“Nicht die Mehrheit der Polizisten” ist nicht gut genug
„Die überwältigende Mehrheit der Polizisten hält sich an Recht und Gesetz.“ – so hört man immer wieder. Ich kann meine Freude kaum verbergen. Meistens frage ich mich, ob das ein wahnsinnig guter Scherz ist, den ich einfach nicht verstehe. Dazu mal ein paar Gedanken.
1. Es gibt Jobs, in denen jede (!) Person exakt nach höchsten Qualitätsstandards arbeiten muss. Ausnahmslos.
Wir würden wohl kaum akzeptieren, wenn die Lufthansa betonen müsste, dass die überwältigende Mehrheit ihrer Pilot*innen nicht absichtlich Flugzeuge abstürzen lässt. Oder dass die überwältigende Mehrheit der Menschen in einem Atomkraftwerk keine nuklearen Brennstäbe an Nordkorea verkauft. Es gibt einfach Jobs mit derart hoher Verantwortung und massivem Gefahrenpotenzial, da reicht es nicht, wenn nur die „Mehrheit“ keinen Scheiß macht.
2. Wie groß diese „überwältigende Mehrheit“ sein soll, weiß übrigens kein Mensch.
Wie viele Polizist*innen in Deutschland wurden wegen rechter Umtriebe suspendiert? Weiß man nicht.
Wie viele Polizist*innen wurden wegen unverhältnismäßiger Polizeigewalt verurteilt? Weiß man nicht.
Wie viele Polizist*innen haben im Zeugenstand nachweislich gelogen, um eine*n Kolleg*in zu decken? Weiß man nicht.
Dafür, dass die Polizei noch die Haare auf meinem Kopf zählt, wenn ich in ein Flugzeug steige, gibt es erstaunlich wenig Infos über polizeiliches Fehlverhalten.
3. Warum sagt man diesen Satz mit der „überwältigenden Mehrheit“ eigentlich nur, wenn es Polizist*innen betrifft?
Wann immer ein Muslim einen Mordanschlag begeht, steht einen Tag später Horst Seehofer vor den Kameras, um alle Muslime unter Generalverdacht zu stellen. Eine Gruppe von Jugendlichen zieht prügelnd durch die Innenstadt? Zack! Schärfere Abschiebegesetze. Ein Asylbewerber schubst ein Kind vor einen Zug? Zack! Diskussion über Einwanderung.
Wir. Interessieren. Uns. Einen. Scheiß. Um. Die. Mehrheit. Wenn. Es. Um. Ausländer. Geht.
Erinnert sich noch einer an „Döner-Morde“? An „Soko Bosporus“? An „Nafris“??? Ein Grundprinzip polizeilicher Ermittlungsarbeit war lange Zeit das Wissen, dass Türken halt kriminell sind. Und man nur lange genug ermitteln müsse, um es ihnen nachzuweisen. Im NSU-Skandal war die Abwesenheit von Beweisen zur Dönermord-Theorie nur ein Indiz dafür, wie subversiv, hinterlistig und heimlich die NSU-Mordopfer ihren Mafiaaktivitäten nachgegangen sind.
Kein Witz.
Nachzulesen bei Mehmet Daimagüler, einem Vertreter der Nebenklage beim NSU-Prozess (hier zu seinem Buch). Der ganze Gag hinter Racial Profiling ist doch, dass sich ausgerechnet die Polizei einen Scheiß darum schert, ob sich die „überwältigende Mehrheit“ der Nichtweißen an „Recht und Gesetz“ hält – und lieber vorsichtshalber alle (!) People of Color demütigenden Kontrollen unterzieht.
4. Ist eigentlich irgendein*e Polizeifunktionär*in oder ein*e Politiker*in ernsthaft stolz darauf, dass die überwältigende Mehrheit der Polizist*innen in diesem Land nicht kriminell ist? Was ist das bitte für ein unfassbar niedriger Standard?
Und was ist das bitte für eine „überwältigende Mehrheit“, die seit Jahrzehnten wegschaut, wenn Kolleg*innen Gefangene verprügeln, Ausländer anzünden oder sich in WhatsApp-Gruppen mit anderen Polizist*innen Hakenkreuz-Bildchen hin und her schicken?
Eine „überwältigende Mehrheit“, die nie etwas sieht und sich im Nachhinein nie an irgendwas erinnert.
Dieser Bullshit von der „überwältigenden Mehrheit“ kotzt mich an! Weil er nur dazu dient, die strukturellen Demokratie-Defizite in der Institution Polizei zu verschleiern, zu verharmlosen und zu rechtfertigen. Weil er die Nicht-Nazi-Polizist*innen aus der Verantwortung entlässt, sich von #CopCulture, #ThinBlueLine und #Polizeifamilie zu distanzieren und kollegiales Fehlverhalten ohne wenn und aber und ohne jegliches Zögern anzuzeigen und mit aller Macht zu bekämpfen.
Sollen wir uns mal bitte auf eine Sache einigen?
Ein einziger (!) Polizist, der grundlos Leute zusammenschlägt, in einer Nazi-Organisation einen Massenmord plant oder schlicht lügt und betrügt, reicht aus, um das Vertrauen in die Polizei restlos zu pulverisieren. Und nun denkt mal jeder eine Weile über die vielen vielen vielen Einzelfälle nach, die ihren Weg in unseren Nachrichtenstream finden. Und dann diskutieren wir noch mal über die Bedeutung von „überwältigende Mehrheit“. Denn so überwältigend ist die in diesem Fall gar nicht.
Artikelbild: Britta Pedersen/dpa-Zentralbild/dpa