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Wenn Staaten kapitulieren

von | Mrz 8, 2018 | Aktuelles

In einer Zeit, da es scheint, dass die Weltsichten immer weiter auseinanderdriften, ist Konsens eine Ausnahme. Umso erstaunlicher, dass sich in einer Diagnose die allermeisten einig sind. Und zwar von links bis rechts, vom Arbeiter bis zur Betriebswirtschaftlerin, von Attac bis Weltbank: Die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer größer.

Und das sowohl innerhalb von Staaten als auch global gesehen zwischen den Wohlhabendsten und Benachteiligtesten der Welt. Dabei wurden in den letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte gemacht bei der Bekämpfung der absoluten Armut (dem Anteil derer, die von weniger als 2$ pro Tag leben müssen). Für sich genommen ist das eine positive Nachricht, die vielen gar nicht bewusst ist. Dennoch ist die Ungleichverteilung in Gänze gestiegen. Maßgeblich, weil das reichste Prozent der Welt – und noch viel stärker das reichste Promille – in der gleichen Zeit obszöne Werte für sich vereinnahmen konnte. Und über die Mittel und Wege verfügt, dieses Geld so zu lagern, dass Staaten und ihre sozialen Umverteilungsmechanismen kaum darauf zugreifen können.

Es ist eine Binsenweisheit, dass die Wohlstandsungleichheit maßgeblich zu sozialen Spannungen beiträgt

Eine Binsenweisheit, die sich täglich bewahrheitet. Wenn etwa die von ökonomischem Abstieg bedrohte weiße Arbeiterschaft der USA glaubt, ein Milliardär würde sie von ihren Sorgen erlösen. Und in Europa klagt die Mittelschicht darüber, dass „Wirtschaftsflüchtlingen“ von anderen Kontinenten in Zeiten des Internets nicht verborgen geblieben ist, dass wir in einem vergleichsweise paradiesischen Zustand von existenzieller Absicherung leben. Mit den Abstiegsängsten kommen neue und alte Feindbilder in die Welt und benachteiligte Gruppen werden gegeneinander ausgespielt. Politische Extremisten schlagen daraus in allen Industrienationen derzeit ihren Vorteil.

Denn es ist leicht, dieses Gemisch aus diffuser Angst und althergebrachten Vorurteilen gegenüber „den anderen“ zu bedienen und zu lenken. Es ist leicht, auf Menschen anderer Staatszugehörigkeit, Hautfarbe oder Religion zu zeigen und zu sagen: „Die da bedrohen Euren Wohlstand, Eure Arbeitsplätze, Eure sauer verdiente Altersvorsorge.“ Das stimmt zwar in den seltensten Fällen, und wenn, dann sind das marginale Effekte. Aber es wirkt so schön plausibel. De facto ist mal wieder alles viel komplizierter, als man es zwischen Spätschicht und Abendbrot so nebenbei erfassen kann. Wer es dennoch versuchen möchte, könnte hier beginnen.

Die Mär der „trickle-down-economics“

Nun rückt von Kanada bis Österreich, von Neuseeland bis Frankreich eine neue Generation Politiker*innen nach. Und man möchte hoffen, dass sie auch neue Ideen und Ansätze in das politische Geschehen einbringen. Jedoch: Die Riege der jungen, charismatischen Regierungschefs glaubt allzu oft an die alte Mär von „trickle-down-economics“ und will auf dieser Basis den Wohlstand neu verteilen. Diese wirtschaftsliberale Legende – auch als „Reagonomics“ in die Geschichte eingegangen – geht in etwa so:

Heute kommt noch die Hoffnung dazu, dass man mit Steuersenkungen der Flucht des Kapitals in Steueroasen und graue Kanäle Einhalt gebieten, sie gar umkehren könne. Nachdem Depardieu 2012 medienwirksam seine französische Staatsbürgerschaft gegen einen Wohnsitz in Putins oligarchenfreundlichem Russland eintauschte, war das wimmernde Credo vieler: >> Gérard! Komm zurüüüüück! <<

Doch die Realität sieht anders aus

Empirisch hat sich allerdings dutzendfach gezeigt, dass Staaten nach solchen Steuersenkungsmaßnahmen empfindliche Einnahmeverluste hinnehmen, folglich ihre Ausgaben kürzen und Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst streichen mussten. Staaten sind damit in steigendem Maße auf das Wohlwollen der exorbitant Vermögenden angewiesen, ihr Kapital überhaupt noch zu versteuern und auf diesem Wege etwas zu Infrastruktur und Sozialstaat beizutragen.

In den letzten Jahren haben u.a. Wirtschaftsnobelpreisträger Angus Deaton und selbst der Internationale Währungsfond nach eingehenden Studien gemahnt, dass der Glaube an „trickle down“ und steuerliche Erleichterungen für die Wohlhabendsten

a) die ökonomische Ungleichheit innerhalb von Gesellschaften zuspitzen,

b) das Wirtschaftswachstum eher hemmen statt beflügeln,

c) die sozialstaatliche und infrastrukturelle Handlungsfähigkeit von Staaten schwächen oder

im Extrem gar verunmöglichen. [Vergleiche hier]

Erstaunlich daher, wie groß nun die Mehrheit im französischen Parlament war, die eine drastische Senkung der Vermögenssteuer beschloß und so – entgegen aller Ratschläge der empirischen Forschung – die Vermögenden von ihrer gesellschaftlichen Verantwortung entbinden will:

Künftig wird die Vermögenssteuer in Frankreich nur noch als Abgabe auf Immobilien-Besitz im Wert von über 1,3 Millionen Euro erhoben. Geldvermögen und andere Wertsachen werden bei der Steuer nicht mehr als „Vermögen“ gewertet und taxiert. Als Millionär*in in Frankreich kann man zum Steuern-Sparen also künftig das Landhaus in der Provence abstoßen und sich statt dessen Goldbarren in den Keller legen, um dem Fiskus auszuweichen. Problem gelöst.

Dem Staat drohen derweil Milliardenverluste an Einnahmen. Irgendwo wird also der Rotstift angesetzt werden müssen und irgendwer wird das zu spüren bekommen. Aber ganz sicher nicht das so empfindliche und leicht zu verunsichernde reichste Prozent. Dieses scheue Reh namens „Kapital“ wird umsorgt, als stünde es auf der Liste der bedrohten Arten.

Der Front National wird indes aufmerksam darauf achten, wer alles dazu herangezogen wird, das absehbare Steuerloch zu stopfen. Und wird sich über diese Neu-Klientel an Frustrierten sicher freuen.

Falko Pietsch, Autor bei Volksverpetzer Falko Pietsch studierte Philosophie & Germanistik und tut, was man von so einem erwarten würde: schreibt, hält Vorträge, moderiert, debattiert. Wenn es nach ihm ginge, gälten in einer idealen Welt Grundrechte auch für nicht-menschliche empfindungsfähige Lebewesen. Das Verbreiten von Aberglaube, Pseudowissenschaft und Esoterik würde mit Nachhilfestunden bestraft.

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