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Alles, was unserer Meinung widerspricht, ist rechts & Verschwörungstheorie!!

von | Apr 22, 2020 | Aktuelles, Corona, Kolumnen, Schwer verpetzt

Hey Verschwörungsideologen!

„Nur weil jemand etwas kritisch hinterfragt, ist er noch lange kein Verschwörungstheoretiker!“ oder „Ja genau, als ob es nie reale Verschwörungen gegeben hätte!“ schallt es uns seit vielen Tagen unter allen Artikeln entgegen. Als Blog, das sich zur Aufgabe gemacht hat, gegen Hass, Propaganda und Fake News vorzugehen, haben wir in den letzten Wochen enorm viel zu tun. Wirklich, ich schlafe seit Wochen nicht genug, weil ich jeden Tag aufstehen muss, um die neuesten Mythen und Narrative rund um Corona zu analysieren und mich anschreien und beleidigen zu lassen.

Nun, ich verstehe die Situation. Wir sind alle angespannt. Es ist beängstigend, ungewohnt, unheimlich. Nicht wenige haben psychische, finanzielle oder ganz andere Probleme. Wir alle wünschen uns so bald wie möglich wieder die Rückkehr zur Normalität. Doch die Realität ist leider viel beschissener: Das wird noch eine ganze Weile so gehen, bis eine kontrollierte Durchseuchung beziehungsweise eine Impfung fertig ist. Der „Tanz“, die ständige Anpassung mit Lockerungen und erneuten Maßnahmen, den wir hier erklärt haben (Link), zählt Monate, nicht Wochen. Ausführlicher haben wir das hier beschrieben:

Der beste Weg, wie wir Corona schlagen: Wir müssen zurück zu Phase 1

DAS WOLLEN SIE DIR VERSCHWEIGEN

Klar, hört keine*r gern. Und unser Gehirn funktioniert sehr oft auf eine sehr lustige Weise: Wir beurteilen Informationen nicht aufgrund dessen, wie gut recherchiert sie sind, welche Autorität sie verfasst hat, wie belastbar die Studien sind usw., sondern danach, für wie „realistisch“ wir sie halten. Dieses „Bauchgefühl“ mag oft nützlich sein, es wird aber oft unbewusst dadurch verzerrt, was wir gerne hätten, das stimmt. So kommt es leider oft dazu, dass wir uns gezielt die Informationen und Nachrichten herauspicken, die das bestätigen, was wir ohnehin schon glauben. Anstatt anders herum: Unsere Meinung zu etwas bilden, nachdem wir uns ausführlich darüber informiert haben.

So glauben wir alle irgendwelchen Unsinn, urban legends, Mythen, Fake News, was auch immer. Alle. Aber weil wegen der stressigen Situation der Corona-Krise viele Menschen gerne Stimmen hören wollten, die ihnen sagen, dass die Maßnahmen wieder gelockert werden können oder gar, dass das alles gar nicht notwendig ist, weil das Virus wahlweise gar nicht gefährlich sei oder sogar nur eine Erfindung, um irgendetwas durchzuführen, was derjenige jeweils schlecht findet, gibt es jetzt viel mehr Menschen, die anfälliger werden für Fake News und Verschwörungsmythen.

Ich habe vor einigen Tagen bereits darüber in diesem Artikel geschrieben, dass viele Menschen jetzt unseriösen Youtube-Kanälen Aufmerksamkeit schenken und Unsinns-Sharepics teilen, weil sie sich dadurch einreden können, sie müssten die Situation nicht ertragen, denn Corona ist Fake oder so. Es ist bequemer, als sich mit der harschen Realität zu konfrontieren. Meine Befürchtungen sind, dass das viele Menschen Stück für Stück für Propaganda sensibilisiert und letztlich in die rechtskonservative-alternative Szene überführen könnte.

Corona-Querfront: Einige deiner Freunde könnten demnächst Nazis werden

Was sind „Verschwörungstheoretiker“?

