In den vergangenen Monaten und Jahren hat sich eine Protestwelle gegen Rassismus, Rechtsextremismus und den gesellschaftlichen Rechtsruck durch Deutschland gezogen – und sie ist gewaltig. Über 1,4 Millionen Menschen sind nach unterschiedlichen Schätzungen bereits auf die Straße gegangen. Es ist damit die größte Protestbewegung seit der Wiedervereinigung. Dennoch bleiben diese Massenproteste in den großen Medien und der Politik oft ein Randthema, das kaum Beachtung findet. Kein Wunder, dass sich viele fragen: Hat das alles überhaupt Einfluss? Eine neue Studie legt jetzt nahe: Ja, und zwar sogar recht deutlich.
Die größte Protestbewegung seit der Wiedervereinigung
Wer die letzten Monate verfolgt hat, weiß: In zahlreichen Städten demonstrierten Menschen gegen Rassismus, Antisemitismus, Queerfeindlichkeit, antisolidarische Politik und generell gegen den wachsenden Einfluss der extremen Rechten. All das startete schon 2020 nach dem rechtsextremen Anschlag in Hanau – und weitete sich während der darauffolgenden Jahre stetig aus.
Seit Anfang 2024, als ein rechtsextremes Geheimtreffen aufflog, bei dem AfD-nahe Kreise angeblich Massenvertreibungs-Pläne schmiedeten – die inzwischen offizielle Parteilinie sind –, flammte die Wut erneut auf und gipfelte in noch größeren Protesten. Wochenlang gingen Millionen Menschen auf die Straße, um zu zeigen: Wir wollen kein Deutschland, in dem Menschen Angst haben müssen, weil sie nicht ins rechtsextreme Weltbild passen. Infolgedessen stürzte die AfD massiv Umfragen ab.
Auch jetzt gehen wieder Hunderttausende auf die Straße. Aber viele dieser Demos fanden fast ohne größere mediale Aufmerksamkeit statt – und doch summieren sich die Teilnehmenden mittlerweile nach unseren konservativen Zählungen auf mindestens 1,4 Millionen Menschen. Eine beeindruckende Größe, die historische Ausmaße hat.
Neue Studie: Protest senkt AfD-Stimmen
Dass solche Demonstrationen tatsächlich politisch etwas bewirken, zeigt eine aktuelle Untersuchung aus dem Bereich der Leibniz-Gemeinschaft (unter anderem durchgeführt am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, WZB). Die Studie blickt auf zwei wichtige Phasen antirassistischer Proteste in Deutschland:
- Nach dem rechtsextremen Attentat in Hanau 2020, als sich eine bundesweite Protestbewegung gegen Rassismus formierte.
- Anfang 2024, nachdem Correctiv aufgedeckt hatte, dass rechtsextreme Kreise – darunter Leute aus dem AfD-Umfeld – von Massenvertreibungen sprachen.
Die Forscher:innen, namentlich Meret Stephan (European University Institute) und Lennart Schürmann (Harvard University & WZB), haben ermittelt, wie sich diese Proteste konkret auf nachfolgende Wahlen auswirkten – also auf Bundestags- und Europawahl.
Zentrales Ergebnis: Dort, wo es eine stärkere antirassistische Mobilisierung gab, fiel die AfD im Schnitt in den Wahlen um knapp ein Prozent zurück. Das klingt erst mal nach wenig, hat aber vor allem in bestimmten Regionen einen großen Effekt. Zudem machen die Autoren der Studie klar: Diese Verluste traten sowohl bei der Bundestagswahl 2021 als auch – in abgewandelter Form – bei der Europawahl 2024 auf.
Warum die Grünen nicht mehr davon profitieren
Die Studie zeigt darüber hinaus, dass die Grünen am Anfang von diesen Protesten profitieren konnten. Insbesondere vor der Bundestagswahl 2021 erlebte die Partei in Kreisen, in denen besonders viele Menschen gegen Rassismus und Rechtsextremismus auf die Straße gingen, einen Stimmenzuwachs von über zwei Prozent. Die Forscher interpretieren dies so, dass eine migrationsfreundliche und antirassistische Partei hier offenbar als Hoffnungsträgerin fungierte und Wähler mobilisierte, die sich explizit gegen Rechts stellen wollten.
