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Eingestellte Mietzahlungen: Warum die Empörung über Adidas & Co gerechtfertigt ist

von | Mrz 31, 2020 | Aktuelles, Kommentar

Adidas, Deichmann, Opportunität und Moral – Wieso der „Kampf der Millionäre“ auch die Gesellschaft etwas angeht.

Die Corona-Krise zeichnet auf den ersten Blick merkwürdige neue Frontlinien durch die Gesellschaft. In den sozialen Medien können sich wohlhabende Immobilienunternehmen neuerdings über einer beherzten Unterstützungswelle aus unerwarteter Richtung freuen: Das sonst eher nicht der Millionärsliebe verdächtige links-mittige Spektrum der Gesellschaft empört sich stark über ausbleibende Mietzahlungen (Offiziell: Stundung) von Adidas, H&M, Deichmann und Co..

Obwohl die betroffenen Konzerne sich dem öffentlichen Druck gebeugt haben und mittlerweile zurückruderten [Quelle, Quelle], hat sich in den Kommentarspalten und Diskussionsforen der Republik bereits eine Gegenbewegung aufgestellt. Diese Gegenbewegung verwendet im Wesentlichen folgende Argumente:

1. Auch bei Adidas, Deichmann und Co. sei die Lage angespannt – unter dem Strich drohe Arbeitsplatzverlust (ein in der deutschen Debatte geradezu magisches Wort).
2. Obwohl die Gesetzeslage sicherlich vor allem Kleinunternehmer*innen im Fokus geführt hätte, so seien die Handlungen der Großkonzerne in diesem Fall legal und damit nicht zu beanstanden.
3. Wieso interessiert das überhaupt den sprichwörtlichen „kleinen Mann“, wenn Milliardenkonzern A weniger Geld zu Immobilienholding B schiebt?

Ja – wieso eigentlich?

Tatsächlich zeichnet diese kleine Episode mitten in der großen Krise einen gewissen Frontenverlauf in der Gesellschaft nach. Damit ist aber nicht die vermeintliche „Allianz“ zwischen der empörten Gesellschaft und den großen Immobilienunternehmen gemeint – die ist rein konstruiert. In Wirklichkeit geht es um einen völlig anderen Aspekt: Gerechtigkeit und Solidarität.

Es passt in den Rahmen der Debatte, dass ein Teil der Gesellschaft diese Begriffe einfach nur noch auf Finanzmittel bezieht: Wo die Gesellschaft nicht finanziell geschädigt worden sei, sei sie folglich überhaupt nicht geschädigt worden. Alle Empörung also umsonst? Nein. Denn hier geht es um mehr.

Um herauszustellen, auf welche Weise die Handlungen der „Großmieter“ in diesem Kontext durchaus als „verwerflich“ gelten können, ist eine weitere Differenzierung notwendig:

Auf dem oberen „Level der Verwerflichkeit“ steht das Manöver von Deichmann und Co., die nicht nur einfach ihre Zahlungen stundeten, sondern gleichzeitig (vergeblich) versuchten, den Staat und Steuerzahler zum Ausgleich der durch die Ladenschließung bedingten Mietschäden zu bewegen (Zitat: „Wir erwarten von den politischen Verantwortlichen, dass die durch die Zwangsschließungen entstehenden Mietschäden für die beteiligten Vertragsparteien ersetzt werden.“ [Quelle])

Schließlich trage der Staat (nicht etwa das Virus) die Verantwortung für die geschlossenen Läden. Man fragt sich unwillkürlich, ob Deichmann tatsächlich lieber mitten in einer Pandemie in Massenläden Schuhe verkaufen möchte, aber wir bleiben in diesem Fall lieber bei der Stundung: Hier hat ein Konzern mit einer stattlichen Unternehmensbilanz [Quelle] versucht, zusätzliche Mittel aus der Staatskasse zu mobilisieren. Deichmann ist in diesem Sinne ein Beispiel für Argument Nummer 1 und 2. Es ist schwierig zu spekulieren, wie stark Deichmann tatsächlich von der Krise betroffen ist, denn das Unternehmen macht keine Angaben zu seinem Gewinn.

Deichmann

Dennoch fällt es den Menschen auf der Straße nachvollziehbarer Weise sehr schwer zu glauben, dass der größte Schuhhersteller Europas, mit dem stattlichen Umsatz von 5.8 Milliarden Euro (2018) [Quelle], tatsächlich nur etwa ein- bis zwei Monate Umsatzeinbruch vor dem Bankrott steht. Nicht nur steht hier die Vermutung nahe, dass jemand aus Kapitalinteresse seine Rolle etwas kleiner spielt, als sie tatsächlich ist (der Autor erinnert sich an zahlreiche Unternehmen, die vor der Einführung des Mindestlohns ihre „sichere Pleite“ prophezeiten, sich aber heute allesamt bester finanzieller Gesundheit erfreuten – Im Bürgerlich-Liberalen Lager ist man heute noch überrascht, dass man auch in den Chefetagen der Konzerne das Konzept des „Bluffens“ kennt). Auch muss diese Rechtfertigung wohl zynisch für jede*n Kleinhändler*in klingen.

