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„Vollende die Wende“: Warum das Gerede von „Wende 2.0“ Blödsinn ist

von | Aug 21, 2019 | Aktuelles, Kommentar

In Brandenburg hängen AfD-Wahlplakate:

„Wende 2.0“

 

„Vollende die Wende“

 

 

„Die „friedliche Revolution“ mit dem Stimmzettel“

Spulen wir mal zurück in das Jahr 1989. Das Wendejahr. Wende 1.0 sozusagen. Die DDR implodierte, weil sie wirtschaftlich nicht mehr in der Lage war, zu überleben. Aber natürlich auch, weil sie politisch am Boden war. Die Menschen in der heute ehemaligen DDR gingen auf die Straße und begehrten friedlich auf. Was man dem damaligen Regime zu Gute halten muss: Es hätte viel schlimmer und nicht friedlich ausgehen können. Aber das wussten die Menschen in den vielen Städten nicht, als sie „Wir sind das Volk“ riefen und für Reisefreiheit demonstrierten. Der Mut, den es zur damaligen Zeit bedurfte, ist wirklich heldenhaft.

Denn damals war die DDR eine Diktatur. Was das bedeutete, habe ich vor einigen Monaten in meiner Heimatstadt gesehen, als ich die „Gedenkstätte Zuchthaus“ besuchte. Es gäbe unzählige weitere Beispiele, aber hier nur eine Geschichte, warum Menschen dort einsaßen:



Margot Rothert

Foto: Alex Urban

„Margot hatte verwandtschaftliche Beziehungen in den Westen, trug westliche Mode, hörte Beat-Musik. Das allein hätte gereicht, um willkürlich Sanktionen gegen sie zu verhängen. Konkrete Fluchtpläne gab es nicht, aber sie erwähnte, schon gerne im Westen Deutschlands leben zu wollen. 1971 wurde sie nach der Arbeit verhaftet und verhört. Sie gab an, aus familiären, nicht aus politischen Gründen die DDR verlassen zu wollen. Sie kam nach Cottbus ins Zuchthaus. Schwanger. Das Kind durfte sie draußen austragen, aber wurde danach zu 2 Jahren Haft verurteilt. Das Neugeborene (es war ihr drittes Kind) musste sie zur Adoption freigeben. Andernfalls würden ihr auch die anderen beiden Kinder weggenommen. Sie unterzeichnete die Papiere, benommen von der Geburt.“

Das also blühte Menschen in der DDR, wenn sie aufbegehrten. Und daher wollten sie eine Wende. Sie wollten aus der Diktatur in eine Demokratie.

Wende 2.0 1

Werden Regierungskritiker in Zuchthäuser gesteckt? Foto: Alex Urban

Wenn nun die im Westen aufgewachsenen und sozialisierten „Ost-Politiker“ Höcke, Kalbitz und Gauland eine „Wende 2.0“ fordern: Wovon reden sie? Aus welcher Diktatur wollen sie fliehen?

Wenn wir in Deutschland keine Meinungsfreiheit hätten, dann dürften weder Pegida noch andere Gruppierungen die „Alt-Parteien“ kritisieren, dann gäbe es keine taz, keine Junge Freiheit, aber vor allem kein PI-News, kein RT Deutsch und andere, die von „Volksverrätern“ und „Lügenpresse“ schwadronieren.

Das ist eigentlich absurd, das noch erklären zu müssen. Ich möchte mal sehen, wie in der DDR mit so einer Kritik umgegangen wäre. Von der Freiheit überhaupt die Chance zu haben gegen die Regierung und unter Schutz des Staates demonstrieren zu dürfen, rede ich da noch nicht mal. Ebenso davon, dass Parteien, die das System abschaffen wollen, zur freien Wahl stehen.