Allerdings ist das Bild bei der Europawahl 2024 anders: Während auch hier die AfD durch Massenprotest Stimmen einbüßte, konnten die Grünen diesmal nicht von den Demonstrationen profitieren. Ein möglicher Grund dafür, so die Studie: Die Grünen vertreten mittlerweile eine deutlich migrationsfeindlichere Linie, seit sie selbst in Regierungsverantwortung sind. Dieser Bruch habe zu einem Vertrauensverlust in der Bewegung geführt. Manche Protestierende sahen die Grünen nicht mehr als verlässliche parlamentarische Alliierte. Das drückte laut Aussagen der Forscher die Wahlergebnisse in Kreisen, in denen demonstriert wurde. Sprich: Durch ihren Rechtsruck haben sie nichts gewonnen, dafür aber Zuspruch verloren.
Weitere Studien stützen den Effekt: Massenproteste ändern Wahlverhalten
Diese Erkenntnisse aus der Leibniz-Gemeinschaft-Studie fügen sich ein in eine ganze Reihe von Untersuchungen, die ähnliche Wirkungsweisen zeigen:
- Forschungen zum Fridays-for-Future-Phänomen und der Klimastreik-Bewegung (veröffentlicht in renommierten Journalen wie Nature Communications) fanden ebenfalls heraus, dass Protest im größeren Stil Einstellungen, Themenwahrnehmung und sogar Wahlentscheidungen beeinflusst.
- Vergleichende Analysen aus anderen Ländern legen nahe, dass Massenmobilisierung besonders dann wirksam ist, wenn sie über einen längeren Zeitraum stattfindet und politisch an konkrete Forderungen gekoppelt wird.
Das ist letztlich auch nicht verwunderlich: Wer demonstriert, zeigt Engagement – und je mehr Leute sichtbar auf die Straßen gehen, umso höher auch die mediale und gesellschaftliche Aufmerksamkeit. Das wirkt als deutliches Signal gegen jene, die Stimmung gegen Minderheiten machen wollen. Auch wenn zur Zeit der ÖRR dafür heftig kritisiert wird, dezidiert mehr AfD-Rechtsextremisten einzuladen, während die gigantischen Massenproteste kein Thema in Brennpunkten, Talkshows und anderen sind.
Protest zeigt Wirkung – und geht weiter
Was bleibt also von all den jüngsten riesigen Demos, ob in Berlin, Hamburg, Köln, München oder im kleineren ländlichen Raum? Laut der aktuellen Studie sehr wohl einiges. Die Proteste schwächen die AfD, indem sie ganz konkret Wähler zum Umdenken bringen oder potenziell rechte Protestwähler unentschlossen werden lassen. Gleichzeitig profitieren zwar nicht automatisch alle progressiven Parteien davon – die Grünen haben ihre Position da verspielt. Aber insgesamt bleibt: Dort, wo Protest ist, gibt es deutlichen Gegenwind für Rechtsextreme.
Und: Nicht nur nationale, sondern auch internationale Studien belegen, dass anhaltende Mobilisierung auf der Straße Veränderungen begünstigen kann. Natürlich lösen auch Massenproteste die Probleme nicht über Nacht. Aber sie sind ein wichtiger, oft unterschätzter Hebel, um Themen auf die Tagesordnung und rechte Parteien unter Druck zu setzen.
Mut machen dürfte uns all das trotzdem: Die rund 1,4 Millionen Demonstrierenden sind weit mehr als ein symbolischer Faktor. Sie weisen einen Weg, wie sich Menschen erfolgreich gegen Rechts wehren und so demokratische Werte stärken können. Und noch deutet wenig darauf hin, dass diese Protestwelle abebbt – im Gegenteil. Der öffentliche Druck auf die AfD wird wohl weiterwachsen, je mehr Menschen für eine offene, vielfältige Gesellschaft auf die Straße gehen.
Wenn du dich zur Bundestagswahl informieren willst, wir haben hier eine Übersicht mit allen wichtigen Inhalten zusammengestellt:
Teile des Artikels wurden mit maschineller Hilfe erstellt. Artikelbild: Hannes P. Albert/dpa