Denn wenn Deichmann schon Schwierigkeiten hat, seine Miete zu zahlen – wie muss es dann erst dem Inhabergeführten Schuhladen in der Einkaufszeile nebenan gehen, der sich seit Jahrzehnten gegen die strukturellen Angriffe seines großen Konkurrenten zur Wehr setzen muss, während ihm oft (im Gegensatz zu Deichmann) nicht einmal die Kompensation durch einen flächigen Onlinehandel zur Verfügung steht? Wie muss sich das wohl für diese Menschen anfühlen, wenn diese Konzerne sich an ein Gesetz dranhängen, das ursprünglich zu ihrem Schutz designed wurde?

Adidas und Co.

Auf einem etwas niedrigeren „Level der Verwerflichkeit“ operierten Adidas und Co., indem zwar ebenfalls die Mietzahlungen ausgesetzt wurden, aber immerhin keine Forderungen nach Ausgleich an den Staat gestellt wurden. Gibt es hier überhaupt ein Opfer? Kann es einem einfachen Menschen nicht wirklich egal sein, dass Millionäre sich streiten, zumal Adidas beispielsweise schon ankündigte, Privatvermieter weiterhin zu bedienen?

Hier muss man verstehen, dass „Gerechtigkeit“ und „Solidarität“ Begriffe sind, die auf einer gesamten gesellschaftlichen Ebene definiert und gelebt werden. Es geht dabei gar nicht immer darum, ob man selbst akut geschädigt wird, oder nicht. Es geht um Projektionen. Auf der liberalen Seite nennt man das „Neiddebatte“, aber berechtigterweise könnte man es eher als moralisches motiviertes Miteinander betrachten. Ein überzeichnetes Illustrationsbeispiel:

Lastwagenfahrer Karl steht am Kassenband eines großen Discounters. Der Kassierer teilt ihm mit: „Heute gratis, Unterstützung in der Corona-Krise“. Plötzlich fährt ein Porsche vor. Eine Person in maßgeschneiderten Anzug und teuren Accessoires steigt aus, legt seine Einkäufe aufs Band, bezahlt nicht und wirft über die Sonnenbrille einen Blick zurück: „Harte Zeiten für uns alle, nech?“.

Wie muss dieses Verhalten wirken?

Wie wirkt dieses Verhalten auf Menschen mit niedrigen Einkommen, auf Menschen mit akuter Existenznot? Und wie muss es wirken? Eben: Wie eine Anmaßung. Hier casten sich Menschen in Rollen, die ihnen nicht zustehen. Obwohl die Personen dadurch finanziell nicht geschädigt werden, so nimmt sich der gutsituierte Mensch eine Solidarität, die er gar nicht braucht – und entwertet sie, persifliert sie sogar ein Stück weit.

Nun wird gerne herangeführt, dass eben jede Person, jedes Unternehmen – ob groß oder klein – seinen Vorteil suche, das sei doch ganz selbstverständlich (s. Argument Nummer 2). Nein, auf der Ebene der gesellschaftlichen Solidarität ist dies eben nicht selbstverständlich, sondern hier handelt es sich sogar um die Antithese zu einem solidarischen Gemeinwesen. Wenn sich in der deutschen Bürgerlichkeit auch der Duktus ausgebreitet hat, dass „legal“ das gleiche sei wie „moralisch richtig“ (Was nicht illegal ist, könne folglich auch nicht moralisch verwerflich sein), so gilt aber auch:

Beim Spielen mag niemand diese eine Person, die mit kaputtgebogenen Regelinterpretationen stets den Geist des Spieles verletzt, weil der Hersteller die Anleitung ungenau abgefasst hat. Es spielt auch keine Rolle, ob man selbst gerade mitspielt oder nicht: Schon das zu beobachten tut weh, verletzt unseren inneren moralischen Kompass. Und schließlich wissen wir alle: Eines Tages spielt man vielleicht doch mal mit der Person.

Heil ist „stinksauer“

Und deshalb ist es nicht egal, dass Großkonzerne hier auf einen Zug aufspringen, den die Regierung zur Unterstützung von Kleinunternehmertum aufgesetzt hat. Es ist nicht egal, dass der Gesellschaft und ihren akut existenzbedrohten Akteur*innen auf diese Weise wieder vor Augen geführt wird, dass die großen, die mächtigen Akteur*innen sich nicht um den „Geist“ von Gesetzen kümmern, sondern hauptsächlich Cashflow, Bilanzen und Aktionäre im Sinn haben. Selbst wenn dabei kein akuter finanzieller Schaden für die Gesellschaft entsteht – wenn bei der nächsten Abwägung „Cashflow und Bilanzen“ dann tatsächlich besagter Cashflow gegen „Verantwortung für die Gesellschaft“ stehen, so lässt dieses Verhalten schlechtes für diese Entscheidung erahnen.

Und deshalb gibt es bei diesen Vorgängen Empörung. Wenn wir nicht mehr verstehen, wieso das so ist, so haben wir vielleicht als politische Gesellschaft begonnen, den Kontakt zur „bodennahen“ Interpretation der Solidarität zu verlieren.

Und so liegt schlussendlich Minister Hubertus Heil völlig richtig [Quelle], wenn er „stinksauer“ wird und den „Bluff“ der Konzerne callt. Denn Solidarität bedeutet: „Wer braucht, der nimmt“, und eben nicht „wer kann, der nimmt“. Das sollten wir auch und vor allem während der Corona-Krise nicht vergessen.



Unser Autor möchte anonym bleiben. Artikelbild: pixabay.com, CC0