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Die Zahl der Neonazis reduzieren – Strategien & Probleme von Aussteigern

von | Dez 30, 2018 | Gastkommentar, Hintergrund

Perspektive oder Spießroutenlauf – was folgt auf den Ausstieg?

Gibt ein über Jahre aktiver Neonazi seinen Ausstieg öffentlich bekannt, beginnen die immer selben Debatten: Manche lesen und glauben die resultierenden Geschichten gerne, geben sie doch Mut, die inhaltliche Auseinandersetzung mit Rechtsradikalismus weiter zu vertiefen. Ein Erfolgserlebnis in einer schwierigen gesellschaftlichen Entwicklung. Andere mahnen und warnen: Wer quasi „gestern noch ein Nazi“ gewesen sei, könne nicht schon heute als positives Beispiel gelten – auch, wenn es nur um den Ausstieg an sich geht.

Unter den ehemaligen Kameraden mischen sich unterdessen Wut und Enttäuschung, bei Einzelnen löst der Verlust des Aktivisten oder Freundes aber auch eine erste weltanschauliche Verunsicherung aus. Ein kritisches Hinterfragen des Ganzen müssen die Protagonisten dabei aushalten und es ist auch erwünscht, dieses sensible Thema in jedem Falle kritisch zu prüfen – solange dabei nicht in Vergessenheit gerät, was ein Ausstieg eigentlich ist und nicht zugelassen wird, dass Rückwege verbaut werden.

Dieser Artikel soll eine Innenperspektive zeichnen, unser Verständnis von Ausstieg vermitteln, sowie auf Probleme und Kritik im Zusammenhang mit Bildungsveranstaltungen aufmerksam machen. Wir, die Verfasserinnen und Verfasser, sind Teil des AKTIONSKREISEXIT-Deutschland (AK), überwiegend also ehemalige Neonazis.

Immer wieder werden Ausgestiegene mit teils abstrusen Erwartungshaltungen konfrontiert. Häufig sind diese orientiert an Parametern, die selbst mit Ressentiments bzw. streng-ideologischen Grundsätzen behaftet sind. Wer diese Normen aber festlegt und ob diese wirklich maßgeblich für einen glaubhaften Ausstieg sein müssen, ist nur selten klar. Den einzig richtigen und wahrhaften Weg zum Ausstieg gibt es nicht. Was es hingegen gibt, ist die Evaluation von Initiativen oder Institutionen, die mittels nachvollziehbarer und bewährter Methoden bewerten können, ob und wie weit Ausstiegsprozesse geeignet erscheinen, mit einer Ideologie und einer Weltanschauung zu brechen. Die einzelnen Fälle sind dabei individuell so komplex, wie es die Diversität der betreffenden ausstiegswilligen Menschen eben erfordert.



„Aussteigervortrag“: Selbstdarstellerische Freakshow oder authentische Zeitzeugengespräche mit nachhaltiger Wirkung?

Besonders hitzig wird die sogenannte authentische Präventions- und Distanzierungsarbeit von Aussteigern an Schulen und anderen pädagogischen Einrichtungen diskutiert – also autobiografisch geprägte Vorträge. Während die einen gar von „Freakshows“ mit emotional übersteigerten „Inventing Stories“ reden, also Glaubwürdigkeit und Nutzen vorab absolut verneinen, verbindet die überwiegende Mehrheit derer, die z.B. als Pädagogen, Multiplikatoren der Jugendarbeit oder zivilgesellschaftliche Akteure real betroffen sind, die nachhaltige Sensibilisierung mit anwendbaren Handlungskompetenzen durch die Erfahrungen und transparenten biografischen Ausführungen.

