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Abrechnung mit den Argumenten gegen die Aufnahme von Flüchtlingskindern

von | Dez 26, 2019 | Aktuelles, Gastkommentar, Kommentar

Argumente gegen die Aufnahme von Kindern entlarvt

von Maurice Conrad

Es ist unfassbar wie traurig: Wir diskutieren in Deutschland grade darüber, ob und wie wir Kindern aus menschenrechtswidrigen, überfüllten und tödlichen Lagern Zuflucht bieten könnten. Dass das alles um Heiligabend, ein Fest, das ursprünglich mal die Geschichte einer Flüchtlingsfamilie aus dem nahen Osten erzählte, passiert, ist fast schon zynisch – wenn es nicht so bitter wäre. Aber es ist ja sowieso so viel zu tun um das Fest der Liebe rum – Geschenke auspacken, die Hälfte wieder zurücksenden, Familie anschreien und den blöden Tannenbaum besorgen.

Da kann man nicht auch noch das Elend der Menschen ertragen, denen man sonst gern Lebensgrundlage, Heimat und Zukunft zerstört. Mal ganz altmodisch über die Zerstörung lokaler Infrastruktur, mal abwechslungsreich durch Klimakatastrophen und ab und zu auch einfach, indem man sie ersaufen lässt. Kreativ sind wir ja im globalen Norden. Und jetzt? Jetzt will man uns mit diesem Elend konfrontieren? Unerhört!



Nimm erstmal selber welche auf!

Oft erwidern selbsternannte Wutbürger, wenn man sie an die minimalsten zivilisatorischen Errungenschaften dieser Breitengraden erinnert, in hysterischer Art und Weise. Sofern der Wutbürger zumindest nicht direkt zugeben mag, dass ihn das Schicksal fremder Menschen im Prinzip nicht interessiert, kommt oft eine Antwort: „Nimm doch selber erstmal welche auf!“ Dass das eigentlich überhaupt kein Argument, sondern schlichter Unfug ist, merken diese Menschen häufig gar nicht.

„Nimm doch selber welche auf!“ ist aber überhaupt kein bisschen auch nur irgendwie Argument. Es ist wenn überhaupt ein Bekenntnis, auf der Diskussionsebene über kein einziges Argument mehr zu verfügen.

Zum Einen lösen sich gesellschaftliche Probleme prinzipiell nicht, in dem all diejenigen, die etwas fordern, es einfach selber tun. Wenn ich eine Straße möchte, wende ich mich an meinen Gemeinderat und hole nicht die Schaufel und den Bagger raus. Weder ist das effektiv noch erlaubt. Zum anderen ist humanitäre Hilfe genau das, wofür wir ein Sozialsystem und eine Gesellschaft aufgebaut haben. Wir nehmen nicht nur jede Menge Steuern ein, sondern verfügen als Staat (ja, auch DU bist Teil des Staates) über Immobilien, finanzielle Mittel, Infrastruktur und Verwaltungsapparate, die man benötigt, wenn man mit humanitärer Hilfe tatsächlich etwas bewirken will.

In jedem anderen Fall wäre das Konzept „Gesellschaft“ ad absurdum geführt. Frei nach dem Motto: Sie wollen einen Kindergarten? Bauen Sie doch einen! Sie wollen mehr Lehrer? Unterrichten Sie doch! Sie wollen Pflegekräfte besser bezahlen?! Bezahlen Sie die doch! Ad quorum asozialum. Das Traurige an diesen ironischen Beispielen ist: Die meisten AfD-Wähler*innen würden an einer solchen Gesellschaft nicht mal etwas Verwerfliches finden.

In Deutschland stehen tausende Flüchtlingsunterkünfte leer, über 150 Kommunen haben mit der Ausrufung des „Sicheren Hafens“ Aufnahmebereitschaft von zusätzlich Geflüchteten signalisiert. Die Bereitschaft, die Infrastruktur und auch die finanziellen Mittel sind da. Das einzige, was fehlt, ist der politische Wille. Und vielleicht ein letzter Rest Anstand. Also nein, es muss nicht „jede*r erstmal selber eine*n aufnehmen“. Dieses Land und diese Städte sind nicht nur dazu in der Lage, sie sind dazu verpflichtet. Es ist mein verdammt gutes Recht, das von meiner Regierung zu fordern. Nicht, weil ich das will, sondern weil es ihre gottverdammte Aufgabe ist. Dazu muss nicht einmal Weihnachten sein. Dass die Hilfe gegenüber diesen Menschen aber auch zur Weihnachtszeit nicht klappt, ist eine moralische Bankrotterklärung der Politik von neuer Dimension.

Aber die europäische Lösung!

