In seinem Buch „Über Tyrannei – 20 Lektionen für den Widerstand“ (auf Englisch bereits 2017 erschienen) präsentiert der renommierte US-Historiker Timothy Snyder 20 antifaschistische Strategien, die als Leitfaden für unsere heutige Zeit dienen sollen. Es sind Lehren aus dem 20. Jahrhundert, die aber auch auf die heutige Zeit übertragbar sind. Denn Faschismus und Autoritarismus sind wieder auf dem Vormarsch. Zeit für alle Antifaschist:innen, sich vor Augen zu führen, welche Mechanismen im letzten Jahrhundert zu Faschismus und Totalitarismus führten und was wir aus der Geschichte lernen können.
Möchtest du die 20 Lehren lieber anhören, kannst du dies hier tun (auf Englisch). Möchtest du mehr über Snyder und seine Arbeit erfahren, können wir dieses Interview in der SZ empfehlen. Die Quellen dieses Artikels, sofern nicht anders verlinkt, beziehen sich auf Snyders Buch.
1. Kein vorauseilender Gehorsam
Leiste keinen vorauseilenden Gehorsam – so lautet eine der eindringlichsten Warnungen Timothy Snyders. Denn allzu oft beginnt der Weg in autoritäre Systeme nicht mit einem Putsch, sondern mit der freiwilligen Anpassung. Vorauseilender Gehorsam ist eine politische Tragödie: Menschen fügen sich vermeintlich freiwillig einer Macht, bevor diese überhaupt zur offenen Unterdrückung greifen muss.
Ein historisch besonders drastisches Beispiel dafür ist die Zeit nach den Wahlen 1932: Noch bevor die Nationalsozialisten ihre Macht vollkommen gefestigt hatten, stellten sich zahlreiche Menschen bereitwillig in ihren Dienst. Beamte, Richter, Unternehmer – viele waren bereit, mitzumachen, bevor sie dazu gezwungen wurden. Für die NSDAP war das ein klares Signal: Sie konnte mit Zustimmung und Mitwirkung rechnen – der Weg zum Regimewechsel war frei.
Auch in anderen historischen Kontexten zeigt sich immer wieder: Nicht der erste Befehl des Tyrannen schafft die Diktatur, sondern das erste freiwillige Nicken der Gesellschaft. Deshalb ist es umso wichtiger, standhaft zu bleiben. Der beste Schutz gegen die schleichende Aushöhlung demokratischer Werte ist eine wache, engagierte Zivilgesellschaft – die sich einmischt, Fragen stellt und nicht vorauseilend mitmacht. Faschismus muss auf jedem Schritt bekämpft werden. Es gibt keine rote Linie, die man erst abwarten muss.
2. Verteidige Institutionen
Institutionen schützen sich nicht von selbst – wir müssen es tun. Das ist eine der zentralen Lehren aus der Geschichte. Demokratien leben von stabilen Strukturen: Gerichte, die unabhängig Recht sprechen. Gesetze, die für alle gelten. Gewerkschaften, die Beschäftigte vertreten. Eine freie Presse, die Macht kontrolliert. All diese Institutionen sind das Rückgrat unserer freiheitlichen Ordnung – doch sie sind nicht unverwundbar.
Wenn autoritäre Bewegungen wie die AfD gezielt gegen diese Institutionen hetzen, etwa gegen den Verfassungsschutz oder die Justiz, dann geschieht das nicht zufällig. Es ist eine Strategie. Denn wer das Vertrauen der Bevölkerung in demokratische Strukturen zerstört, ebnet den Weg für deren Demontage. Die Botschaft lautet: „Die lügen doch alle, nur wir sagen euch die Wahrheit.“ Doch was folgt, ist keine Freiheit – sondern Willkür.
Ein Blick in die Geschichte zeigt, wie gefährlich das ist: Unter den Nationalsozialisten wurden Institutionen wie Gerichte, Parlamente und Medien gezielt ihrer eigentlichen Funktion beraubt. Man nannte das damals „Gleichschaltung“ – ein Euphemismus für die systematische Ausschaltung der Demokratie.