Zunächst müssen sich alle Beteiligten – der/die Vortragende, aber auch die jeweiligen Organisatoren – darüber im Klaren sein, dass es sich bei den autobiografischen Aspekten eines solchen Vortrages lediglich um ein subjektives Fallbeispiel handeln kann. Diese haben durchaus ihre Daseinsberechtigung und können richtungsweisend sein, unter Umständen sogar essentiell: Etwa in der Frage nach der Einstiegsmotivation erleben Ausstiegsbegleitende durchaus gewisse Muster, die sie als typisch für eine Mehrheit der Ausstiegswilligen beschreiben würden. Eckdaten, wie z.B. junges bzw. jugendliches Alter, Wut auf das System oder die Berührung mit subkultureller Propaganda in Form von sogenanntem Rechtsrock ebneten häufig den Weg zur späteren, umfassenden Radikalisierung.

Niemals wird dieser eine Ausstieg als passende Schablone für andere Fälle funktionieren können, hierfür sind einzelne Strukturen – sowohl in der Ansprache der meist jugendlichen Einsteiger, als auch im Verhältnis zu offensiver Gewalt und „Bestrafung“ von Ausstiegen – zu unterschiedlich. Die frühe Sozialisation in der Szene ist oftmals für die spätere Entwicklung von Bedeutung, was auch unmittelbare Folgen auf den Ausstieg haben kann. Will heißen: Jemand, der sich schon beim Einstieg vor allem für möglichst brutale Gewalt und eine furchteinflößende Drohkulisse interessierte, wird sich wohl auch zum Zeitpunkt der Ausstiegsplanung am ehesten in einem entsprechend militanten Umfeld wiederfinden, indem das Verhältnis zur Gewalt zwar der Ideologie nach dasselbe wie in anderen Gruppen ist, es aber erheblich offener gelebt wird.

die offene Verfolgung von „Verrätern“

In diesen Gruppierungen macht man sich keine Mühen, durch möglichst wenig radikale/militante Aktionen aufzufallen und auch die offene Verfolgung von „Verrätern“ ist hier in der Regel weniger subtil, als in anderen Strömungen. Jemand, der sich hingegen etwa gerade über klassische Fangthemen wie „soziale Gerechtigkeit“, „Antikapitalismus von Rechts“ etc. durch eher demonstrations- und diskursorientierte Kreise angesprochen fühlte und / oder der beliebten Hypothese folgte, nach der man als Nationalsozialist zu den „einzig friedlichen“ in einer gewalttätigen Gesellschaft gehöre, wird typischerweise eher in hochgradig ideologisierten Kreisen landen und vielleicht missionarisch wirken. All dies ist auch in die Bewertung der Einschätzungen der / des Vortragenden einzubeziehen. Der Vortrag ist also nicht als alleinstehende Maßnahme der politischen Bildung zu verstehen – vielmehr werden bei dieser Aufgabe beispielsweise Lehrkräfte mit der ethisch-politischen Botschaft eines Zeitzeugen unterstützt.

Nicht kontextlos umsetzen

Im Idealfall wird die Darbietung sinnvoll in den Lehrplan eingebaut und entsprechend vor- und (vor allem!) nachbereitet. In jedem Fall darf sie nicht völlig kontextlos, quasi als nette anekdotenhafte Erheiterung oder Belehrung verstanden und umgesetzt werden. Dafür ist das Thema zu brisant und die Zeit aller Beteiligten zu schade. Schlimmer noch: In einem solchen Fall kann gar ein Faszinosum für einzelne, meist junge, Zuhörerinnen und Zuhörer entstehen, womit jedes ursprünglich positive Ziel ins Gegenteil transferiert wäre. Was allen bewusst sein sollte: Es ist und bleibt eine verantwortungsvolle Aufgabe- für alle Beteiligten.

Die Aussteigerinnen und Aussteiger, die bei EXIT-Deutschland in den letzten Jahren Unterstützung für ihre eigene Deradikalisierung fanden, kommen aus unterschiedlichen Strömungen der rechtsradikalen Szene. Klar dominieren aktivistisch orientierte und bundesweit relevante Gruppen. Doch auch parlamentarisch strategische sowie regionalspezifische Phänomenbereiche gehören dazu. Niemand kann für alle möglichen Szenarien im Innenleben der extremistischen und radikalen Lebenswelten sprechen. Es handelt sich immer nur um die (authentische) Betrachtung aus der Sicht dieser Person. Um nicht mehr, aber eben auch nicht weniger. Mehr zum Thema sowie Dos and don’ts of involving formers in PVE/CVE work.

