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Windkraft-Fake-News: Will die „Welt“ uns jetzt Rasenmäher und Autos verbieten?!

von | Mai 4, 2021 | Analyse

„Welt am Sonntag“ macht aufgrund eines Preprints Stimmung gegen Windkraft

Eine Gruppierung von radikalen Lärmschutzaktivist:innen macht im Axel-Springer-Haus massiv Stimmung gegen unsere Lebensweise! Nach den Plänen dieser Einschränkungs-Ultras müssen wir in Zukunft unseren kompletten Alltag am Stille-Diktat einiger weniger Schalldruckgegner:innen ausrichten.

Laut diesen können Geräuschpegel mit einem Schalldruck von 60 bis 70 Dezibel bereits Schäden an Membranstrukturen oder Gleichgewichtssinn hervorrufen, weshalb von diesen Lärmquellen in Zukunft ein Mindestabstand zu Wohngebieten eingehalten werden muss. Nach diesen Kriterien wird sich unser Leben radikal verändern! Rasenmähen im eigenen Garten wird dann nicht mehr erlaubt sein. Staubsaugen gefährdet dann die Gesundheit, Kitas und Schulen müssen geschlossen werden, Homeschooling als Standard-Modell.

Spielplätze werden abgebaut, Konzerte untersagt und Autoverkehr würde grundsätzlich verboten. Es wird schnell klar: Diese Schalldruckfanatiker:innen wollen Deutschland zerstören!!

Diesen Eindruck könnte man zumindest bekommen, wenn man den Artikel „Schallemission der Windkraft erhöht Gesundheitsrisiko“ in der „Welt am Sonntag“ liest. Darin wird vor den Schallemissionen (nur) durch Windkraft gewarnt und offenbar vergessen, dass uns Schallemissionen dieser Größenordnungen praktisch überall in unserem Alltag begegnen. Das Springerblatt, das nun schon seit Jahren die Klimakrise verharmlost und Maßnahmen gegen diese zu bekämpfen versucht, bedient sich hier mal wieder den klassischen PLURV-Methoden der Wissenschaftsleugnung. Und verbreitet Fake News über Windkraft.

PLURV-Methodik bei der „WELT“ – Ideologie verdrängt Fakten

Aufhänger ist Professor Vahl von der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, der bereits 2018 vor den Gefahren durch Infraschall (Schall unterhalb der menschlichen Hörfläche von 16 Hertz) durch Windkraftanlagen warnte und dazu laut eigenen Angaben im März 2019 eine Studie zur Publikation einreichte. Mit dieser Studie hat er es ins ZDF geschafft, in die ARD. Und natürlich auch zum Springer-Verlag, wo Daniel Wetzel bereits im November 2019 darüber berichtete. Problem: Vahls Studie belegt keine solche Gefahr.

Seine Studie ist zwar eingereicht, aber immer noch nicht peer reviewed, zudem ist er (ein offenbar recht guter) Herzchirurg, was ihn jedoch nicht zwingend zu einem Fachmann in Bezug auf Akustik, Schallpegel oder Schallleistung macht. Entsprechend fragwürdig ist sein Versuchsaufbau, in dem er und sein Team isolierte Herzzellen mit einem Basslautsprecher beschallt haben. Diese Zellen wurden zeitgleich elektrisch stimuliert, wodurch sie kontrahierten.

Sobald der Basslautsprecher mit 120 Dezibel (bei dieser Lautstärke drohen Gehörschäden) loswummerte, wurden nun laut Prof. Vahls Team knapp 15 Prozent schwächere Kontraktionen gemessen – und wir hoffen alle inständig für die Herzzellen, dass dabei keine Tracks von Xavier Naidoo zum Einsatz kamen. Diese sollen ja schon deutlich unter 120 Dezibel schlimme Dinge mit Gehirnzellen anzurichten vermögen.

Der Versuchsaufbau wurde bereits kritisiert, z. B. dafür, dass dort kein Druckbehälter verwendet wird. Die Messung kann daher durch Vibrationen des Lautsprechers selbst verzerrt werden. Zudem befinden sich Herzzellen für gewöhnlich innerhalb eines menschlichen Brustkorbs. Und nicht in direktem Sichtfeld zu einem Lautsprecher. Das sie umgebende Gewebe dämpft alle externen Druckschwankungen, während der menschliche Blutdruck selbst wiederum recht hohe Druckschwankungen erzeugt, was die Idee von diesbezüglich überempfindlichen Herzzellen ohnehin recht unplausibel erscheinen lässt.

