Es ist ein Kampfbegriff der Väterrechtler: Eltern-Kind-Entfremdung. Das Konzept, laut dem ein Kind ein Elternteil ablehne, weil es vom anderen manipuliert werde, gilt als überkommen und fachwissenschaftlich überholt. Dennoch machen sich auch Qualitätsmedien immer wieder zum Lautsprecher der Theorie.
Der Fall sticht heraus: Anfang Oktober 2024 veröffentlichte der „Spiegel“ im gedruckten Heft ein mehrseitiges Porträt eines Umgangspflegers, der bei Konflikten von Trennungseltern vermitteln soll.
Der im „Spiegel“ geschilderte Fall ist krass. Ein zehnjähriger Junge soll laut Gerichtsbeschluss Umgang mit seinem Vater haben, obwohl dieser die Halbschwester sexuell missbrauchte und deshalb drei Jahre im Gefängnis saß. Der Umgangspfleger findet das gut – obwohl ein Gutachten nicht ausschließen konnte, dass der Vater pädophil sei.
Umgang mit Sexualstraftäter
Der Umgangspfleger wird von der „Spiegel“-Redakteurin Heike Klovert damit zitiert, dass er nicht glaube, dass der Junge „bei seinem Papa sexuelle Übergriffe fürchten muss“. Er habe die beiden mehr als drei Jahre lang viele Stunden beobachtet, und „kein einziges Indiz dafür gesehen“, dass der Junge „bei seinem Vater nicht gut aufgehoben wäre“, sagt dieser.
Klovert fragt in ihrem Beitrag: „Könnte er sich trotzdem irren?“ Und lässt den Umgangspfleger antworten: „Ja, ein Restrisiko bleibt immer. Würden wir das auf null setzen wollen, müssten wir andere Rechte einschränken, etwa das Recht eines Kindes, Zeit mit seinem Vater zu verbringen.“ Mit anderen Worten: Er hält das Risiko eines sexuellen Missbrauchs für weniger gefährlich als das Risiko eines Kontaktabbruchs zum Vater.
Der Umgangspfleger heißt Jorge Guerra González. Er ist in der Szene recht bekannt, denn er ist ein wichtiger Apologet der Theorie der Eltern-Kind-Entfremdung, die zurückgeht auf das vom US-Kinderpsychologen Richard Gardner in den 1980er Jahren beschriebene sogenannte Parental Alienation Syndrome (PAS).
Das Bundesverfassungsgericht hatte in einem Beschluss im November 2023 festgehalten, das Konzept gelte „fachwissenschaftlich als widerlegt“, es biete „keine hinreichend tragfähige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung“.
Waghalsige Thesen
Und knapp ein Jahr später bringt der „Spiegel“ einen Mann groß raus, der den Umgang eines Kindes mit einem verurteilten Sexualstraftäter verteidigt? Einen, der in Aufsätzen und Vorträgen sagt, die „Lebenszufriedenheit der ehemaligen Entfremdungskinder ist deutlich geringer als die von Erwachsenen, die in intakten Verhältnissen aufgewachsen sind“. Der behauptet, ihre psychische und physische Gesundheit sei „erheblich schlechter“.
Wer nicht mit beiden leiblichen Eltern aufwachse, ist Guerra zufolge in deutlich höherem Maß Gefahren wie „psychischen Störungen, Subtanzabhängigkeiten und Kriminalität“ ausgesetzt. Guerra fordert, Eltern-Kind-Entfremdung zu bestrafen: „Ohne stärkeres Unrechtsbewusstsein“ werde es schwierig bleiben, die „derzeitige De-facto-Toleranz“ gegenüber den Strategien der Eltern-Kind-Entfremdung zu durchbrechen, schreibt er auf LinkedIn.
Im September 2024 – also vor dem Erscheinen des „Spiegel“-Textes – trat Guerra als Redner auf einer internationalen Konferenz zum Thema in der norwegischen Hauptstadt Oslo auf. Dort wurde er angekündigt als einer, der „die Langzeitauswirkungen der Elternentfremdung auf die kindliche Gehirnentwicklung“ analysiert habe. Es war nur eine weitere seiner vielen waghalsigen Thesen.