„Der macht sich nur wichtig“ – Ausgestiegene in der Öffentlichkeit.

„Der Berufsaussteiger, der vom Saulus zum Paulus wurde, will uns nun die Welt erklären? Hätte er doch besser mal in der Schule aufgepasst – Dann müsste er sich nun nicht in den Mittelpunkt drängen und sein Leben mit Buchverkäufen oder Talkshowauftritten finanzieren.“

Viele dieser Vorwürfe sind Ausgestiegenen alles andere als fremd. Aus der Außenperspektive mag dies manchmal so erscheinen, für Einzelfälle auch unter Umständen teilweise zutreffend sein – Der Antrieb des AKTIONSKREIS und vieler anderer Menschen, die Versuchen, mit biografisch untermauerten Ansätzen auf die Gefahren von Radikalisierung hinzuweisen, ist ein völlig anderer.

So sind gesamtheitlich betrachtet nur relativ wenige Ausgestiegene mit ihrer Geschichte tatsächlich in der Öffentlichkeit – was sowohl mit der persönlichen Entwicklung im Prozess, als auch mit der Einschätzung der jeweiligen Fallbetreuer zu tun hat. Insbesondere die Gefährdungslage lässt dies bei Weitem nicht in jedem Fall zu. Bei denjenigen, die sich für diesen – durchaus zukunftsweisenden – Schritt der öffentlichkeitswirksamen Distanzierung entschieden haben, wird zudem nicht selten von allen Seiten eine potentiell ehrbare Motivation mit den sich stets wiederholenden Vorwürfen einer „Profilierungssucht“ von der Hand gewiesen. Auch hier mag es Fälle geben, die diesen Anschein wecken.

die „Flucht nach Vorne“

Dennoch erlauben wir uns an dieser Stelle die Frage, ob mit dieser temporären und zielgruppenorientierten Bekanntheit, die sich in jedem Falle auf das Scheitern eines Lebensentwurfes, auf Fehler und Irrtümer, man könne gar sagen auf ein Totalversagen reduziert, wirklich eine erstrebenswerte Wahrnehmung erreicht wäre? Die an diesem Artikel mitwirkenden Autorinnen und Autoren beschreiben die Folgen der öffentlichen Wahrnehmung als mindestens „langfristig belastend“. Für viele ist die „Flucht nach Vorne“ einer der Hauptkatalysatoren für den Schritt in die Öffentlichkeit gewesen – die Bekanntheit „als Neonazi“ war und ist zu diesem Zeitpunkt zu groß gewesen und nur durch nachvollziehbare Statements und Engagement ist dem etwas entgegenzusetzen. Zudem wird in einem ideal verlaufenden Ausstiegsprozess auch die Verantwortungsübernahme immer präziser. Man hetzte in einer Art und Weise andere auf, dass man sich vielleicht verantwortlich fühlt, argumentative Schadensbegrenzung zu betreiben.

Der Vorwurf des „Berufsaussteigers“

Zudem sind auch wir als Verfasserinnen und Verfasser dieses Artikels nie unpolitisch gewesen. Dies gilt für eine nicht unerhebliche Zahl anderer Ausgestiegener ebenso. Auch wenn wir elementar menschenverachtende, freiheitseinschränkende und historisch grundlegend falsche, diskreditierte Ideologien und Denkmuster vertreten haben. Selbstredend sind wir auch nach unserem Ausstieg politik- und gesellschaftskritische Menschen, die vielleicht gerade aufgrund ihrer biografischen Polarisierung auf Probleme einwirken möchte, respektive verweisen können. Aus dem einstigen Drang zu missionieren entwickelte sich die aktive Übernahme von Verantwortung mit den wirksamen „Waffen“ der gemachten Erfahrung und in ihrer Konsequenz der notwendigen Reflektion.

