeigen, wenn unser eigener Innenminister uns eine Ohrfeige nach der anderen erteilt. Dabei ist es wahnsinnig anstrengend, sein Geld zu verdienen und daneben seinen freiwilligen sozialen Arbeiten nachzugehen, um das Land, um Europa, jeden Tag ein bisschen besser zu machen. Ich sollte jetzt im Studio sitzen und Musik schreiben. Stattdessen sitze ich am Schreibtisch und schreibe dies alles, um ein paar Missverständnisse richtig zu stellen, die korrumpierte Wahrnehmung notdürftig zu flicken und vor allem anderen: aufzuklären.

Deswegen habe im Folgenden eine Liste der verbreitetsten Vorurteile aufgestellt und gebe Ihnen Antwort. Ich verbinde damit eine wichtige Botschaft: Spart eure wertvolle Zeit und verschwendet sie nicht für sinnlose, emotionale Debatten. Nutzt sie für das Sammeln und den Austausch von Argumenten. Nutzt vielleicht auch meine Argumente und teilt diesen Artikel! Vielleicht können wir so gemeinsam Menschenleben retten.

BEHAUPTUNG 1:​ Die Schiffe der NGOs machen sich der Schlepperei mitschuldig.

Nein, dies ist nicht der Fall. Im Gegenteil. Oftmals ist die libysche Küstenwache selbst in das Schleppergeschäft verwickelt. Die NGO-Schiffe sind darum bemüht, nach dem Retten der Flüchtlinge und dem Bergen der Leichen die Boote zu versenken oder zu zerstören, damit sie nicht weiter verwendet werden können.

Mehrfach kam es vor, dass dies jedoch nicht möglich war, da die libysche Küstenwache oder die sogenannten ​Engine Fisher​ das mit Waffengewalt verhindert haben. Wir haben Angst vor denen und legen uns nicht mehr mit diesen Leuten an. Zu oft wurde auf uns geschossen. Hat ein mutiger Kapitän das Kommando, versuchen wir die Engine Fisher mit unserem Schiff zu vertrieben, indem wir auf Kollisionskurs gehen.

BEHAUPTUNG 2:​ Die NGOs sollten die Menschen zurück nach Afrika bringen.

Dies ist völlig unmöglich. Ein Eindringen in die territorialen Hoheitsgewässer ist absolut verboten. Darauf stehen langjährige Haftstrafen, da sich die NGOs dann der Schlepperei schuldig machen würden. Zudem ist es lebensgefährlich, da die libysche Küstenwache oftmals das Feuer eröffnet hat​,​ selbst wenn man sich noch weit entfernt von den libyschen Hoheitsgewässern befindet. Zudem ist Libyen als nicht sicher durch die EU und die UN​ ​eingestuft.

Selbst wenn wir nach Libyen fahren könnten, würden wir damit gegen das internationale Völkerrecht verstoßen​.​ Wir können als Europäer mit Geflüchteten an Bord auch unter keinen Umständen in die Hoheitsgewässer Tunesiens ohne die Erlaubnis der tunesischen Regierung einfahren. Diese Erlaubnis wurde uns bisher nicht erteilt. Würden wir zuwider handeln, würden wir uns der Schlepperei schuldig machen.

BEHAUPTUNG 3:​ Wir bringen die ›Migranten‹ nach Europa.

Richtig. Aber: Wir wollen das nicht und wir wollten das auch nie. Die EU hat uns dazu jedoch verpflichtet. Wir mussten den sogenannten ​Code of Conduct​ unterzeichnen, welcher besagt, dass wir uns verpflichten, die Menschen nach Europa zu bringen. Wir haben uns viele Monate dagegen gewehrt und haben laut protestiert. Als Antwort der EU hat man unsere Schiffe beschlagnahmt oder uns die Einfahrt in europäische Häfen verweigert.

Italien hat uns mit Billigung der EU zum Unterschreiben genötigt –- erst dadurch sind wir überhaupt in der Situation, die Menschen nach Europa bringen zu müssen. Wir tun dies unter Protest. Unser ursprünglicher Auftrag war die schlichte Seenotrettung. Wir haben die Menschen aus dem Wasser gezogen und MRCC Rom die Anzahl der Geretteten gemeldet. Normalerweise dürfen wir uns aus eigener Kraft nicht mehr bewegen, sobald wir auch nur einen Flüchtling an Bord haben.

