Ein durchgestrichenes Hakenkreuz als „staatsfeindliche Symbolik“ – das warf eine Grundschule in Chemnitz einem Zehnjährigen vor. Die Behörden nehmen verhängte Strafmaßnahmen zurück. Aber sie entschuldigen sich nicht.
Im Fall eines Chemnitzer Grundschülers, der sich gegen die rechtsextreme AfD unter anderem mit dem Slogan „FCK AFD“ positioniert hat, verkündet das Kultusministerium in Dresden einen Rückzieher. Von seiner Schule verhängte „Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen“ werden zurückgenommen, wie Minister Conrad Clemens (CDU) am Freitag dem Volksverpetzer mitteilte. Als erstes Medium überhaupt hatte der Volksverpetzer am vergangenen Mittwoch berichtet.
Clemens sagte: „Dem Chemnitzer Schüler, der ein durchgestrichenes Hakenkreuz in sein Heft gemalt hat, wurde Unrecht getan. Nach einem Gespräch aller Beteiligten werden die Ordnungsmaßnahmen durch die Schule zurückgenommen. Klar ist: So etwas darf sich nicht wiederholen.“
Strafversetzung auf andere Schule angedroht
Der zehnjährige Ahmet Yılmaz (Name geändert) hatte Ende vergangener Woche von der Schulleitung seiner Grundschule einen formellen schriftlichen Verweis laut Schulgesetz bekommen. Sein „Vergehen“: In sein Kritzelheft hatte er auch ein Hakenkreuz gezeichnet, das allerdings durchgestrichen war. Neben dem Tadel gab es weitere Maßnahmen: Ahmet wurde befristet für drei Wochen in eine Parallelklasse versetzt. Zudem drohte man ihm die Strafversetzung in eine andere Schule an.

Für die Mutter des Jungen kam diese Wendung überraschend. Gemeinsam mit zwei Unterstützerinnen hatte sie am Freitagvormittag an einer Konferenz zu dem Fall mit dem Landesschulamt teilgenommen. Die drei anwesenden Vertreter:innen der Behörde zeigten sich dort weitgehend uneinsichtig.
Zunächst versuchten sie, die Mutter unter Druck zu setzen und forderten von ihr, eine Verschwiegenheitserklärung zu unterzeichnen. Dann kündigten sie zwar an, den Fall juristisch prüfen zu wollen. Aber weder entschuldigten sie sich für die Maßnahmen noch nahmen sie diese zurück.
Der Rückzieher
Der Rückzieher, was die Ordnungsmaßnahmen angeht, kam erst nach der Beratung. Die Sprecherin des Landesschulamts, Christiane Zichel, sagte dem Volksverpetzer, ihre Behörde prüfe das weitere Vorgehen „sowohl mit Blick auf den vorliegenden Fall als auch hinsichtlich der Prävention ähnlicher Fälle für die Zukunft“.
In der Sitzung mit der Mutter selbst hatten die Vertreter:innen des Schulamts noch erklärt, man wisse nicht, „was dazu gemalt oder weggestrichen wurde“. Das teilte die Chemnitzer Aktivistin Jen Follmann, eine der Unterstützerinnen der Mutter, mit. Sie hatte an dem Gespräch mit dem Landesschulamt teilgenommen.
Die Schule hatte in dem vor einer Woche zugestellten Verweis behauptet, Ahmet habe „im Unterricht staatsfeindliche Symbolik (Hakenkreuze) in seinem Arbeitsblatt“ gezeichnet. Angehört wurde die Familie zuvor nicht. Nach Darstellung von Ahmets Mutter war es gar kein Arbeitsblatt, das anderen Schüler:innen zugänglich war, sondern eine Seite in seinem persönlichen Kritzelheft.
„AFD ist Scheise“
Das Blatt mit Sprüchen und Zeichnungen liegt dem Volksverpetzer vor, der am Mittwoch als erstes Medium überhaupt über den Fall berichtete. Das Blatt ist voller Wutparolen gegen die AfD: Fähnchen mit der Aufschrift „FCK AFD“, Slogans wie „AFD ist Scheise“, dazu ein gezeichnetes Kackhäufchen. Oder auch „Fick die AFD“.
Völlig eindeutig ist, dass Ahmet massiv etwas gegen die rechtsextreme AfD hat. Und dass der im schriftlichen Verweis gemachte Vorwurf, er habe „staatsfeindliche Symbolik“ verwendet, konstruiert war.
2006 hatte der Bundesgerichtshof entschieden, dass durchgestrichene Hakenkreuze durchaus verbreitet werden dürfen, wenn dabei „eindeutig und offenkundig die Gegnerschaft zum Nationalsozialismus deutlich gemacht“ werde. Das reklamierte auch die Mutter in dem Widerspruch gegen die Ordnungsmaßnahmen.
Bald zurück auf die Waldorfschule?
