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„Wer behauptet, wir lebten in einer DDR 2.0, hat keine Ahnung“

von | Okt 3, 2021 | Aktuelles

Heute ist der „Tag der deutschen Einheit“

Ich habe in den letzten Jahren gemerkt, wie sehr mich das Thema der Nachwendekinder beschäftigt. Wie sehr vielen Menschen in der ehemaligen DDR Unrecht getan wird, wenn man die neuen Bundesländer einfach als ein großes, braunes Loch abtut.

Mich interessieren die Geschichten derjenigen, die mit mir, aber in anderen Städten, groß geworden sind. Und ich wünsche mir, dass die DDR nicht wie eine Komödie wahrgenommen wird. Nicht wie in „Sonnenallee“ oder in „Goodbye Lenin.“ Die DDR war kein Comic. Sie hat Menschen für immer gebrochen. Sie hat Menschen getötet. Ein Staat mitten in Europa hat vor 30 Jahren Menschen getötet, die nicht in diesem Staat leben wollten. Die nicht seiner Meinung waren.

Die Gründe waren so oft so banal.

Wie oft habe ich in den letzten Monaten und Jahren gelesen, wir wären auf dem Weg in eine DDR 2.0 und unser Rechtsstaat operiere mit einer Stasi 2.0. Und das so oft auch von Menschen, die es besser wissen müssten, nämlich von Ostdeutschen.

Was das wirklich bedeuten würde, habe ich vor einigen Jahren in meiner Heimatstadt gesehen. Auf dem Weg vom Friedhof kamen wir an einem Schild vorbei, auf dem Folgendes stand: „Gedenkstätte Zuchthaus“. Ich wusste, dass es ein Gefängnis gab, dachte aber immer an richtige Schwerverbrecher. Was für Menschen dort inhaftiert wurden, möchte ich an drei Beispielen ganz kurz zeigen.

Margot Rothert

Margot hatte verwandtschaftliche Beziehungen in den Westen, trug westliche Mode, hörte Beat-Musik. Das allein hätte gereicht, um willkürlich Sanktionen gegen sie zu verhängen. Konkrete Fluchtpläne gab es nicht, aber sie erwähnte, schon gerne im Westen Deutschlands leben zu wollen. 1971 wurde sie nach der Arbeit verhaftet und verhört. Sie gab an, aus familiären, nicht aus politischen Gründen die DDR verlassen zu wollen. Sie kam nach ins Zuchthaus. Schwanger. Das Kind durfte sie draußen austragen, aber wurde danach zu 2 Jahren Haft verurteilt. Das Neugeborene (es war ihr drittes Kind) musste sie zur Adoption freigeben. Andernfalls würden ihr auch die anderen beiden Kinder weggenommen. Sie unterzeichnete die Papiere, benommen von der Geburt.

Fred Hohmann

Fred floh 1955 nach West-Berlin, nachdem er selbst gesehen hatte, dass Neonazi-Aufmärsche und obdachlose, hungernde Menschen DDR-Propaganda waren. Die Flucht glückte, allerdings schlief er eines gemütlichen Abends in der S-Bahn auf dem Weg in das Notaufnahmelager ein und wurde im DDR-Gebiet von der Volkspolizei geweckt und verhaftet. Sie vermuteten in ihm einen Agenten. Er unterschrieb ein erfundenes Geständnis und wurde verurteilt. 6 Jahre. Er kam ins Zuchthaus, seine Familie erfuhr erst 5 Monate später, wo er war. Er kam in eine Einzelzelle. Mit 5 Gefangenen. Ohne fließend Wasser und ohne Toilette.

Riesaer Petition

Die „Riesaer Petition zur vollen Erlangung der Menschenrechte“ vom 10. Juli 1976 ist der bis dahin größte Zusammenschluss von Regimegegnern in der DDR seit dem 17. Juni 1953.

79 Menschen schlossen sich zusammen, unterzeichneten die Petition, in der sie eine Einhaltung der Menschenrechte in der DDR forderten. Für die Unterzeichner hatte das schlimme Folgen: Sie wurden überwacht, inhaftiert, verloren ihre Arbeit und wurden schikaniert.

