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Für Gauland ist das dritte Reich ein „Vogelschiss“, aber Flüchtende angeblich so schrecklich?

von | Jun 4, 2018 | Serie

12 Jahre sind nicht lang. Reichen aber, um 65 Millionen Menschenleben auszulöschen

Alexander Gauland meinte vor einigen Tagen: „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte.“ Seine Anhänger meinen, die Rede müsse im Zusammenhang gelesen werden. In Ordnung, dann fügen wir mal einige Teile hinzu:

„Ja, wir bekennen uns zur Verantwortung für die zwölf Jahre“

„Wir haben eine ruhmreiche Geschichte – und die, liebe Freunde, dauerte länger als die verdammten zwölf Jahre.“

Dann wollen wir mal. Zunächst ist festzustellen, dass Herr Gauland natürlich Recht hat: 12 Jahre sind ein sehr kurzer Zeitraum. 2006 jubelten wir alle zum Sommermärchen und waren stolz darauf, wie wir Deutschen uns der Welt präsentierten. Wir durften wieder Fahnen schwenken und die Nationalhymne stolz singen. Das ist jetzt 12 Jahre her. Kommt einem anders vor, oder? Und irgendwie ist in diesen 12 Jahren gar nicht so viel passiert, gefühlt. Klar, wir hatten 2015 und die Ereignisse rund um den Bahnhof in Budapest und die daraus folgende sogenannte Migrations- oder Flüchtlingskrise.

12 Jahre sind 1,2% von 1000 Jahren. Das ist echt wenig. Aber es reicht, um ca. 65 Millionen Menschenleben auszulöschen.

Das entspricht 5.416.666 Menschenleben pro Jahr, und selbst das in beschönigt, denn der zweite Weltkrieg dauerte bekanntermaßen „nur“ 6 Jahre. Das verdoppelt quasi die Zahl der Opfer pro Jahr. Wann gab es das mal in den 1000 Jahren? Wann gab es das mal in der Geschichte der Menschheit?

Herr Gauland, wie wäre es, die 12 Jahre mal zu gewichten und danach in die 1000 Jahre Deutschland einzusortieren? Damit hätten wir zunächst mal die nackten Zahlen. Ich bin kein Historiker, aber selbst ich weiß, dass die Auswirkungen dieser 12 Jahre immer noch wirken.

In der Konferenz von Jalta wurde der Grundstein für den Kalten Krieg gelegt, die Einteilung in Ost und West beschlossen. Einige der Ossis, die nun Gauland vermutlich verteidigen, werden an anderer Stelle darüber meckern, dass sie Verlierer der Wende waren bzw. sind. Einige der Wessis, die nun Gauland vermutlich verteidigen, werden an anderer Stelle darüber meckern, dass sie die Ossis mit ihrem Soli durchschleppen müssen, und dann wiederum kein Geld für ihre Straßen und Schulen übrig ist. War das ein „Vogelschiss“?

Verharmlosung der NS-Zeit

Im Zuge der Neuordnung von Grenzlinien (z.B. auf der Potsdamer Konferenz) mussten Millionen Menschen ihre Heimat verlassen. Plünderungen, Massenverhaftungen, sexuelle Übergriffe, meine Güte, das sind alles Folgen dieser 12 Jahre. Und da habe ich nur mal ganz grob durch Wikipedia geblättert. Ich kann hier nicht hunderte oder gar tausende Fachpublikationen rund um diese 12 Jahre zitieren, aber wie kann man denn diesen Zeitraum so klein reden und als nur 1,2% auf einer Zeitachse bezeichnen?

Sicher ist der Rahmen hier zu klein, um auch noch die „1000 Jahre“, auseinander zu nehmen, und die Frage, ob die deutsche Geschichte tatsächlich so alt ist, dass Teile des heutigen Frankreichs, Polens, Tschechiens, Österreichs oder des ehemaligen Jugoslawiens in der historischen Betrachtung Deutschlands bzw. der damit verbundenen tausendjährigen Erfolgsgeschichte eine Rolle spielen sollten.

Und dann geht’s ja weiter: War die DDR so ein Erfolg? Der Erste Weltkrieg? Pest? Mittelalter? Ach, Herr Gauland…

Artikelbild: pixabay.com, CC0