In der Fachwelt wunderten sich viele nach Erscheinen des „Spiegel“-Porträts über Guerra. Die Buchautorin Sonja Howard („Im Zweifel gegen das Kind. Wie Gerichte, Jugendämter und Polizei die Kinderrechte mit Füßen treten“) kommentierte irritiert ein Instagram-Posting des „Spiegels“: „Der kriegt eine Plattform?“, dazu ein trauriges Emoji. Guerra verwende das unwissenschaftliche Konzept des PAS und poste „abstruse Studien“, nach denen Frauen in Beziehungen ebenso häufig gewalttätig seien wie Männer, schrieb Howard. Es sei „einfach so krank, wie im Familienrecht am laufenden Meter Kinder gegen ihren Willen in Umgänge gezwungen werden“. Immer wieder poche der Staat auf „das Elternrecht. Dieser Wahnsinn muss endlich ein Ende haben.“
Beschwerde des Weißen Rings
Viola Worsch, eine Funktionärin der Opferschutzorganisation Weißer Ring aus Thüringen, formulierte eine Beschwerde an den „Spiegel“. Sie schrieb in ihrer dem Volksverpetzer vorliegenden Mail, der Text sei ein „Schlag ins Gesicht“ von Frauen und Kindern, die von physischer und/oder psychischer häuslicher Gewalt betroffen seien und die darum kämpfen müssten, dass ihnen geglaubt werde. Die damit zurechtkommen müssten, dass Kinder immer wieder „ins Heim gesteckt werden, wenn sie sich weigern, den gewalttätigen Vater zu treffen oder gar bei ihm zu leben“. Der Kinderschutz solle tatsächlich nachrangig zum Persönlichkeitsschutz eines Straftäters gehen? Die „Spiegel“-Autorin „hat sich scheinbar nicht mit Täterstrategien im pädokriminellen Milieu beschäftigt“, kritisiert Worsch.
Die „Spiegel“-Geschichte über Guerra und seine fragwürdigen Positionen ist kein Einzelfall. Immer wieder wird in etablierten Medien vermeintlichen Expert:innen zum Thema Eltern-Kind-Entfremdung Glauben geschenkt, von den „Kieler Nachrichten“ über die Katholische Nachrichtenagentur (KNA) bis zur „Neuen Zürcher Zeitung“. Manchmal werden sie in diesem Zusammenhang dann als Fachleute „zum Thema Kindeswohl“ aufgewertet oder stellvertretend für „die Wissenschaft“ zitiert.
Die Väterrechtler-Lobby
Die Väterrechtler-Lobby, die 2023 in einer Correctiv-Recherche „Väterrechtler auf dem Vormarsch“ ausführlich seziert wurde, leistet mit der Platzierung von solchen „Experten“ in den Medien ganze Arbeit. Der Einsatz von Organisationen, die gegen diese Einflussnahme kämpfen, wirkt dann oft wie einer gegen Windmühlenflügel.
„Dass Kinder gegen ihren Willen zum Vater geschickt werden, selbst wenn der gegen die Mutter oder die Kinder gewalttätig ist, ist kein Einzelfall“, warnt der Deutsche Juristinnenbund. Der Verband alleinerziehender Mütter und Väter (VAMV) erklärt, Vergleichsstudien von Kindern mit regelmäßigem Kontakt und Kindern mit seltenem oder gar keinem Kontakt zum anderen Elternteil würden „nur geringe Unterschiede im Wohlbefinden, der psychischen Gesundheit oder den sozialen Fähigkeiten“ zeigen. Er widerspricht damit Thesen wie denen des Umgangsbegleiters Guerra.
Eine Bühne bei Riffreporter
Jorge Guerra González und seine Mitstreiter bleiben als Gesprächspartner der Medien trotzdem gefragt. Anfang Juni tauchte Guerra in einem Beitrag des Portals Riffreporter auf. Die freie Journalistin Stefanie Unbehauen hatte ein langes Interview mit ihm geführt. Dort nennt Guerra als „Konsequenz der biologisch begründbaren Bindungstheorie“, dass kleine Kinder keine Elterntrennung wünschen und fehlenden Elternteilen „oft Jahre lang“ nachtrauern würden. Biologisch begründbar? Das dürfte in der Bindungsforschung eine Einzelmeinung sein.