Dass wir in diesem Kontext regelmäßig über „Verschwörungstheoretiker*innen“ (Besser: Verschwörungsideolog*innen) und in der rechtsextremen Szene beliebte Denk- und Sprechmuster schreiben, ist deshalb kein Zufall. Gerade die rechtsextreme Szene hat gewohnheitsmäßig einfach das Gegenteil der Position eingenommen, die Wissenschaft und Expert*innen haben (würden sie ihnen zustimmen, würde sich ihre Daseinsberechtigung auflösen – und Verschwörungsmythen sind ein Geschäftsmodell). Über Verschwörungsmythen zu Bill Gates haben wir hier aufgeklärt:

Was SIE dir über Bill Gates, die WHO und Impfungen verschweigen!!

Und viele Menschen spotten unter unseren Beiträgen: „Kaum sagt man was, was nicht eurer Meinung entspricht, ist man Verschwörungstheoretiker!“ Nein, man ist Verschwörungsideologe, wenn man Verschwörungsmythen teilt. Und was viele nicht verstehen: Das hat weniger damit zu tun, ob und welche Fakten jetzt stimmen, sondern mit den Präsentationstechniken und Methoden. Es gibt reale Intrigen und verborgene Machenschaften. Aber diese hatten immer kurzfristige Perspektiven – und fliegen eigentlich immer schnell auf (Watergate, 20. Juli-Attentat uvm.)

Das macht nicht automatisch alles glaubwürdig, nur weil man ein ausgelutschtes „Cui bono?“ unter jeden Beitrag postet. Ein wesentlicher Hinweis: Je mehr Personen an der vermeintlichen Verschwörung beteiligt sind, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie nicht auffliegt. Historisch können auch Verschwörungen mit kleinen Gruppen nicht lange geheim gehalten werden. Nicht einmal Nixon – der damals mächtigste Mann der Welt – konnte Watergate lange geheim halten. Schauen wir uns ein paar red flags an:

Merkmale von Verschwörungsmythen

Ganz wichtig: Verschwörungsideolog*innen sind überzeugt davon, dass nichts aus Zufall entsteht. Es gibt keinen Zufall, beteiligte Akteur*innen machen nie Fehler und sind immer unter absoluter Kontrolle. Alles muss miteinander verbunden sein und nichts darf so einfach sein, wie es auf den ersten Blick scheint. Merkt euch dazu quasi das Gegenteil: Ockhams Rasiermesser. Im Grund heißt das: Glaube eher das, was auf den wenigsten Annahmen beruht und am wenigsten kompliziert ist. Komplexität geht auch mit Unwahrscheinlichkeit einher (Was nicht heißt, dass komplexere Zusammenhänge existieren – nur brauchst du dafür eben Beweise).

Man unterschätzt gewaltig, wie komplex Bürokratie und menschliches Verhalten ist. Verschwörungsideologien bedienen sich oft einer vereinfachten Weltanschauung, entweder gegen eine Minderheit (Juden beispielsweise) oder gegen eine Mehrheit bzw. die Eliten („Mainstreammedien“, Unternehmen, Regierungen). Verschwörungsmythen erzählen große Geschichten von mächtigen Netzwerken, die alles kontrollieren oder bestimmte Ereignisse extra so manipuliert haben, um alles mögliche zu erreichen. Viele verknüpfen beide Aspekte.

Cui bono?

Initial wird stets zuerst versucht, Skepsis zu erzeugen (statt Belege zu liefern). Also man fragt: Wem nützt es? Dabei denkt man jedoch rückwärts: Man guckt sich an, wer von einer Situation profitiert und schließt davon zurück, wer dafür verantwortlich sein müsste. Man glaubt damit aber auch, dass nie Zufälle oder Fehler passieren und das immer alles klappt, was die Verschwörer sich vorgenommen haben – utopisch. Man „belegt“ das ganze mit diversen Fotos, Zusammenhängen oder Quellen. Alle haben eins gemeinsam: Egal ob gefaked oder nicht, man startet mit einer Merkwürdigkeit. Dabei wird ein gewisser Aspekt besonders hervorgehoben und verzerrt dargestellt, dass der Eindruck entsteht, hier könne etwas nicht stimmen.