Deshalb ist klar: Es reicht nicht, sich über den Zustand der Welt zu empören. Wir müssen unsere Institutionen verteidigen – laut, aktiv und gemeinsam. Denn nur solange sie stark bleiben, bleibt auch unsere Demokratie stark.
3. Hüte dich vor dem Einparteienstaat.
Hüte dich vor dem Einparteienstaat – denn wo politische Vielfalt verschwindet, ist die Tyrannei meist nicht weit. Demokratien leben vom Wettbewerb der Ideen, vom Streit um den besten Weg, vom Ausbalancieren unterschiedlicher Interessen. Wenn es nur noch eine Partei gibt – oder eine Partei sich über alle anderen erhebt –, gerät dieses Gleichgewicht ins Wanken.
Ein funktionierendes Mehrparteiensystem ist kein Selbstläufer. Es braucht Regeln, die faire Wahlen garantieren, eine informierte Öffentlichkeit – und vor allem: Menschen, die wählen gehen. Jede Stimme zählt, nicht nur im Ergebnis, sondern als Bekenntnis zur Demokratie. Wer sich heraushält, überlässt das Feld jenen, die es womöglich abreißen wollen.
Deshalb ist Wahlbeteiligung keine Pflichtübung, sondern ein aktiver Beitrag zur Verteidigung unserer Freiheit. Und wer noch einen Schritt weitergehen will, kann selbst politisch aktiv werden – im Stadtrat, in einem Verein, einer Partei oder einer zivilgesellschaftlichen Bewegung. Denn Demokratie lebt nicht von Zuschauern, sondern von Mitspielern. Wenn wir uns ausklinken, überlassen wir das Feld den Extremisten.
4. Übernimm Verantwortung für das Antlitz der Welt.
Snyder schreibt: „Die Symbole von heute ermöglichen die Realität von morgen. Achte auf die Hakenkreuze und die anderen Zeichen des Hasses. Schau nicht weg und gewöhne dich nicht daran. Entferne sie selbst und setze damit ein Beispiel für andere, das auch zu tun.“ (S. 31)
Deshalb ruft Snyder dazu auf, nicht wegzusehen. Gewöhn dich nicht daran. Entferne solche Symbole – und werde selbst zum Vorbild. Denn oft reicht schon eine kleine Geste, um anderen zu zeigen: Hier ist kein Platz für Menschenfeindlichkeit. Auch wenn es dir vielleicht banal vorkommt, einen Nazi-Spruch zu überkleben – du setzt damit ein Zeichen. Du widersprichst. Du zeigst Haltung.

In der „Politik des Alltags“, wie Snyder es nennt, kommt es genau darauf an: auf die vielen kleinen Entscheidungen, mit denen wir unsere Umgebung gestalten. Denn der Widerstand beginnt oft da, wo andere noch schweigen.
5. Denk an deine Berufsehre.
Autoritäre Herrscher sind niemals allein verantwortlich für ihre Verbrechen – sie brauchen Menschen, die mitmachen. Menschen, die schweigen, wegsehen oder „einfach nur ihren Job machen“. Ohne willige Helfer in Verwaltung, Wirtschaft, Justiz und Medizin hätten viele der schlimmsten Gräueltaten des 20. Jahrhunderts nicht stattfinden können.
Ein besonders drastisches Beispiel sind die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Sie waren nicht nur Orte des Terrors, sondern auch der Bürokratie. Menschen planten, verwalteten und profitierten – oft aus ganz normalen Berufen heraus. Unternehmer:innen, die billige Zwangsarbeiter:innen wollten. Jurist:innen, die Unrecht in Gesetzesform pressten. Ärzte, die ihre Berufsethik zugunsten der Ideologie aufgaben.
„Hätten sich Juristen an die Norm gehalten, dass es ohne Prozess keine Hinrichtung gibt, hätten Ärzte die Regel akzeptiert, dass ohne Zustimmung des Patienten keine Behandlung möglich ist, hätten Unternehmer das Verbot der Sklaverei beachtet, hätten sich Bürokraten geweigert, den Papierkram in Bezug auf Mord zu erledigen, dann hätte sich das NS-Regime viel schwerer damit getan, die Gräueltaten zu begehen, für die es uns in Erinnerung geblieben ist.“ (S. 39).
