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Das gewollte Sterben: Die europäische Mordmaschine Mittelmeer

von | Jul 25, 2020 | Aktuelles, Kommentar

Mordmaschine Mittelmeer

Der Philosoph Achille Mbembe beschreibt in seinem Werk „Necropolitics“ aus dem Jahr 2003, dass Politik nicht nur darüber entscheidet wie wir zusammen leben, sondern auch wer überhaupt leben darf und wer sterben muss.

Ein grausames Beispiel für „Necropolitics“ lässt sich jeden Tag an der Grenze zwischen Mexiko und den USA beobachten. Seit den frühen Neunzigern verfolgt die amerikanische Regierung dort das Prinzip der „Prevention Through Deterrence“, also der „Vorbeugung durch Abschreckung“. Diese nichts sagende Bezeichnung steht für eine Strategie, bei der die Wüste zwischen den USA und Mexiko gezielt als Mordmaschine eingesetzt wird (Quelle).

Eine Maschine, die so effizient arbeitet, dass sie jährlich tausende Menschenleben fordert und nichts von ihren Opfern übrig lässt, außer Knochensplitter, Kleiderfetzen und leere Wasserflaschen. Der amerikanische Anthropologe Jason de León veröffentlichte 2015 das Buch „Land of Open Graves“, in dem er (ausgehend von diesen menschlichen Überresten) die Zustände an der Grenze zwischen Mexiko und den USA beschreibt. Er wollte herausfinden, was genau mit den tausenden Menschen geschieht, die jedes Jahr fast spurlos in der Sonora-Wüste verschwinden.

Nur Knochen bleiben übrig

Zu diesem Zweck tötete De León ein Schwein, zog ihm Kleider an und legte es, überwacht durch Kameras, in der Wüste ab. Anschließend beobachtete er, wie nach wenigen Tagen Aasgeier über den Kadaver kreisten und sich zunächst vorsichtig näherten, um nach Fleisch zu picken. Mit fortschreitender Verwesung kreisten immer mehr Geier um den Kadaver und kämpften schließlich um jedes Stück Fleisch. Nach nicht einmal zwei Wochen war von dem Kadaver nichts übrig außer Knochensplitter und Kleiderfetzen, die in einem Radius von hunderten Metern um den Ablageort verteilt lagen.

De León untersuchte weiter, wie es überhaupt möglich ist, dass jedes Jahr tausende Menschen diesen schrecklichen Tod finden und kommt zu dem Schluss, dass die beteiligten menschlichen Akteure sich jeder Verantwortung entziehen. Schließlich erledigt die Wüste mit ihrer Hitze, dem unwegsamen Gelände und den hungrigen Tieren die Drecksarbeit. Was kann der Mensch schon für die wilde rücksichtslose Natur? Sehr viel! Der Mensch hat diese Mordmaschine zwar nicht erfunden aber er hat sie zusammengebaut und in Bewegung versetzt.

1997 startete die Border Patrol „Operation Blockade“, die darin bestand, ständig in sämtliche leicht zugänglichen Bereiche der Sonora-Wüste zu patrouillieren. Dadurch sollte ein „taktischer Vorteil“ entstehen, der seither Menschen zwingt, auf Klippen und Schluchten auszuweichen und somit enorme Umwege zu gehen. Dass Menschen dabei sterben wird hierbei bewusst in Kauf genommen. Ein Sturz oder eine leere Wasserflasche werden in menschenfeindlicher Umgebung leicht zum sicheren Todesurteil. Kurz darauf übernehmen Aasgeier und zerstreuen alle Beweise.

Im mittelmeer verschwinden unsere Todesopfer ohne spur

Jetzt könnten wir Europäer aus sicherer Entfernung vorwurfsvoll den Kopf schütteln und dabei leicht ignorieren, dass etwas Vergleichbares seit Jahren in unserem Vorgarten geschieht. Auch die Europäische Union hat ihre persönliche Mordmaschine, die sogar noch leiser und effizienter arbeitet als die amerikanische Version. Wir nennen sie Mittelmeer und niemand weiß, wie viele Menschen sie jedes Jahr rückstandslos verschlingt. Anders als Aasgeier, löst Salzwasser Leichen nämlich komplett auf. Sogar Kleidung und Knochen (Quelle).