Versuch mit Herzzellen hat Schwächen und wartet immer noch Peer-Review

Diese enormen Unstimmigkeiten haben leider weder die ARD noch das ZDF oder Daniel Wetzel von der Welt davon abgehalten, vor Blutdruck Windkraftanlagen zu warnen. Dazu passt es viel zu gut in Wetzels Lieblingserzählungen, schreibt er doch sonst von der unterschätzen Macht der grünen Lobby, von der Gefahr durch die Energiewende und wie wir auch weiter mit Verbrennungsmotoren herumfahren können. Zudem ist der Mann Wirtschaftsredakteur. Die Interpretation von Schallpegeln gehört mutmaßlich nicht zu seiner Kernkompetenz. Für ihn ist das einfach ein Fundstück, um seine ideologischen Überzeugungen mit pseudowissenschaftlichen Erkenntnissen zu verbrämen.

Gut, das war 2019, kommen wir zurück in die Gegenwart: War die Studie ohnehin schon angezählt, wurden die wackeligen Beine, auf denen sie stand, letzte Woche nun endgültig von einem Skandal hinweggefegt, durch die wir die Schlussfolgerungen von Vahls Team nun erst recht im Reich der Märchen und Mythen verorten müssen. Peter Altmaier musste sich nämlich öffentlich entschuldigen, weil die BGR (Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe) aufgrund eines Rechenfehlers seit 2009 viel zu hohe Schallpegel für Windkraftanlagen angibt, und zwar 100 Dezibel anstatt 64 Dezibel.

Schallpegel um das 64-Fache verrechnet

Jetzt könnte man denken, naja, 64 anstatt 100, das ist ja gar kein sooo großer Unterschied, halt ca. ein Drittel weniger. Dezibel werden aber auf einer logarithmischen Skala genutzt, weswegen 100 Dezibel einem doppelt so hohen Schalldruck und einer viermal so hohen Schallleistung entsprechen wie 94 Dezibel. Bezogen auf die tatsächlichen Werte einer Windkraftanlage hat die BGR also einen 64-fach höheren Schalldruck und eine ca. 4.000 (!)-fach höhere Schallleistung angegeben, verglichen mit den tatsächlich zutreffenden 64 Dezibel. Dieser Rechenfehler und seine Strahlkraft in die Anti-Windkraft-Szene und AfD-Filterblasen sind ein hochinteressantes Thema für sich. Für Interessierte: Die Faktenchecks von Dr. Stefan Holzheu von der Universität Bayreuth zu dieser Jahre andauernden Kampagne sind überaus empfehlenswert.

Nun hat Herzchirurg Professor Vahl sich eben genau dieses Wertes von der BGR bedient. Die Herzzellen in seinem Laborversuch mussten 100 bis 120 Dezibel Schalldruck ertragen (Lautstärken zwischen Kreissäge und Düsenjet), weil die BGR über Jahre fälschlicherweise behauptete, Menschen könnten diesen Werten in üblicher Nähe zu Windkraftanlagen ausgesetzt sein. Wie gesagt, das basiert alles nur auf dem peinlichen Rechenfehler einer Behörde, die eigentlich die Bundesregierung beraten sollte.

Bundesbehörde arbeitet seit 2009 mit 4.000-fach (!) zu hohen Schallwerten für Windkraft und stärkt Anti-Windkraft-Szene

Das ganze Experiment mit den Herzzellen ist somit schon irrelevant, bevor die Studie überhaupt von anderen Wissenschaftler:innen geprüft werden konnte. Wäre Professor Vahls Vorhaben keine wissenschaftliche Untersuchung gewesen, sondern die Zubereitung einer hübschen Hochzeitstorte, so entspräche sein problematischer Versuchsaufbau bereits einem mittelgroßen Brandloch in der Frontseite der Torte. Gut, kann man mit viel Fleißarbeit vielleicht noch retten, aber die BGR-Korrektur der Grenzwerte um den Faktor 4.000 ist nun so, als wäre ein in Flammen stehender Pottwal aus 5.000 Meter Höhe auf die Backstube gestürzt und hätte außer brennenden Trümmern wenig hinterlassen.