Deshalb ist die Berufsehre nicht nur eine persönliche Angelegenheit – sie ist politisch. Egal, ob du Beamter, Arzt, Lehrkraft oder Unternehmer bist: Deine Entscheidungen zählen. Deine Integrität zählt. Und deine Weigerung, Unrecht mitzutragen, kann entscheidend sein. Lass dich nicht zum Werkzeug machen. Werde nicht zum Komplizen oder Komplizin.
6. Nimm dich in Acht vor Paramilitärs.
Wenn sich Paramilitärs, Polizei und Militär vermischen, ist die Grenze zur Tyrannei längst überschritten. Die Geschichte zeigt: Gewaltbereite Gruppierungen, die außerhalb staatlicher Kontrolle agieren und gleichzeitig enge Verbindungen zu staatlichen Sicherheitsorganen aufbauen, sind ein ernst zu nehmendes Warnsignal für das Ende der demokratischen Ordnung.
Gerade deshalb ist besondere Wachsamkeit gefragt. Denn es sind oft nicht die lautesten Schüsse, sondern die stillen Verbindungen, die gefährlich werden – wenn etwa rechte Netzwerke innerhalb der Polizei unentdeckt bleiben oder ehemalige Soldaten sich in paramilitärischen Gruppen organisieren. Solche Entwicklungen untergraben das Vertrauen in den Rechtsstaat und ebnen den Weg für autoritäre Strukturen. Im Umfeld der AfD werden immer wieder rechte Terrorgruppen entdeckt:
7. Sei bedächtig, wenn du eine Waffe tragen darfst.
Auch der staatliche Apparat kann zum Werkzeug des Terrors werden – das zeigt die Geschichte des Nationalsozialismus auf erschütternde Weise. Die Massenermordungen im Rahmen der Shoah wurden nicht allein von SS-Kommandos begangen. Vielmehr war es die Ordnungspolizei – reguläre Polizeikräfte –, die bei zahllosen Erschießungsaktionen vor Ort mitwirkte und aktiv an den Verbrechen beteiligt war. Soldaten und Beamte wurden so zu Vollstreckern eines mörderischen Systems.
Das macht deutlich: Wer eine Waffe trägt, trägt eine besondere Verantwortung. Und auch wenn in Deutschland strengere Regeln gelten als etwa in den USA, wo das Problem massiv eskaliert, dürfen wir nicht naiv sein. Es kommt sehr wohl darauf an, wer Zugang zu Waffen erhält – und ob diese Personen dem demokratischen Rechtsstaat verpflichtet sind.
Daher ist es richtig und notwendig, dass aktuell geprüft wird, ob AfD-Mitglieder, die durch extremistische Positionen aufgefallen sind, weiterhin waffenrechtlich zuverlässig sind. In Sachsen-Anhalt und Thüringen laufen derzeit solche Prüffälle. In mehreren Fällen wurden bereits Waffenscheine entzogen. Demokratie verteidigt sich nicht von selbst – und schon gar nicht gegen Menschen, die sie bewaffnet angreifen wollen.
8. Setze ein Zeichen.
Es klingt banal – und doch ist es eine der wichtigsten Erkenntnisse: Widerstand beginnt im Kleinen. Nicht erst auf der großen Bühne, nicht erst im Rampenlicht, sondern dort, wo Menschenfeindlichkeit auf Widerspruch trifft. Dort, wo jemand nicht schweigt, sondern Haltung zeigt.
Heute verehren wir die großen Namen des Widerstands: Sophie Scholl, Rosa Parks, Martin Luther King. Zu Recht. Doch es waren nicht nur sie. Es waren auch unzählige Menschen, deren Namen wir nicht kennen – Menschen, die während der NS-Zeit Juden in ihren Häusern versteckten, die Nachbarn warnten, die Informationen weitergaben, die Nein sagten, als es gefährlich war, Nein zu sagen.
Sie haben nicht weggesehen. Sie haben ein Zeichen gesetzt – und damit Geschichte geschrieben. Vielleicht nicht in den Geschichtsbüchern, aber im Leben derer, die sie geschützt haben. Diese Form des Alltagswiderstands bleibt ein Vorbild: Jeder kann etwas tun. Und jedes Zeichen zählt.