Die Rektorin der Jan-Amos-Comenius-Grundschule, Yevhenyia Goldhahn, nahm trotz Einladung nicht an dem Gespräch teil. Sie ließ sich ebenso wie Ahmets Klassenlehrerin entschuldigen. Im Hintergrund bemühte sich die Familie von Ahmet, dass der an seine frühere Schule, eine Waldorfschule, zurückkann, die er vier Jahre lang besucht hatte. Dies wird voraussichtlich bereits vom kommenden Montag an möglich, hieß es.
Das Landesschulamt ging in der Beratung laut Follmann nicht auf den von der Mutter geäußerten Vorwurf ein, wonach ein anderer Schüler der Chemnitzer Grundschule erst kurz zuvor Hakenkreuze im Schulgebäude gezeichnet haben soll, die aber nicht durchgestrichen gewesen seien. Dieser Schulkamerad Ahmets sei ohne Bestrafung davongekommen. Sowohl die Schule selbst als auch das Landesschulamt ließen bereits am Montag vom Volksverpetzer übermittelte Fragen zu diesem zweiten Fall unbeantwortet.
Instagram-Reel geht viral
Ahmet ist Sohn eines türkeistämmigen Vaters und einer in Sachsen aufgewachsenen deutschen Mutter. Die Aktivistin Follmann wirft den Lehrkräften „Mobbing“ und „Rassismus“ vor. Sie hatte den Vorgang auf ihrem Instagram-Kanal „safe_space_chemnitz“ publik gemacht.
Follmann hatte am Donnerstag in einem Posting dokumentiert, wie der Junge – seine Stimme wurde dabei verändert – am ersten Schultag nach dem Verweis mit tränenerstickter Stimme bei seiner Mutter anruft und diese bedrängt, ihn abzuholen. Das Reel ging viral. Es hatte bis zum früheren Freitagabend mehr als 220.000 Aufrufe.
Follmann sagt dem Volksverpetzer, es sei „absolut grotesk“, dass sich das Landesschulamt im Namen der Schule nicht entschuldigt habe. Sie forderte dienstrechtliche Konsequenzen für die Schulleiterin und die Klassenlehrerin. Dass die Ordnungsmaßnahmen nach Angaben der Behörden zurückgenommen wurden, nahm die Aktivistin zur Kenntnis.
Die bildungspolitische Sprecherin der Grünen im sächsischen Landtag, Christin Melcher, stellte eine Kleine Anfrage an die Staatsregierung zu dem Fall. Dieser werfe „Fragen zur rechtlichen Grundlage der Maßnahmen sowie zur Demokratiebildung an Schulen auf“. Melcher will unter anderem wissen, welche finanziellen Mittel die Staatsregierung im kommenden Doppelhaushalt für Demokratieerziehung, insbesondere an Grundschulen, bereitstellen wird.
Bahar Aslan: Symptom von autoritärem Denken
Bahar Aslan, die nach einem Twitter-Posting 2023 gegen den „braunen Dreck innerhalb der Sicherheitsbehörden“ ihren Lehrauftrag an der NRW-Polizeihochschule verloren hatte, schrieb auf Instagram zu dem Fall in Chemnitz: „Was hier passiert, ist keine Überreaktion. Es ist ein Symptom. Ein Symptom von autoritärem Denken, von Abwehr gegenüber Antifaschismus, von institutioneller Repression.“
Der Skandal sei nicht das Kritzelheft eines Grundschülers. „Der Skandal sind die Strukturen, die meinen, erziehen hieße, politisches Bewusstsein zu sanktionieren.“ Aslan protestierte: „Während Nazis in Parlamenten sitzen, rechte Netzwerke in Behörden gedeckt werden und Chatgruppen voller Hakenkreuze und Gewaltfantasien keine dienstrechtlichen Konsequenzen nach sich ziehen, wird ein zehnjähriges Kind (!) für kritzelnde Zivilcourage kriminalisiert.“
NSU-Dokumentationszentrum solidarisiert sich
Khaldun Al-Saadi, der in Chemnitz am Aufbau des ersten Dokumentationszentrums zum NSU-Komplex leitend beteiligt ist, äußerte seine Solidarität mit Ahmet und seiner Familie: „Dass ein zehnjähriger Schüler in Chemnitz nach eigenen Aussagen ausgegrenzt, gemobbt und auch strafversetzt werden soll, weil er sich gegen Rechtsextremismus positioniert, ist nicht hinnehmbar“, sagte Al-Saadi dem Volksverpetzer.
Die Mutter dankt für diese Solidarität aus ihrer Heimatstadt Chemnitz. Diese sei „so, so toll“, sagt sie dem Volksverpetzer. Auch, um ihren Sohn wieder aufzubauen. „Damit er weiß, dass er nichts falsch gemacht hat.“ Aus dem Gespräch am Vormittag mit dem Landesschulamt war sie noch völlig ernüchtert hinausgegangen. „Mehr oder weniger heiße Luft“ sei dort verbreitet worden. Trotz des verkündeten Rückziehers, was die Ordnungsmaßnahmen angeht, bleibt das Vertrauen der Familie in die Chemnitzer Grundschule und deren vorgesetzte Behörden total erschüttert.
Artikelbild: Robert Michael/dpa +++ dpa-Bildfunk +++