Beispiele wie die beschriebenen gab es zuhauf. Wir reden nicht von Mördern oder Schwerverbrechen im heutigen Sinne. Es sind Menschen gewesen, die dem Staat DDR nicht passten, unbequem wurden.

Ich habe allerdings, wie wir alle, noch die Ereignisse in Chemnitz 2018 vor Augen und frage mich: Was habt ihr mit mir zu tun? Was ich mit euch?

(Zitat aus einem der beste Texte der letzten Jahre: https://taz.de/Jugendliche-in-Ostdeutschland/!5536453/)

Ich war auf Demos dabei. Keine Ahnung, worum es da ging.

Es eine Menge Bücher, die sowohl von Wende- und Nachwendekindern als auch von deren Elterngeneration mit dem Ziel geschrieben wurden, die persönlichen Geschichten und damit die bis heute andauernde gesellschaftliche Entwicklung nachzuerzählen.

Das Leben in der DDR war genauso geprägt von Schicksalen wie das Leben in der BRD. Natürlich. Nur heimlicher, verschwiegener. Ich bin aber zu jung, um dazu etwas sagen zu können. Ich bin aber nicht zu jung, um meine Jugend zu beschreiben und vor allem bin ich nicht zu jung, um einerseits zu versuchen, die Menschen im Osten zu erklären, aber andererseits auch dafür zu verachten, Rechtsextreme und Faschisten zu wählen.

Zur Zeit der Wende ging ich in die 4. oder 5. Klasse. Ich begriff nicht, was passiert, spürte aber, dass es was Besonderes gewesen sein muss. Ich war auf Demos dabei. Keine Ahnung, worum es da ging. Im Nachhinein: Stellt euch vor, die Führung der Polizei oder des Staates hätten durchgegriffen. Nicht auszumalen, was das für eine Tragödie hätte werden können. In dieser Sekunde waren sie wenigstens einmal Helden. Ziemlich egal, ob aus Hilflosigkeit oder aus Menschlichkeit.

Die Regale wurden voller. Es gab nun die Schokolade zu kaufen

Gegenüber meiner Schule, der sogenannten Polytechnischen Oberschule (POS) „Ernst-Thälmann“, die dann „7. Grundschule“ hieß, wurde aus der „Kaufhalle“ ein „Supermarkt“. „Plus“ hieß der damals.

Wir haben uns da Fanta und Cola in Dosen gekauft. Die Regale wurden voller. Es gab nun die Schokolade zu kaufen, die sonst bei meinem Opa immer in Paketen ankam. Er hatte Geschwister im Westen. Andere Süßigkeiten, wie die „Knusperflocken“ verschwanden dafür für Jahre aus dem Sortiment. Was ich nicht begriffen habe, war, dass ich nun die Ware auf ein Kassenband legen und selbst wieder in den Wagen packen musste. Früher standen sich immer zwei Einkaufswagen gegenüber und die Kassiererin packte alles von einem in den anderen.

Ich kam dann auf das Gymnasium. Und an meinem ersten Schultag sah ich zwei ältere Mitschüler. Aktenkoffer, grüne Bomberjacke, hochgekrempelte Jeans, Springerstiefel, und ein rotes Tuch war da festgeknotet, wo der Gürtel durchgezogen wird. Das war 1992. Woher kannten die das? Und ganz ehrlich: Sie machten mir Angst.

Baseballschlägerjahre

Es gab auch immer wieder Gerüchte, dass Neonazi-Skinheadbanden in Schulen kamen und Schüler im Unterricht verprügelten. Ich habe oft aus dem Fenster Ausschau gehalten. Aber es blieb bei Gerüchten.

Keine Gerüchte hingegen waren die Übergriffe an Baggerseen oder in Wohngebieten oder in Jugendclubs. Baseballschläger gehörten zum Inventar einiger Autos, die neben so vielen gefahren sind, während sie nach Hause radelten. Aber ein Aufschrei in der Stadt? Fehlanzeige. Das waren „Prügeleien“. Neonazis gegen Gymnasiasten. Neonazis gegen Linke. Neonazis gegen Hip-Hopper. Was man eben als Jugendlicher so macht.