Ein zweites, weit verbreitetes Argument lautet: Wir brauchen erst eine europäische Lösung. Dieses Argument ist zwar in seiner Theorie nicht falsch, mindestens aber genau so fehl am Platz wie wenn ich sagen würde: Wir brauchen erst den Weltfrieden. Ja, der wäre durchaus ganz dope. Aber halt auch völlig utopisch. Auf eine europäische Lösung warten, hilft den Kindern in diesen Lagern kein bisschen. Es ist in Wahrheit nichts anderes als: Ist mir völlig egal was da passiert, lasst mich in Ruhe. Es wäre auch nichts neues, dass Menschen so denken, aber dann sagt doch einfach ganz ehrlich, dass ihr nicht an einer wirklichen Lösung der dortigen Zustände interessiert seid.

Das einzige, was wir realpolitisch mit dem Warten auf eine europäische Lösung erreichen, ist dass das Thema damit vom Tisch ist. Dass das auch das wesentliche Interesse vieler Politiker*innen ist, will ich gar nicht in Abrede stellen. Es widert mich aber trotzdem jedes Mal nicht minder aufs Neue an. Denn, wem ernsthaft daran gelegen ist, diesen Kindern konkret zu helfen, sie vor dem Tod und der bitteren Kälte zu schützen, der tut jetzt etwas. Auch ich wünsche mir eine europäische Lösung. Aber man muss kein Politikberater sein, um zu erkennen, dass es in den nächsten 6 Monaten keine europäische Lösung geben wird. Wer also eine vermeintliche europäische Lösung vorschiebt, um nichts zu tun, handelt fahrlässig und macht sich mitschuldig am Elend auf den griechischen Inseln.

Geld für die Oma!

Ein anderes Argument lautet oft: Erstmal sollen wir das Geld für unsere {hier bitte Investitionslücke im Sozialsystem einfügen} ausgeben! Warum das Unfug ist? Dass in Deutschland Menschen hungern, sich die Miete nicht leisten können und eine Rente unterhalb des Existenzminimums bekommen, hat eine ganze Menge Gründe. Viele davon liegen in der ungerechten Verteilung von Vermögen, einem völlig verfahrenen Sozialsystem, Hartz4, Steuerhinterziehung, fehlender Reichenbesteuerung und nicht zuletzt der schwarzen Null der GroKo. An der Aufnahme von Geflüchteten liegt es aber ganz sicher nicht. Weder mussten nach der Aufnahme von Geflüchteten 2015 irgendwem die Renten gekürzt werden, noch wird das bei 4000 schutzsuchenden Kindern passieren.

Es ist bis jetzt nicht einmal vorgekommen, dass die Aufnahme von Geflüchteten irgendwem irgendwas weggenommen hat. Nicht in Deutschland, nicht in Europa. Dieses Argument ist also höchstens als schlechter Scherz zu gebrauchen, nicht aber für eine ernst gemeinte Diskussion. Vielmehr ist es ein Narrativ, den die AfD bewusst erzählt, um die Ärmsten Teile der Gesellschaft gegeneinander auszuspielen. Und seltsamerweise sind diejenigen, die sich in der Debatte um Geflüchtete immer um die Geldsorgen von Rentner*innen und Obdachlosen sorgen, im sonstigen gesellschaftlichen Diskurs um unser Sozialsystem entweder furchtbar still oder befürworten den Abbau des selben.

Wir können nicht der ganzen Welt helfen!

Das letzte Argument lautet oft: „Wir können nicht der ganzen Welt helfen!““. Das ist natürlich, an und für sich, richtig. Selbstverständlich kann Deutschland rein rechnerisch als vom Flächenverbrauch her nicht jedem einzelnen Mensch auf der gesamten Welt helfen. Der Fehler nur dabei ist: niemand hat das gefordert. Und was soll denn die Schlussfolgerung daraus sein? Weil wir nicht allen Menschen auf der ganzen Welt helfen können, helfen wir gar niemandem? Dass Deutschland selbstverständlich nicht jedem immer und überall helfen kann, ist absolut kein Argument dafür, die Hilfe auch da zu unterlassen, wo sie problemlos möglich wäre – vor Ort in Griechenland. Wir müssen stattdessen da helfen, wo es uns möglich ist und wo wir unserer Verantwortung gerecht werden können. Und die Familien in den griechischen Lagern sind ein Paradebeispiel für diese Möglichkeit.

Schlusswort

Wenn Deutschland mit knapp 81 Mio. Einwohnern und dem 4. größten BIP der Welt nicht in der Lage ist, 4000 geflüchteten Kindern Schutz vor Kälte, Hunger und dem Tod zu bieten, hat sich jede Diskussion über „Hochkultur“ erübrigt. An ihre Stelle tritt die hässliche Fratze einer völlig wohlstandsgesättigten Gesellschaft, die auf den Gräbern trampelt die sie diesen Menschen jeden Tag gräbt. Handelt einfach, Danke!

Artikelbild: Suzanne Tucker, shutterstock.com