9. Sei freundlich zu unserer Sprache.
Sprache ist nie neutral – sie prägt, was wir wahrnehmen, wie wir denken und wie wir handeln. Ob wir von „illegalen Migranten“, sprechen oder von, „Menschen auf der Flucht“, macht einen entscheidenden Unterschied. Denn Worte transportieren nicht nur Informationen, sondern auch Haltungen. Wer den Begriff „extreme Meinungen“ benutzt, verharmlost oft, was in Wahrheit gesichert rechtsextreme Positionen sind – Positionen, die unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung offen angreifen.
Deshalb kommt es darauf an, wie wir sprechen – über uns selbst, über andere, über Politik und Gesellschaft. Medien tragen dabei eine besondere Verantwortung. Sie dürfen Begriffe wie „Remigration“, ein zentraler Kampfbegriff der Neuen Rechten, nicht einfach wiederholen, als seien sie Teil einer neutralen Debatte. Sie müssen einordnen, entlarven und klar benennen, was dahintersteckt: die Vorstellung, Millionen Menschen aufgrund ihrer Herkunft zu vertreiben oder zu deportieren. Das, was Trump in den USA gerade macht. Und was auch die AfD in Deutschland möchte.
Snyder ruft dazu auf, sich immer wieder bewusst aus der digitalen Reizüberflutung zurückzuziehen – und stattdessen in Bücher einzutauchen. Denn dort lernen wir, komplexer zu denken, Mitgefühl zu entwickeln und Zusammenhänge zu erkennen. Wer liest, lässt sich nicht so leicht von Propaganda verführen. Wer reflektiert, durchschaut die sprachlichen Tricks der Hetzer.
10. Glaube an die Wahrheit.
Timothy Snyder formuliert es unmissverständlich: „Du unterwirfst dich der Tyrannei, wenn du den Unterschied leugnest zwischen dem, was du hören willst, und dem, was tatsächlich der Fall ist.“ In einer Zeit, in der Desinformation systematisch verbreitet wird, ist dieser Satz aktueller denn je.
Jeder Mensch hat eine gewisse Voreingenommenheit – einen sogenannten „confirmation bias“. Wir neigen dazu, Informationen zu bevorzugen, die unser Weltbild bestätigen. Auf Social Media wird dieser Effekt durch Algorithmen noch verstärkt: Wir sehen immer mehr von dem, was wir ohnehin glauben. Deshalb ist es umso wichtiger, sich selbst immer wieder zu hinterfragen. Faktencheck fängt bei uns selbst an.
Man muss dabei nicht gleich die philosophische Debatte führen, was Wahrheit eigentlich ist. Es reicht oft schon, sich auf das zurückzuziehen, was überprüfbar ist. Lies nach. Prüfe Behauptungen. Verlass dich nicht auf Schlagzeilen oder Memes. Beim Volksverpetzer verlinken wir jede Quelle, genau aus diesem Grund: Wir wollen nicht, dass du uns einfach glaubst – sondern dass du selbst nachsehen kannst.
Denn genau das tun autoritäre Bewegungen wie die AfD nicht. Sie verbreiten gezielt Lügen, verpacken sie als Fakten – und versuchen so, das Vertrauen in eine gemeinsame Wirklichkeit zu zerstören. Wenn wir das hinnehmen, stirbt die Wahrheit. Und mit ihr stirbt jede Möglichkeit zur demokratischen Verständigung. Wer sich der Realität verweigert, lebt irgendwann nur noch in seiner eigenen, hasserfüllten Fiktion.
11. Frage nach und überprüfe.
Eng mit dem Glauben an die Wahrheit verknüpft ist die Frage, wie wir Medien konsumieren – und welche Verantwortung wir dabei selbst tragen. Denn seriöser Journalismus hat es heute schwer. Besonders im Lokalen brechen immer mehr Redaktionen weg, die früher das Rückgrat demokratischer Öffentlichkeit bildeten. Was übrig bleibt, sind oft große Medienhäuser oder algorithmisch kuratierte Informationsblasen.