Aber wo kamen die Neo-Nazis überhaupt her? Gute Frage. In der DDR gab es offiziell ja keine. Die waren alle im Westen. Und ein richtiger Aufschrei der Zivilgesellschaft? Eine Lichterkette mal hier, mal dort. Gefährlich wurde es hingegen für die Initiativen, die gegen Neonazis aufstanden. Aber an so eine richtige Unterstützung aus der Politik erinnere ich mich nicht.

Auch als ich älter wurde: Neonazis waren da

Man lebte halt mit ihnen, kümmerte sich aber mehr um das eigene Leben. Niemand von den Älteren, von der Elterngeneration, würde sich zu den Neonazis zugehörig fühlen. Aber ja, Ausländer, die kriminell sind, haben hier nichts verloren. Müssen sich benehmen. So wie wir auch. Aber rechtsextrem? Nein, wir nicht. Das sind die mit den Springerstiefeln und mit den Bomberjacken. Wir haben ganz andere Sorgen: Arbeit, Zukunft. Und Vergangenheit. Achja, und Kinder. Was machen die eigentlich gerade?

Vermutlich hat fast jeder Jugendliche mal nach der Wende Nazimusik auf Kassetten gehört. Das war verboten. Das war auf dem Index. Und vor allem, hatte man zuvor noch niemals so etwas Abstoßendes gehört.

Auf dem Gymnasium gab es später kaum noch Neonazis, wir waren eher links, hatten große armeeähnliche Rucksäcke, dunkelblaue bzw. schwarze Tücher an der Hose. Hörten Nirvana, Slime, …But Alive, Tocotronic, Gundermann. Viel Gundermann. Auch die Onkelz. Aber nicht lange.

Die Skins waren ja aber noch da. Die waren nie weg

Ich hatte oft einfach Glück, andere hatten das nicht. Das Bewusstsein dafür, dass wir ein Problem mit diesen Rechtsextremen hatten, war nicht in der Öffentlichkeit ausgeprägt. Nazis sind die anderen. Diejenigen, die Ausländer jagen und verprügeln und „Ausländer raus“ rufen.  Die Judenwitze oder N-Witze in der gemütlichen familiären oder freundschaftlichen Feierrunde sind ja nur Witze. „Ich bin doch deswegen nicht rechtsextrem!“

Das Verarbeiten des Erlebten, der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, der Zeit nach der DDR-Diktatur, fängt erst jetzt langsam an. Erst jetzt nach den Erfolgen der AfD im Osten fragen sich viele Menschen (und erst recht im Osten), was da in den letzten Jahren passiert ist. Die Antworten sind so vielfältig und wurden vermutlich schon oft irgendwo in irgendwelchen Artikeln oder Kommentaren von allen erläutert.

Was aber bisher fehlte: Persönliches. Nicht die allgemeinen Analysen über geschlossene Betriebe und übergestülpte Marktwirtschaft und „überhebliche Wessis“ und „naive Ossis“. Die Geschichten von einzelnen. Um Ballast loszuwerden und wieder freier atmen zu können.

„Ich bin doch deswegen nicht rechtsextrem!“

Ich weiß, das Thema der DDR ist an einem Tag wie heute ziemlich einseitig und in meinem Text auch sehr persönlich. Aber ich wünsche mir, dass wir es schaffen, ohne „Mauer wieder aufbauen!“ zu rufen, miteinander noch mehr und vor allem differenzierter ins Gespräch zu kommen. Den Osten auf den „braunen Sumpf“ zu reduzieren, wird nicht helfen. Das ist zu einfach und gleichzeitig ist vieles daran richtig.

Wir feiern heute den Tag der Deutschen Einheit. Wer behauptet, wir lebten in einer DDR 2.0, hat keine Ahnung. Die Vergangenheit wird von zu vielen verklärt und schöngeredet. Ja, ja, nicht alles war schlecht, aber was wir heute an Freiheit erleben, ist ein Geschenk, das wir uns alle in den letzten Jahrzehnten hart erkämpft haben.

Artikelbilder: Alex Urban

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