Oft liegt es daran, dass Dinge aus dem Kontext gerissen werden oder man Dinge hinzuerfindet. Wenn dann die Erzählung keinen Sinn mehr macht, wird das nicht als Beweis dafür gesehen, dass der Verschwörungsmythos falsch sein muss. Sondern ganz im Gegenteil: Alles, was merkwürdig erscheint und keinen Sinn ergibt, wird zum BEWEIS für die Verschwörung. Es ist ein Zeichen dafür, dass die Verschwörer*innen einen Fehler gemacht haben oder man ihnen so auf die Spur kommen könne. So lassen sich nur „Beweise“ finden. Man kann alles fälschen, neu interpretieren oder kontextualisieren, dass es für den Verschwörungstheoretiker Sinn macht. Ist ein „Beweis“ echt und belegt: Beleg für den Verschwörungsmythos. Wird ein VT-Video gelöscht, oder ergibt etwas keinen Sinn oder ist falsch: Noch mehr Beweise! Man merkt: Damit kann man praktisch an alles glauben, was man will.

Denkfehler & Tricks

Man benutzt verschiedene Taschenspielertricks: Man instrumentalisiert Zufälle für die eigene Agenda (es gibt ja angeblich keine Zufälle). Oder man glaubt gleichzeitig, dass ein großes, übermächtiges Verschwörer-Netzwerk existiert, aber auch, dass es überall nachlässig Beweise hinterlässt? Und man glaubt, sie würden jede Opposition unterdrücken und alle zum Schweigen bringen, aber gleichzeitig sind alle Verschwörungstheoretiker*innen gesund und munter und haben alle ihre Youtube-Kanäle und sammeln problemlos Spenden ein. Wird dann aber mal jemand aus anderen Gründen kurzzeitig in die Psychiatrie eingeliefert oder wird ein Youtube-Kanal gelöscht, aus welchen Gründen auch immer, ist das der Beweis, dass sie Recht hatten. Nach der Logik hätten sie immer Recht – und genau so funktioniert das.

Gleichzeitig wird auch alles relativiert: Man stellt ja „nur Fragen“ – und viele Verschwörungsmythen werden sarkastisch oder als Fragen formuliert. „Komisch, warum hat man wohl den Ausweis des Terroristen auf dem Bordstein gefunden?!“ – Durch dieses Framing wird jede andere (oder wahrscheinlichere) Erklärung wie: „Ja, kann er halt verloren haben?“ automatisch unglaubwürdig gemacht. Und man kann sich herausreden, dass man gar nichts behauptet hätte, sondern nur „kritisch“ sei. Aber wer kritisch ist und dann keine Erklärungen hören will, ist nicht wirklich kritisch.

Warum glauben Menschen Verschwörungsmythen?

Diese Mythen geben eine in sich geschlossene und zufriedenstellende Erklärung für die Situation und die Welt. Die Welt ist chaotisch, komplex und grausam – aber mit der Erzählung macht das alles endlich „Sinn“. In Krisen wie dieserzeit suchen die Menschen nach Erzählungen, die das alles für sie erklären. Sie schenken ihnen den Glauben darin, dass die Menschen etwas tun können und dass es Verantwortliche für die derzeitige Situation gibt. Sündenböcke sind immer gut. Man hat eine einfache Erklärung dafür, warum die Situation wie sie ist – und einen Ausweg.