Wer in der DDR „Lügenpresse“ gerufen hätte, wäre im Zuchthaus gelandet

Das Groteske daran ist ja, dass ausgerechnet einige von denjenigen, die in der DDR 1.0 gelebt haben, so etwas wie „Wende 2.0“ von sich geben. Sie können froh sein, dass es Facebook vor 40 Jahren noch nicht gab, denn allein für solche regierungskritischen Behauptungen, wären sie wohl in einem Zuchthaus gelandet.

Dennoch scheint diese Menschen etwas umzutreiben, und ich kann nur vermuten, dass sie sich überrumpelt fühlten und nicht mit der Wucht, die folgen sollte, rechneten. Arbeitslosigkeit, geschlossene Produktionsstätten, dumme Ossi-Sprüche, ein wachsendes Minderwertigkeitsgefühl derjenigen, denen wieder von oben erklärt wurde, was sie anders und besser machen müssen.

Auf der anderen Seite bin ich es auch langsam leid, Menschen zu erklären, dass sie das unfassbare Glück hatten, in einem der schönsten und besten Länder der Welt geboren worden zu sein bzw. nun zu leben.

Wende 2.0 1

Eine echte Diktatur. Foto: Alex Urban

das Privileg, Deutscher zu sein

Ich bin nicht jemand, der zu Nationalstolz neigt, denn mir ist das Konzept der Nationen nicht ganz geheuer. Teile von Deutschland waren mal dänisch, mal polnisch, mal französisch und umgekehrt. Nationen entstanden in Folge von Kriegen, ausgehandelten territorialen Veränderungen, Hochzeiten von Königen und Königinnen, und wer weiß schon, ob nicht auch die eine oder andere verlorene Wette zu einer Vergrößerung oder Verkleinerung einer Nation führte. Es entstanden quasi Völker per Definition. Dass ich nun dem Deutschen Volk angehöre, ist super. Aber auf Grund meines Geburtsortes und möglichen anderen historischen Entwicklungen wäre es aber auch möglich, dass ich nun die polnische Staatsangehörigkeit hätte.

Wir alle haben nun aber mal das Privileg, Deutsche zu sein. Und genau deswegen werden wir (bzw. alle Menschen) von unserem Grundgesetz in unserer Würde und unserer Persönlichkeit geschützt. Wir sind in unserem Glauben und unserer Meinung frei. Dürfen, in bestimmten gesetzlichen Grenzen, tun, lassen und sagen, was wir wollen. Und selbst diese gesetzlichen Grenzen sind sinnvoll, schützen sie doch unsere Mitmenschen vor Schaden. Wie viele Staaten auf der Erde würden wohl gerne „Deutschland“ heißen?

Das Grundgesetz

Heribert Prantl nannte unser Grundgesetz in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung eine „bescheidene Verfassung. Sie entstand im zerbombten Deutschland, sie wurde auf zitterndem Boden geschrieben. Aber sie ist trotzdem oder gerade deswegen voller Hoffnung: auf ein besseres Deutschland, auf ein gutes Europa. Manchmal fragt man sich, woher die Mütter und Väter des Grundgesetzes diese Hoffnung nahmen; man bewundert sie dafür, wenn man selbst Trübsal blasen möchte, weil die Weltläufe zum Verzweifeln sind.“ (Quelle)

Mit alldem, was da auf den Wahlplakaten steht, werden diese Errungenschaften als etwas Negatives geframed, und dieses Framing ist historisch und vor allem inhaltlich absurd: Wir leben in keiner Diktatur und wir brauchen keine „Wende 2.0“ oder  „friedliche Revolution“!

Diese Erkenntnis ist eigentlich trivial, aber es scheint notwendig, mal die Bürgerrechtler*innen, die 1989 beteiligt waren, zu Wort kommen zu lassen. In einem offenen Brief der Robert-Havemann-Gesellschaft wehren sich Jan Josef Liefers und viele andere gegen das Framing und „Gegen den Missbrauch der Friedlichen Revolution 1989 im Wahlkampf“, lest hier mehr:

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Artikelbild: Alex Urban / Screenshot twitter.com