In anderen Passagen des Interviews nimmt Unbehauen Argumente auf, die oft auch von Väterrechtsverbänden vorgetragen werden. Beispielsweise – eine der Grundlagen der pseudowissenschaftlichen Entfremdungstheorie -, dass Elternteile falsche Vorwürfe erheben, um sich Vorteile in Umgangs- und Sorgerechtsverfahren zu verschaffen. „Solche Vorwürfe gibt es leider, und zwar relativ oft“, sagt Guerra. Er gehe immer von beiden Hypothesen aus: „Ist das Kind tatsächlich gefährdet oder will man mich in die Irre führen und meine Tätigkeit zu kindeswohlwidrigen Handlungen bewegen?“
Petition zu „Gewaltschutz im Familienrecht“
Wohin solches Misstrauen führen kann, hat das Deutsche Institut für Menschenrechte in seinem im Dezember 2024 vorgestellten Monitor „Gewalt gegen Frauen“ festgehalten: Die Praktiken in Familiengerichtsverfahren „haben zur Folge, dass Betroffene häuslicher Gewalt und ihre Kinder befürchten müssen, ihnen werde nicht geglaubt. Sie verzichten daher auf die Geltendmachung ihrer Gewalterfahrung, um mögliche negative Folgen und eine weitere Verschlechterung ihrer Lage zu vermeiden.“
Christina Mundlos, die ebenfalls ein Buch zum Thema geschrieben hat („Mütter klagen an. Institutionelle Gewalt gegen Frauen und Kinder im Familiengericht“), startete diese Woche eine Petition zum Thema „Gewaltschutz im Familiengericht“. In der Begründung der Petition heißt es, hinter dem Konzept der Eltern-Kind-Entfremdung stecke eine Täter-Opfer-Umkehr par excellence. „Gewalt und Missbrauch werden geleugnet oder verharmlost. Als eigentliche Kindeswohlgefährdung betrachtet wird jede Mutter, die ihr Kind schützen will.“ Ähnlich deutlich wurden Heiko Rahms und Stephanie Schmidt in ihrem im April im Deutschlandfunk ausgestrahlten Feature „Die Entfremdungs-Lüge“.
Eine illiberale, unwissenschaftliche Ideologie
Es geht bei diesem Thema nicht um unterschiedliche Meinungen zu einem Sachverhalt. Sondern darum, ob jemand Propaganda für eine illiberale, unwissenschaftliche Ideologie macht. Und auch darum, welche Plattformen in den Medien er (oder sie) bekommt.
Der Autor dieses Textes hat dieses Problem beispielhaft im Mai 2024 an einer „Stern“-Titelgeschichte über Trennungskinder beschrieben, in der der Bremer Psychologe Stefan Rücker eine zentrale Rolle spielte. In der „Stern“-Story kamen die vielen Kinder nur am Rande vor, die in toxischen Beziehungen lebten oder leben und die dennoch auch nach häuslicher Gewalt oder Missbrauch von den Institutionen – Jugendämtern oder Gerichten – zum Umgang mit beiden Elternteilen gezwungen werden. Juristische Angriffe Rückers gegen den Volksverpetzer-Beitrag blieben erfolglos.
Psychologe im Einsatz für Christina Block
Rücker plädiert auf seiner Homepage: „Eltern-Kind-Entfremdung ist Kindesmisshandlung und für mich ein Verbrechen an der seelischen Entwicklung von jungen, orientierungsbedürftigen Menschen. Es ist sogar schlimmer als körperliche Verletzungen, weil die heilen.“ Verharmlost der Psychologe hier körperliche Gewalt?
Immer wieder wird Apologet:innen der Entfremdungs-Theorie dennoch das Mikrofon gereicht. Im Februar 2024 wurde Rücker vom WDR als Experte zum Streit um die Kinder der Steakhaus-Erbin Christina Block in den „Beziehungs-Podcast“ von Lisa Ortgies geholt.
Wie befangen und auch fragwürdig ein „Experte“ wie Stefan Rücker sein kann, beschrieb Anne Kunze dann im April 2025 in der „Zeit“. In ihrer Investigativrecherche zum Fall der entführten Kinder heißt es, dass Rücker mehrere Gutachten für Christina Block verfasst hat.