Manche argumentieren, dass zurückgehende Religiosität derartige „Ersatzreligionen“ entstehen lässt, die universelle Erklärungen auf Fragen ermöglicht. Man findet Erklärungen auch für persönliche Rückschläge und kann sie externalisieren und rationalisieren. Und man fühlt sich als etwas besonderes: Man ist „aufgewacht“ und „aufgeklärt“ – im Gegensatz zu allen anderen. Man selbst habe die Welt verstanden und alle anderen sind „unkritisch“ und „naiv“. Dabei ist man selbst der- oder diejenige, der oder die vermeintlich alles hinterfragt – außer sich selbst. Und komische Sharepics mit roten Kreisen und krassen Behauptungen darauf.

Rechtsextremismus

Verschwörungsmythen haben wenig mit den bei ihnen beliebten Buzzwords wie „Skepsis“ und „Hinterfragen“ und „kritisch“ zu tun. Es sind Tricks, um sich selbst und andere davon zu überzeugen, man sei alle diese Dinge. Man baut sich so eigene Echokammern, in der kein Widerspruch existiert und glaubt umso fester daran. Wird man von normalen Menschen angesprochen/auf den Unsinn hingewiesen, führt das paradoxerweise oft auch dazu, dass man noch fester daran glaubt. Weil man sich mit dem Mythos identifiziert und es als Angriff auf sich selbst wahrnimmt – und psychologische Abwehrmechanismen greifen, um sich zu „schützen“.

Rechtsextremismus und Verschwörungsmythen sind nicht das gleiche, gehen aber oft Hand in Hand. Sie teilen die Elitenkritik und die Echokammern. Während Populismus auch ohne Verschwörungsmythen auskommen kann, nutzt Rechtsextremismus diesen sehr stark – eben weil auch die Realität nicht viel hergibt, um Rassismus und Faschismus zu rechtfertigen. Diskussionen mit gefestigten Verschwörungsideologen sind tatsächlich quasi sinnlos – sie haben ihre Zirkellogik bereits verfeinert und man kann sie nicht mit Logik erreichen. Denn ein Weltbild, das nicht auf Fakten beruht, kann man nicht mit Fakten verändern.

Bleibt skeptisch – aber wirklich

Deshalb ist es umso wichtiger, aufzuklären, bevor man in diesem Sumpf gesogen wird. Und das versuchen wir zu erreichen. Wenn wir Begriffe wie „Verschwörungsideologen“ verwenden, dann nicht als Totschlagargument, sondern als Warnung. Wichtig dafür: Echte Skepsis. Insbesondere dann, wenn man etwas hört, das man hören will. Es gibt dutzende Denkfehler und psychologische Tricks, wie man einfach alles behaupten und glauben kann. Wer andere effektiv aufklären möchte, dem haben wir hier einen Artikel verlinkt mit Tipps. Wichtig für alle: Bleibt wirklich skeptisch, denkt wirklich für euch selbst – und hinterfragt erst Recht diejenigen, die euch dazu aufrufen, alles mögliche zu hinterfragen.

Wie man am besten reagiert, wenn Freunde & Verwandte Corona-Fake News verbreiten

Und eine Sache noch: Pauschalisierungen. Wer einen Artikel oder eine Studie teilt, die suggeriert, dass Corona vielleicht doch harmloser ist als gedacht oder Maßnahmen gelockert werden können, ist nicht (automatisch) ein Verschwörungsideologe. Er muss nicht mal Fake News verbreiten. Es kommt halt drauf an, wie immer. Wir wissen halt noch nicht genug über das Virus. Das haben wir aber auch nicht gesagt. Sich vor Kritik dadurch zu immunisieren, zu behaupten, man würde jemanden so bezeichnen, ist auch rhetorische Erpressung. Und genau das Gegenteil einer sachlichen Diskussion. Strohmann-Argumente habt ihr nicht nötig, wenn ihr gute Fakten und Quellen habt. Wenn nicht – ist der Vorwurf vielleicht doch ganz angebracht. Einfach mal „kritisch sein“.

 



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