Der Vorwurf des „Berufsaussteigers“ ist insofern ebenfalls schwer zu verifizieren: Teilweise ist die Vortragsarbeit mit einer beruflichen Orientierung, etwa in der sozialen Arbeit, verbunden und teilweise wird dies auch so kommuniziert. Die Vortragenden stellen jedoch zumeist nur einen konzentrierten Bereich ihres Lebens öffentlich zur Schau, nämlich den, der unmittelbar mit Radikalisierung und Deradikalisierung – also Einstieg, Rolle/ Aktivität und Ausstieg – in Verbindung steht. Was jenseits dieses Teilbereiches geschieht, darüber werden Externe Personen – meist aus Sicherheitsgründen, aber auch aus Respekt vor der Privatsphäre der Protagonisten – häufig im Unklaren gelassen.

„Der ist immer noch Nazi – fight back!“

„Einmal Nazi – Immer Nazi!“ Diesen Satz dürfte nahezu jede Aussteigerin und jeder Aussteiger schon das eine oder andere Mal gehört haben. Bei dieser Phrase, die dem in fundamentalistischen Kreisen üblichen „Gut / Böse- Schema“ folgt, handelt es sich für die Betroffenen um ein Urteil mit weitreichenden Konsequenzen: Eine Umkehr sei nach diesem Leitsatz nicht möglich. Verzeihen? Ausgeschlossen. Das Recht auf Teilhabe an der Gesellschaft für den Einzelnen nach seinem Ausstieg? Verwirkt.

Nun kann man das als Meinung fanatisierter Menschen verstehen, die sich weniger mit der Person an sich, als mit ihnen bekannten Weltbildern und Erklärungen beschäftigen wollen. Andere fragen sich, ob es vielleicht so etwas wie eine „genetische Disposition“ gibt, ein Neonazi zu sein – und wie es sich mit dieser dann nach dem Ausstieg verhält. Kann man denen trauen?

Um dies nochmals hervorzuheben: Das kritische Hinterfragen solcher Biografien ist und bleibt ein wichtiger und vor allem absolut nachvollziehbarer Aspekt. Jedoch sollte dies ohne Vorurteil oder einer vorgefertigten Meinung geschehen, vor allem aber dürfen Denunziationen und wahllos erstellte, öffentliche „Warnungen“ vor der Person unter keinen Umständen Teil der Debatte sein.

„Outing-Aktion“ und „Plan B“

In der Fallbetreuung muss beispielsweise mit einer „Outing-Aktion“ zu einem sensiblen Zeitpunkt umgehend ein „Plan B“ erstellt und umgesetzt werden.

In der Regel muss mit der Ausstiegsplanung auch gleich ein ganzer Lebensentwurf über Bord geworfen werden. Zum Beispiel dann, wenn ein möglichst leiser Loslösungsprozess, der ohne medialer Beachtung, aber für die Fallbegleitung nachvollziehbar praktiziert werden sollte, über Nacht durchkreuzt wird. Oft ist es bis hierhin gelungen, den ehemaligen Kameraden möglichst wenig Angriffsfläche zu geben. Was für die Ausstiegsbegleitung und die Person selbst ein langfristiger Ausstieg mit allen damit verbundenen Pflichten ist, soll aus Sicht der (Neonazi-)Szene zunächst wie ein Rückzug aussehen und in erster Linie Stabilität & Sicherheit des hilfesuchenden Menschen gewährleisten. Für manche Kreise allerdings kann ein Rückzug kein Weg zum Ausstieg sein – entweder man ist ein Freund, oder bleibt eben ein Feind.