Die „Zeit“ schreibt: „Rücker, der auf seiner Homepage mit den Worten ,Dr. Stefan Rücker, der Wegweiser aus Ihrem Eltern-Konflikt‘ für sich wirbt, ist ein Verfechter der wissenschaftlich umstrittenen Entfremdungs-Theorie. Demnach kann es einem Elternteil gelingen, ein Kind bis zur vollständigen Ablehnung gegen den anderen Elternteil aufzubringen. Laut der Tabelle auf Christina Blocks Laptop erhält Stefan Rücker 40.000 Euro. In einem seiner Gutachten, die Christina Block bei Gericht einreicht, schreibt er, David und Emma seien durch ihren Vater von der Mutter entfremdet worden. Mit den Kindern gesprochen hat der Psychologe für das Gutachten allerdings nicht.“
Lob von Väterrechtlern
Im Juli startet der Strafprozess gegen Christina Block und sechs Mitangeklagte. Ihr wird vorgeworfen, die Entführung ihrer eigenen Kinder in Auftrag gegeben zu haben. Stefan Rücker derweil wurde von Stefanie Unbehauen für deren erst vor einigen Tagen veröffentlichten zweiten Riffreporter-Text befragt. Thema diesmal: Wechselmodell nach Trennung.
Riffreporter stellt Rücker im Bildtext vor als „einen der deutschlandweit bekanntesten Experten in Fragen des Kindeswohls und Umgangsrechts“. Und die Reporterin Unbehauen, die bei Riffreporter neu dabei ist, bewirbt sie auf Twitter als „offen, ehrlich, nah dran“: Sie breche Tabus und schaue hin, wo andere wegsehen.
Markus Witt, langjähriger Funktionär des Väterrechtler-Verbands Väteraufbruch für Kinder, ist voll des Lobes für die Arbeit von Unbehauen: „Themen, die Menschen beschäftigen und belasten, die in unserer heutigen Zeit aber kaum Raum finden und so das Leiden der Betroffenen noch vergrößern“, schreibt er auf LinkedIn in einem Kommentar zum Jahresrückblick 2024 von Unbehauen. Der „Stern“ unterdessen veröffentlichte im Januar 2025 gleich das nächste Interview mit Stefan Rücker und ließ ihn „Verhaltensregeln“ zu Fällen von Trennung mit Kindern erteilen.
„Spiegel“ wiegelt ab
Bei der notwendigen Selbstkritik von Medien nach solchen einseitigen Beiträgen hapert es.
Nach ihrer Kritik an der „kruden“ Arbeit des „Spiegels“ bekam Viola Worsch vom Weißen Ring eine Antwort mit Textbausteinen aus der Abteilung „Leserservice“:
„Vielen Dank für Ihre offenen Worte und die Zeit, die sie sich dafür genommen haben. Die Redaktion ist an Kritik interessiert und nimmt sie sehr ernst. Daher haben wir Ihre E-Mail an die Chefredaktion weitergeleitet. […] Naturgemäß gibt es auch innerhalb der Redaktion unterschiedliche Blickwinkel und Einschätzungen. Deshalb sind uns auch die Sichtweisen der Leserschaft so wichtig.“
Von der „Spiegel“-Chefredaktion hat Viola Worsch nichts mehr gehört.
Ein Sprecher der „Spiegel“-Unternehmenskommunikation sagte zu dem Vorgang auf Anfrage des Volksverpetzers, die Anmerkungen von Frau Worsch seien „aufmerksam zur Kenntnis“ genommen worden. Aufgrund der Vielzahl an Zuschriften könne jedoch nicht auf jede individuell eingegangen werden.
Das im Artikel über den Umgangspfleger behandelte Thema sei seit langem Gegenstand kontroverser Diskussionen in der Öffentlichkeit und den Medien. „Vor diesem Hintergrund bemüht sich der Beitrag um eine möglichst sachliche und umfassende Darstellung. Er beschreibt den Sachverhalt sowie die Perspektiven der handelnden Personen ausgewogen.“
Artikelbild: canva.com