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Sind alle Terroristen Muslime?

von | Dez 18, 2017 | Aktuelles

Schlagzeilen über Terrorismus sprechen gefühlt immer von Islamisten. Der IS, Al-Qaida, Boko Haram, alles Muslime. Und Flüchtlinge sind es mehrheitlich auch, bringen sie uns den Terror ins Land?

Terrorismus ist im Westen im Vergleich zum Rest der Welt praktisch nicht existent (nur 0,5% der Opfer von Terrorismus weltweit in den letzten 15 Jahren stammen aus dem Westen, wenn man von 9/11 absieht) und auch fällt im „Zeitalter des Terrorismus“ auf, dass die Anzahl und die Opfer des Terrorismus im Vergleich zu den voran gegangenen Jahrzehnten viel niedriger ist.

Doch, je nachdem welche politischen Ziele man erreichen will, vergleicht man die aktuellen Terrorzahlen nicht mit den Leveln ab den 70ern, ab welchen uns erstmal verlässliche Zahlen vorliegen, sondern mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts, denn hier kann man tatsächlich einen Anstieg vermerken, der aber wie gesagt nicht an vergangene Zeiten anknüpft. (Zahlen: 3,329 Tote 2000 zu 32,685 Tote 2014; Global Terrorism Database)

Der Hauptsanteil an diesem Anstieg tragen aber der Iraq, Afghanistan, Nigeria, Pakistan und Syrien. Dort starben 78% aller Opfer von Terrorismus im Jahr 2014. Die meisten Tote pro Land verzeichnet Nigeria mit 7512 Toten 2014, woran Boko Haram hauptsächlich schuld ist, die damit die tödlichste Terrororganisation der Welt ist.

War der 11. September dann der Beginn eines neues Zeitalter des islamistischen Terrorismus?

Wenn wir heute von einem Terroristen sprechen, denken wir automatisch an einen islamistischen Selbstmordattentäter. Erst vor ein paar Tagen wurde Al-Bakr dank einiger anderer Flüchtlinge gefasst, der einen Selbstmordanschlag geplant hatte. Wie kommt es dazu, dass wir nur an Selbstmordattentäter denken? In den 1980er, zu Zeiten viel größerer Terrorzahlen gab es lediglich jährlich 5, in den 1990ern 16 und zwischen 2001 und 2006 schon 180 Selbstmordattentate. jedes Jahr. Und auch heute machen sie immer noch einen kleinen Teil aller Anschläge aus.

Aufgrund der Selbstaufopferung des Terroristen sind sie jedoch so präzise, schwer aufzuhalten und tödlich – Eine diabolische Mischung und deshalb wahrscheinlich so in unser Bewusstsein verankert. Die wenigen im Westen verübten Anschläge gehen zu 70% auf das Konto von „Einsamen Wölfen“, also durchaus ideologisch motivierten Einzelkämpfern, jedoch ohne Kontakt zu Netzwerken und Terrorgruppierungen. Diese sind meistens auch gar nicht islamistisch motiviert, sondern zu 80% ein Mix aus Rechtsextremismus, Nationalismus, Elementen, die gegen die Regierung gerichtet sind oder andere Arten politischen Extremismus (siehe GTD) – und nur 2% der Täter waren Muslime.

Doch wie sieht es mit dem Rest der Welt aus?

57% aller Anschläge und 78% aller Tode durch Terrorismus im Jahr 2014 fanden im Iraq, Afghanistan, Nigeria, Pakistan und Syrien statt, allesamt muslimisch geprägte Länder. (Nigeria jedoch hat zu auch 48% Christen) Gleichzeitig fand 2014 in den meisten Länder weltweit (60%) kein einziger Anschlag statt, bei dem ein Mensch zu Tode gekommen ist, aber in 93% fand immerhin irgendeine Art von Anschlag statt.

Allein der IS und Boko Haram sind für mehr als die Hälfte aller Tode durch Terrorismus verantwortlich, auch wenn der IS vor allem als Armee tödlich ist, weniger als Terrorgruppe. (GTD)

Ist der Islam also die größte Terrorgefahr?