Die ganze Geschichte wäre unter normalen Umständen also mehr als vorbei. Da aber Fehler einzugestehen nicht in den Trends des Jahres 2021 auftaucht, lässt Professor Vahl sich nicht beirren und so steht in der „Welt am Sonntag“ in Bezug auf gesundheitliche Unbedenklichkeit von Windkraftanlagen:

„Das Gegenteil sei jedoch der Fall, sagte Vahl, der als Leiter der Arbeitsgruppe Infraschall der Universitätsmedizin Mainz seit Jahren die Wirkung von Infraschall auf Zellgewebe und Organe erforscht. Nach der BGR-Korrektur werden die Beschwerden der Betroffenen nicht mehr im Bereich von größer 90 Dezibel geäußert, sondern bereits im Bereich zwischen 60 und 70 Dezibel.“

Die Beschwerden der Betroffenen? Redet Professor Vahl mit den elektrisch stimulierten Herzzellen und fragt sie, wie es ihnen geht, während er sie mit „Dieser Weg“ in 120 Dezibel malträtiert? Hoffentlich nicht – er redet wohl von echten Personen, nur leider spielten Menschen in seiner Studie keine Rolle. Ein:e echte:r Journalist:in hätte hier nachgefragt, warum die BGR-Korrektur ein anderes Empfinden von Anwohner:innen auslösen kann und ob das nicht schon höhere Esoterik sei.

Herzchirurg bleibt seiner Version und definiert kurzerhand Grenzwerte um

Nachdem also klar ist, dass die Infraschallpegel im Modell der BGR anstatt 100 Dezibel eher 64 Dezibel entsprechen, finden sich angeblich Menschen, für die 64 Dezibel bislang in Ordnung war, für die das nun aber spontan ein gesundheitliches Problem darstellt, na so ein Zufall. Wer diese Beschwerden geäußert haben soll, erfahren wir leider auch nicht. So sieht es aus, wenn euch jemand brennende Bruchstücke eines Walkadavers als Hochzeitstorte verkaufen will.

Die „Welt“ lässt den Herzchirurgen nun noch wild spekulieren, ob größere Anlagen niedrigere Frequenzen verursachen und ob niedrigere Frequenzen stärker auf menschliche Organismen wirken, aber für all seine Behauptungen gibt es keinerlei Beleg. In seiner eigenen Studie schon gar nicht, es handelt sich hier um seine persönliche Meinung, für die er keine Quellen nennen kann.

Und nun schlagen wir wieder einen Bogen zum Anfang: Was wäre denn, wenn die Schallpegel wirklich so wirken, wie die „Welt“ hier behauptet? Wenn solche Infraschallpegel gefährlich wären und wir hohe gesetzliche Abstände zu allem definieren müssten, was 60 bis 70 Dezibel emittiert? Oh-oh, ich habe eine schlechte Nachricht für Ulf Poschardt, Fan von Sportwagen und persönlicher Autofreiheit: 60 bis 70 Dezibel sind im Alltag echt nicht viel.

Wäre Professor Vahls Sorge berechtigt, dann müssten Anwohner:innen von Hauptstraßen ständig mit Gleichgewichtsstörungen und verminderter Herzaktivität am Boden liegen. Autofahren wäre in diesem Fall vollkommen unverantwortlich, und zwar nicht nur für Menschen, die an Straßen wohnen, sondern auch für die Insassen der Gefährte: Platziert man ein Messgerät für Infraschall hinter der Rückbank eines Autos, misst man Infraschallwerte bis über 100 Dezibel. Und das selbst bei E-Autos.

Wenn diese Werte stimmen, müssten wir zum Schutz der Insassen sofort das Autofahren verbieten

Professor Vahl konnte mit seinem Versuch auch nicht zeigen, dass sich die Wirkung auf die Herzzellen auf Infraschall beschränkt. Sollte das Ergebnis auch für Frequenzen über 16 Hertz (die Menschen hören können) reproduzierbar sein, dann müssten wir auch Großraumbüros (bis zu 70 Dezibel) verbieten. Babygeschrei, Konzerte und Unterhaltungen in Cafés und Kneipen? Sorry, das muss zum Schutz unserer Herzzellen dann alles verboten werden.