Spätestens hier muss klar sein, dass leider nicht selten ein enormer Interessenkonflikt besteht: Zwischen Teilen des Antifa-Spektrums und den Neonazis auf der Einen – man möchte gleichermaßen Rache an den angehenden Aussteigerinnen und Aussteigern nehmen, wenn auch aus unterschiedlichen Motivationen – und der begleitenden Ausstiegsorganisation auf der anderen Seite, wo man akribisch versucht, die körperliche Unversehrtheit zwischen Parolen wie „Verräter an die Wand“ und „Kein Vergeben – Fight Back!“ irgendwie gewährleisten zu können. Von außen betrachtet könnte bei dieser Gemengelage schnell vergessen werden, dass auch noch die individuellen Planungen und Bedürfnisse der ratsuchenden Person bei allen Vorgehensweisen bestmöglich berücksichtigt werden.

EXIT-Deutschland setzt auf Vertrauen, Erfahrung & Weitblick – durch langfristige Deradikalisierungsarbeit

Wie ist man überhaupt auf diese unterschiedlichen Gefährdungslagen und Charaktere vorbereitet? Die Lösungsansätze für dieses komplexe Problem klingen bei EXIT überraschend einfach.

Zunächst setzt man voraus, dass sich bei jeder neuen Kontaktaufnahme ein mündiger Mensch meldet, dessen Wünsche und Bedürfnisse zu prüfen, zu rationalisieren und zu respektieren sind. Grundsätzlich ist ein erster Schritt aus Sicht der Berliner Initiative getan, wenn die jeweilige Person klar äußert, an seinen bisherigen Denk- und Verhaltensweisen arbeiten zu wollen. Dies sind quasi die Konditionen, denn hiermit wird der Intervention die Berechtigung erteilt. Es müssen nun umgehend Fragen von Sicherheit und Schutz geklärt werden. In dieser sensiblen Phase des Ausstieges ist schnelles und umsichtiges Handeln gleichermaßen gefragt. Zu diesem Zeitpunkt stehen viele derer, die sich melden, buchstäblich zwischen den Stühlen.

Die nächsten Aktionen stehen an, die Homepage der Gruppe muss aktualisiert werden, oder die „Kameraden“ drängen und werden unruhig, weil man sich nicht meldet. Vielleicht ist es aber auch schon komplizierter: Die Meldung kommt, während die Gruppe die Person bereits zu einem „Verräter“ erklärt hat, erste Bedrohungen oder vielleicht sogar Übergriffe haben bereits stattgefunden. Hinzu kommt, dass man das, woran man Jahre glaubte und sein Leben aufbaute, von heute auf morgen verwerfen muss. Dass Menschen die man als Freunde erachtete, schlagartig zu Feinden werden. „Die Wahrheit“, für die man sich einsetzte, entpuppt sich als falsch. Probleme, die man lange verdrängt hatte, wollen nun – da die ideologische Brille verschwindet – mit Vehemenz gelöst werden.

jeder Ausstieg ist ein Wendepunkt

Grundsätzlich markiert jeder Ausstieg einen Wendepunkt im Leben derer, die sich dazu entschließen – verbunden mit dem Wunsch nach persönlicher Sicherheit, Bildung und Arbeit, sozialer Einbindung, sowie der Suche nach einem neuen Weltbild, nach Sinn und Orientierung.

Für EXIT-Deutschland ist ein Ausstieg dann erfolgt, wenn es ein erfolgreiches Infragestellen, eine kritische Reflexion und eine reflektierte Aufarbeitung der bisherigen Ideologie gegeben hat. Ausstieg ist somit mehr als das Verlassen einer Partei oder Gruppe, auch mehr als ein Wechsel der ästhetischen Ausdrucksformen oder der Verzicht auf die Anwendung von Gewalt. Ein Ausstieg ist dann erfolgt, wenn die den bisherigen Handlungen zugrundeliegende, richtungsweisende Ideologie überwunden ist. Dies bedingt auch, dass Verantwortungen für Taten übernommen werden müssen und Rollenmuster sowie Rollenverständnisse kritisch hinterfragt werden. Eine bloße Distanzierung von der ehemaligen Bezugsgruppe oder die Herauslösung aus dem Umfeld – die grundsätzlich und in jedem Fall zwingend notwendig ist – sind ausschließlich auf die Verhaltensebene abzielende Veränderungen und damit nur ein Teilelement der Deradikalisierung im Ausstiegsprozess.