Dass die meisten Terroranschläge weltweit derzeit in muslimischen Ländern verübt werden, heißt nicht, dass der Islam schuld daran ist oder dass von diesem irgendeine gesonderte Gefahr ausgeht. Wie man vor allem am Beispiel des IS sieht, der in einem komplizierten Geflecht aus geopolischen und religiös motivierten System existiert, dessen Entflechtung Stoff für ein ganzes Buch liefern würde, entspringt die Motiviation eines Großteil der Terroristen verschiedenster Gründe, und Religion fungiert dort mehr als Vehikel als als Grund. Politische Instabilität, eine schwache Verbreitung von Demokratie (nur 1/4 aller islamischen Staaten wählt seine Regierung) und vor allem eine starke Vorherrschaft einer „Ehrenkultur“, wie sie durch die Aufklärung hierzulande größtenteils erodiert worden ist, ist ein Nährboden für politische Gewalt, auch für Terrorismus. Auch wenn Gewalt, die von den Regierungen verübt wird, diese weit in den Schatten stellt. So werden in Syrien die meisten Zivilisten (73%) vom Assad-Regime ermordet.

Konzepte von Vaterland, Bruderschaft, Ehre, die Wahrnehmung verschiedenster historischer Tatsachen wie die Kreuzzüge, die Existenz Israels und die Präsenz US-Amerikanischer Truppen auf arabischem Boden als Ungerechtigkeiten sind Hauptfaktoren für die Radikalisierung, direkt nach simplen geopolitischen Aspekten. Religion funktioniert als totalitäre Ideologie lediglich als Motivator, um von den Anhängern größte Opfer verlangen zu können und um die eigene Sache als gerecht zu präsentieren – Kein Sonderfall des Islam, sondern jede Religion wird und wurde für so etwas missbraucht beziehungsweise ausgelegt.

Die meisten Opfer sind Muslime

Tatsächlich bedeutet die Tatsache, dass die meisten Anschläge in arabischen Ländern verübt werden, jedoch vornehmlich, dass die meisten Opfer Muslime sind. Da es im Vergleich zur arabischen Welt im Westen kaum Terroranschläge gibt und diese wenigen zum größtenteil nicht einmal islamistisch motiviert sind, ist also „der Islam“ überhaupt keine Bedrohung für uns. Der Islam wäre dieser Logik nach hauptsächlich eine Bedrohung für den Islam.

Die meisten Muslime weltweit verurteilen diese Terrorakte. Wieso sollten sie auch nicht, wenn sie doch auch die Opfer davon sind? Terrorismus ist, wie im ersten Teil dieses Artikels bereits beschrieben, immer zum Scheitern verdammt. Um in den Schlagzeilen zu bleiben, wird eine Gruppe immer brutaler und grausamer. Und niemand möchte eine Gruppe unterstützen, die wahllos immer größere Zahlen an Zivilisten umbringt. Weil dann jeder Opfer sein könnte. Öffentlicher Support für Terrorgruppen in arabischen Ländern sinkt seit Jahren, bis auf ungefähr 10%.

Wem das immer noch eine hohe Zahl erscheint, der mag darauf hingewiesen werden, dass in Umfragen 24% der US-Amerikaner beispielsweise angeben, dass Bombenanschläge und andere Angriffe auf die Zivilbevölkerung manchmal gerechtfertigt seien. (Zakaria, 2010)

Unzählige sogar ehemalige Unterstützer islamistischer Gruppen haben durch die Kehrtwende der öffentlichen Meinung den Terrorgruppen ihre Unterstützung entzogen und verurteilen diese Akte. (Pinker, 2011)

Die meisten Moslems sind natürlich keine Fans von Terrorismus und müssen sich auch nicht für die Taten derjenigen rechtfertigen, die nur zufällig der gleichen Religion angehören wie sie – Zumal angemerkt werden muss, dass es große Diskrepanzen zwischen den Auslegungen des Islams und den verschiedenen Glaubensrichtungen geben kann. Im gleichen Maße wie Zeugen Jehovas und Protestanten Unterschiede aufweisen.