Sollte sich herausstellen, dass nur der Infraschall so gefährlich ist wie behauptet, dann sind Gespräche in Cafés zwar weiter erlaubt, aber Autoverkehr wäre dann eigentlich komplett zu untersagen. Auch Ölheizungen, Waschmaschinen und Kühlschränke erzeugen höhere Infraschallpegel als Windkraft-Anlagen in 300 Meter Entfernung. Dann säßen wir also weiter in Cafés, aber diese wären dann im Zweifel kalt, unsere Klamotten starrten vor Dreck und das Essen wäre vergammelt. Wer will in so einer Welt voller Verbote schon leben? Ich denke, wir müssen lernen, mit dem Lärm zu leben, indem wir Risikogruppen schützen.

Nun können wir davon ausgehen, dass der Verfasser des „Welt“-Artikels solche Regelungen selbst auch nicht will, dass er aber beim Anwenden seiner PLURV-Methodik kaum darüber nachgedacht hat, welche Konsequenzen seine Forderungen tatsächlich hätten. Genau das ist das Problem von Zeitungen ohne Wissenschaftsjournalismus, deren Berichterstattung zunehmend ideologisch geprägt sind. Von fünf Haupttechniken der Wissenschaftsleugnung hat Daniel Wetzel sich direkt bei dreien bedient: Pseudo-Experten, Logik-Fehler und Rosinenpickerei.

Welt am Sonntag bedient sich 3 klassischen PLURV-Techniken zur Wissenschaftsleugnung

Prof. Vahl ist natürlich ein Experte, und zwar auf dem Gebiet der Herzchirurgie. Ob dieser Mann sich auch mit Schalldruckpegeln und komplizierten Pegelberechnungen auskennt, darf man gerne bezweifeln, anstatt ihn einfach als „Leiter der Arbeitsgruppe Infraschall der Universitätsmedizin Mainz“ vorzustellen. Für unbedarfte Leser:innen klingt das erst mal nur kompetent, eine Arbeitsgruppe extra für Infraschall und dann ist er auch noch der Leiter, ui!

Auf die Logik-Fehler bin ich weiter oben schon eingegangen. Das Team mag bei Beschallung mit 120 Dezibel tatsächlich Veränderungen an Herzzellen gemessen haben. Aber der Schluss, das hätte jetzt irgendwas mit Windkraftanlagen und schlagenden Herzen in lebendigen Menschen zu tun, hängt komplett in der Luft.

Rosinenpickerei: Die „Welt“ beruft sich auf das Preprint eines einzelnen Teams, das sich wiederum in seiner Argumentation auf die Modellzahlen einer einzelnen Behörde (BGR) beruft, während so gut wie alle anderen Institutionen (z. B. LUBW, LfU, VTT) bei realen Messungen zu anderen Werten kommen. Das ist, als würde ein pensionierter Mediziner uns zu Beginn einer Pandemie erzählen, es würden sich bis zum Winter nur ein paar Tausend Leute mit einem neuen Erreger infizieren, während Tausende aktiv Forschende von deutlich höheren Zahlen ausgehen und ich sage „Ach egal, der Pensionär hat so eine sympathische Frisur, ich glaube, was der sagt.“

Stimmungsmache gegen Windkraft ohne Faktengrundlage

Kann man privat natürlich machen, aber Medien haben hier eine viel größere Verantwortung und müssen objektiv berichten und einordnen. Die „Welt“ ist nicht das einzige Medium, dass dieser Verantwortung nicht im Ansatz gerecht wird, auch n-tv schreibt mehr oder weniger bei der Welt ab und kommt nicht von allein auf den Gedanken, die Aussagen journalistisch zu prüfen.

Beide Medien reden von mehreren Mediziner:innen, die nun warnen, dabei gibt es konkret nur einen einzelnen Mediziner, der so vor Windkraft warnt. Die Kompetenz dieses Mediziners ist Herzchirurgie und nicht Schallpegelberechnungen, zudem wirkt sein Gebaren in Bezug auf die Korrektur der BGR zunehmend befangen. Es wäre hier Aufgabe der Medien zu sagen „Der Mann hat uns eine Hochzeitstorte versprochen, aber er hat uns nur einen brennenden Walkadaver präsentiert.“

Die „Welt“ hingegen titelt stolz „Schallemission der Windkraft erhöht Gesundheitsrisiko“ und kapiert an der Stelle gar nicht, dass das gleichbedeutend wäre mit „Schallemissionen des Straßenverkehrs erhöhen Gesundheitsrisiko.“

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Artikelbild: pixabay.com, CC0

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