Auch hier kann sich jeder menschliche Akteur aus der Verantwortung stehlen. „Die müssen sich ja nicht ins Boot setzen!“, ruft der privilegierte Europäer und hat keine Ahnung, wie sich ein Leben unter Todesangst, Verfolgung und Hunger wohl anfühlen mag. Oder unter Bomben, die jede mögliche Zukunft zersprengen. Überfluss macht blind. „Was können wir denn für die Schlepperei?“, fragt der Europäer. Sehr viel! Auch wir haben unsere Gesetze, die auf den ersten Blick harmlos erscheinen aber tatsächlich als antreibende Zahnräder unserer Mordmaschine fungieren.

Eines dieser Gesetze nennt sich „EU-Richtlinie 2001/51/EG“. Es regelt, dass Fluggesellschaften die Rückreisekosten eines Passagiers übernehmen müssen, wenn er oder sie im Zielland abgewiesen wird (Quelle). Da wollen Fluggesellschaften natürlich kein Risiko eingehen. Das könnte ja Geld kosten. Sicher über den Wolken reisen darf nur, wer privilegiert ist.

Um überhaupt abgewiesen werden zu können, müssen diese Menschen ihr Leben riskieren

Wer abgewiesen werden könnte, weil er oder sie keinen Asylstatus hat (der sich natürlich nur auf europäischem Boden beantragen lässt), muss sich eben in eine seeuntaugliche Nussschale zwängen. Umgeben von Wasser, das tötet, wenn man es trinkt oder in ihm ertrinkt. Was können wir schon für die hohen Wellen?

Wie wir dazu gebracht werden, uns über Flüchtlinge und Hartz-4-Empfänger aufzuregen

Nicht nur das. Rettungsversuche von Menschen, die nicht einfach so wegsehen können, werden enorm erschwert oder sogar unmöglich gemacht. Wo wäre da denn die Abschreckung, wenn man vor dem Tod gerettet würde? Das wäre ja noch schöner. Es reicht der EU nicht, Menschen vor einem sicheren Leben in Europa abzuschrecken, ihre Retter müssen mit abgeschreckt werden. Durch Gerichtsprozesse, Festnahmen, Geld- und Haftstrafen etc.

Wer es trotz aller widrigen Umstände doch irgendwie auf europäischen Boden schafft, muss mit etwas „Pech“ Monate oder Jahre in einem der zahlreichen katastrophal überfüllten „Camps“, auf den Asylbescheid warten. Oder findet sich wieder in einer Gesellschaft, die sie oder ihn ablehnt, hasst und mit Gewalt bedroht, vor der sie eigentlich geflohen sind. Das ist unsere „Vorbeugung durch Abschreckung“.

Würden wir Menschen in unerträglich heiße Käfige sperren und von Aasgeiern oder Salzwasser zerfressen lassen, dann würde jedem die Barbarei ins Auge springen. Befinden sich zwischen dem Täter und dem Opfer aber hunderte Kilometer Wüste, Meer und unübersichtliche Gesetze, die jede Verantwortlichkeit zerstreuen, dann ist es verlockend, diese Grausamkeiten zu ignorieren und jede Schuld von sich zu weisen. Dabei tragen wir alle eine Mitschuld, solange wir schweigen und nichts unternehmen, um die Mordmaschine Mittelmeer endlich lahmzulegen.

So könnt ihr helfen:

https://seebruecke.org/spenden/
https://sea-watch.org/spenden/
https://mission-lifeline.de/spenden/
https://spenden.seenotretter.de
https://aktion-deutschland-hilft.de/de/hilfseinsaetze/seenotrettung-mittelmeer/

Und das neue Drohnenprojekt „Searchwing“, das enorm vereinfachen soll, Schiffbrüchige zu finden, das auch noch Unterstützung braucht: Hier entlang.

Auch gibt es für begrenzte Zeit eine Soli-Aktion in unserem Shop: Pro verkauftem Shirt spenden wir je 2,- EUR an Mission Lifeline und die Aktion Seebrücke (Damen, Herren):

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Gastbeitrag von „Nazifresser“, Artikelbild: Mit freundlicher Genehmigung von Erik Marquardt


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