„Wie sich aber Christen oder Atheisten weltweit nicht mit Joseph Kabila, Pierre Nkurunziza, den Anti-Balaka-Milizen oder dem nordkoreanischen Regime identifizieren, identifizieren sich Muslime weltweit nicht mit Abu Bakr al-Baghdadi, Omar al-Bashir, den Boko Haram-Kämpfern oder dem syrischen Regime,“ sagt Jens Stappenbeck von Genocide Alert e.V.

Holen wir uns aber Terroristen mit den Flüchtlingen ins Land?

Flüchtlinge sind keine Ursache, sondern eine Folge von Terrorismus. Aus 10 der 11 Länder, die jährlich mehr als 500 Tote durch Terrorismus zu beklagen haben, stammen die meisten Flüchtlinge. Der Krieg in Syrien allein produzierte 4 Millionen Flüchtlinge außerhalb seiner Grenzen. Diese fliehen natürlich nicht hauptsächlich vor Terrorismus, aber auch vor Gewalt, die vom Staat verübt wird. Diese korrelliert ganz stark mit Terrorismus und man geht davon aus, dass sie ihn mithervorruft. (GTD)

Tatsächlich ist es sogar so, dass eine nicht unbedeutende Zahl an Europäern nach z.B. Syrien geht und dort Terrorist oder Soldat wird. 25.000 bis 30.000 Menschen aus aller Welt reisen nach Syrien, um dort zu kämpfen oder Anschläge zu verüben – 21% davon aus Europa. Die Syrer sollten vielmehr Angst vor Europäern haben, die dorthin gehen, um Muslime umzubringen, als andersherum!

Natürlich ist es nicht unmöglich, dass sich auch Flüchtlinge hierzulande radikalisieren lassen. Dass diese verschwindend geringe Zahl für die verschwindend geringen islamistischen Anschläge in Europa, wo es sowieso verschwindend wenig Anschläge gibt, verantwortlich sind, ist aber nicht der Fall. Und bei Millionen Menschen, die hierher vor eben genau diesem islamistischen Terror fliehen, weil SIE die Opfer davon sind und uns um Schutz und Zuflucht bitten, spielen diese Leute sowieso keine Rolle. Die Wahrscheinlichkeit hierzulande, Opfer eines Terroranschlags zu werden, ist geringer, als sich beim Essen zu verschlucken und daran zu sterben. Wie gering die Wahrscheinlichkeit ist, dass dieser Terrorist auch noch zuvor ein Flüchtling war, ist so lächerlich gering, dass ich mich frage, wie es passieren konnte, dass wir das überhaupt als Gefahr ernst nehmen.

Wir dürfen über unsere durchaus menschlichen Ängste nicht unsere Menschlichkeit verlieren

Natürlich sind das alles schlimme Ereignisse und es geht jedes Mal um Menschenleben, denen diese ganzen Zahlen nicht gerecht werden. Und ich kann auch nicht garantieren, dass niemand in diesem Land nicht an einem Terroranschlag sterben kann. Ich will auch nicht sagen, dass das nicht passieren wird. Ich weiß auch nicht, was passieren wird und wie die Zukunft aussieht. Angst ist auch verständlich und natürlich. Aber wird dürfen nicht zulassen, dass eine irrationale Angst, oder zumindest eine überproportional große Angst uns Millionen Menschen abweisen lässt und zu einem Feindbild macht, die ganz sicher leiden und sterben werden, wenn wir ihnen nicht helfen. Wir dürfen über unsere durchaus menschlichen Ängste nicht unsere Menschlichkeit verlieren.

Deshalb ist es wichtig, sich die wahren Verhältnisse vor Augen zu halten und nicht auf die panikverbreitende, uninformierte Hetze zu hören, die diese Menschen, Opfer von Terrorismus, zu Tätern machen möchten.