Rom hat dann umliegende behördliche Schiffe informiert (meist Schiffe der NATO), welche uns die Geretteten abgenommen haben. Flüchlingsaufnahmen sind Behördensache. Lebenretten
ist zivile Pflicht. Seit dem CoC, müssen wir zwangsläufig geltendes Recht brechen, weil es Italien vorschreibt.

BEHAUPTUNG 4:​ Die NGOs sind ein Pull-Faktor.

Nein. Wir haben erst angefangen Rettungseinsätze zu fahren, nachdem mehrere 10.000 Menschen im Mittelmeer aufgrund der Untätigkeit der EU ertrunken sind. Das konnten viele nicht ertragen. Deswegen wollten wir das ändern. Zuerst sind die Menschen ertrunken, erst danach begannen die Rettungseinsätze.

Vorher haben vor allem Frachtschiffe oder Schiffe der NATO diese Rettungseinsätze durchgeführt. Mit mäßigem Erfolg. Zum Retten in internationalen Gewässern ist im Übrigen​ ​jeder verpflichtet –- tut man dies nicht, drohen lange Haftstrafen. Bei einem Distress Call ist ein NGO-Schiff also dazu verpflichtet, zu retten. Tut es das nicht, verstößt man gegen das internationale Völker- und Seerecht.

BEHAUPTUNG 5:​ Die NGOs bekommen Geld für ihre Arbeit.

Nein, dies ist nicht so. Wir werden finanziert durch​ ​Spenden​.​ Dabei werden jedoch nur die Instandhaltung der Schiffe, Lebensmittel für Crew und die Geretteten sowie Ausrüstungsmaterial finanziert. Es gibt durchaus die Gerüchte, dass wir von Soros finanziert werden, durch die Bundesregierung »für die große Umvolkung« Geld bekommen und von den Schleppern bezahlt werden oder wir für die CIA oder den BND arbeiten. Das allerdings stimmt alles nicht.

Tatsächlich gibt es manchmal größere Spenden von prominenten Personen für die Organisationen. Denen geht es aber darum, dass weiterhin die Werte der EU an den Grenzen durch uns vertreten bleiben. Alle Helfer auf den Schiffen nehmen Urlaub, bezahlen ihre Flüge und kommen eigenfinanziert zu den Schiffen und wieder zurück. Die Organisationen bezahlen kein Geld für Flugtickets der Helfer.

Tatsächlich ist es so, dass einige freiwillige Helfer mittlerweile vor dem persönlichen wirtschaftlichen Bankrott stehen. Einige haben ihren Beruf aufgegeben, um Leben zu retten, andere spenden für die Organisationen, obwohl sie selbst freiwillig aktiv auf den Schiffen sind. In Ausnahmefällen bekommt man eine Beteiligung für die Flugtickets, wenn beispielsweise kurzfristig ein Crewman ausfällt und dieser dringend ersetzt werden muss.

BEHAUPTUNG 6:​ Es kommen nur junge Männer über das Mittelmeer.

Das entspricht nicht der Wahrheit. Der Anteil an Frauen und Kindern ist ebenfalls sehr hoch. Tatsächlich ist es so, dass die Überfahrt vor allem die jungen Männer überleben. Die Babys, jungen, oftmals schwangeren, Frauen und Kinder sterben als erstes. Sie werden auf dem Boden erdrückt, verdursten oder sterben an den Vergiftungen durch das Benzin in den Booten. Oftmals wird das Benzin einfach in das Boot eingelassen und der Schwimmerkörper selbst als Tank benutzt.

Es sterben auch viele Männer bei der Überfahrt. Nur die Stärksten überleben. Es sei denn, wir finden sie rechtzeitig genug. Nichtsdestotrotz ist der Anteil der fliehenden Männer erhöht, was darin begründet liegt, dass die Wahrscheinlichkeit zu überleben höher ist, um anschließend Asyl in Europa beantragen können und dadurch mit Hilfe des Familiennachzugs ihre Familien holen können.

Text: Johann Pätzold. Stand 10.07.18. Artikelbild: Erik Marquardt, alle Rechte vorbehalten. Danke!