Von einem Menschen in einer absoluten Ausnahmesituation zu erwarten, dass er mit seinem Ausstieg sofort ein nach Maßstäben anderer „perfektes“ – etwa antifaschistisches, von Toleranz und Demokratie geprägtes – Leben führt, wäre fatal lebensunwirklich: Sollte es nicht vielmehr um ein Bekenntnis zur vollumfänglichen Anerkennung der Freiheit und Würde aller Menschen sowie die Bereitschaft gehen, das Weltbild von Menschen- und Freiheitsfeindlichkeit zu befreien und somit einer grundsätzlichen kritischen Prüfung zu unterziehen? Der Ausstieg aus dem Extremismus bedeutet, kritisch zu hinterfragen, Ambiguitäten, Unsicherheiten und Konflikte auszuhalten, sowie Grautöne zu akzeptieren. Für den Ausstieg aus einer extremistischen Gruppe ist es dann auch unerheblich, ob sich der/die Einzelne danach als konservativ, progressiv oder liberal beschreibt. Entscheidend ist die Akzeptanz des Gegenübers und die Bereitschaft, sich und seine Perspektive immer wieder zu hinterfragen.

Ex-Rechtsextremisten gegen Rechtsextremismus: Der Aktionskreis EXIT-Deutschland (AK)

Ehemalige Rechtsextremisten setzen sich unter dem Dach des AK offen oder im Hintergrund dafür ein, dass sich rechtsextreme Ideologie und Organisation nicht weiter ausbreiten.

Menschen sollen lernen, souverän und kritisch mit rechtsextremer Ideologie und denjenigen, die sie vertreten, umzugehen. Es werden Orientierungen jenseits rechtsextremen Denkens aufgezeigt, persönliche Irrtümer und deren Folgen werden zur Debatte gestellt. Ideologiekritische Artikel werden publiziert, Vorträge in Schulen und der Öffentlichkeit gehalten. Bei tiefergehenden Fragen und Problem wird nach Möglichkeiten beraten.

Der Aktionskreis will die für viele unerreichbare Zielgruppe der ehemaligen Kameraden konzentriert ansprechen, aber auch in der Öffentlichkeit darüber aufklären, welche Theorien oder Umstände Nährboden und Hintergrund für rechtsextremistische Ideologien und Aktivitäten bilden.

Die ehemaligen Extremisten – zumeist mit nationalsozialistischer Vergangenheit -, die im Aktionskreis mitarbeiten, beobachten dabei sehr gründlich, was sich im Land abspielt, was ihre ehemaligen „Kampfgefährten“ tun und wie sich die Szenen entwickeln.

Am Ende eines Ausstieges, der mit dem glaubhaften Bruch aller vorhandenen extrem-radikalen Grund- und Wesenshaltungen einhergeht muss es in einer prozessualen Wechselwirkung zwischen Individuum und Gesellschaft möglich sein, einen repressionsfreien und somit nachhaltigen Neuanfang in der Mitte der Gesellschaft zu schaffen. Diejenigen, die nicht aktiv daran mitarbeiten wollen, die Zahl der Neonazis durch die Unterstützung neuer Aussteiger zu reduzieren, können trotzdem ohne viel Aufwand etwas dazu beitragen: Indem sie ihren Kampf gegen Aussteiger einfach einstellen.

Text: Aktionskreis ehemaliger Extremisten | EXIT-Deutschland, Artikelbild: Alexandros Michailidis, shutterstock.com, Originaltext erschient auf exit-deutschland.de