Deshalb: Wenn du es dir leisten kannst, unterstütze deinen Lokaljournalismus. Abonniere ein Printmedium, das gut recherchiert und sauber arbeitet. Lies auch mal die langen Artikel – die, bei denen es nicht nur um Klicks geht, sondern um Kontext, Einordnung, Hintergrund. Demokratie braucht informierte Bürger – und gute Informationen brauchen Zeit, Geld und Menschen, die sie ermöglichen.
Doch genauso wichtig ist der eigene Umgang mit Informationen. Bevor du etwas weiterleitest oder repostest, frag dich: Wird hier wirklich etwas belegt – oder nur mein Weltbild bedient? Bestätigt diese Schlagzeile nur meine Meinung, oder stimmt sie auch mit den Fakten überein?
Und vor allem: Tu den Rechtsextremen nicht den Gefallen, ihre Inhalte weiterzuverbreiten – selbst dann nicht, wenn du dich über ihre Rechtschreibfehler lustig machen willst. Denn jeder Klick, jeder Repost stärkt ihre Reichweite.
12. Nimm Blickkontakt auf und unterhalte dich mit anderen.
Gesellschaftliche Barrieren verschwinden nicht durch Online-Kommentare oder Social-Media-Posts – sie fallen dort, wo Menschen einander wirklich begegnen. Im echten Leben, im direkten Austausch, wenn aus anonymen Debatten persönliche Gespräche werden. Genau dort entsteht Empathie – und genau dort verlieren Vorurteile ihre Kraft.
Ein anschauliches Beispiel: Studien zeigen immer wieder, dass in Regionen oder Stadtvierteln, in denen Menschen direkten Kontakt mit Geflüchteten haben, die Toleranz deutlich höher ist. Wer ein Gesicht, eine Stimme, eine Geschichte kennt, kann schwerer in Klischees denken. Aus „denen da“ werden Nachbarn, Kollegen, Bekannte. Und aus Misstrauen wird Verständnis.
Wenn wir also Spaltung überwinden wollen, müssen wir raus aus den digitalen Echokammern – und rein in die Welt. Denn Demokratie lebt vom Dialog – und Dialog braucht Begegnung.
13. Praktiziere physische Politik.
In Snyders Worten: „Protest lässt sich über die sozialen Medien organisieren, aber real wird er erst, wenn er die Straße erreicht. Wenn Tyrannen die Folgen ihres Handelns nicht in der dreidimensionalen Welt spüren, wird sich nichts ändern.“ (S. 82)
Genau das passierte mit den Massenprotesten Anfang 2024 und Anfang 2025: Millionen gingen gegen die AfD auf die Straße – mit Schildern, mit Transparenten, mit lauter Stimme. Sie kommen aus unterschiedlichen politischen Lagern, mit unterschiedlichen Meinungen, Biografien und Hintergründen. Doch sie vereint ein Ziel: dem Rechtsruck etwas entgegenzusetzen. Das ist es, was zählt. Es braucht nicht immer Einigkeit in allen Details – es reicht, sich gemeinsam der Gefahr entgegenzustellen. Die Demos 2024 – die größten Proteste der Bundesrepublik, die es je gab – führten auch zu einem massiven Absturz der AfD.
14. Führe ein Privatleben.
Tyrannen lieben es, alles über dich zu wissen – denn Wissen ist Macht und Kontrolle beginnt mit Information. Wer weiß, wo du arbeitest, was du denkst, mit wem du sprichst und was du im Netz tust, kann dich gezielt unter Druck setzen. Deshalb ist es kein Zufall, dass autoritäre Systeme immer auch Überwachungssysteme sind. Sie leben davon, das Private aufzulösen und jeden Winkel deines Lebens auszuleuchten.
Doch genau hier beginnt Widerstand: Schütze dein Privatleben. Mach es denen, die dich kontrollieren wollen, nicht zu leicht. Freiheit bedeutet nicht nur, sagen zu dürfen, was man denkt – sie bedeutet auch, selbst entscheiden zu können, was man zeigt und was nicht. Es muss einen Unterschied geben zwischen öffentlichem und privatem Leben. Und es muss möglich bleiben, sich Räume zu bewahren, in denen der Staat, Konzerne oder politische Gegner nichts zu suchen haben. Aber es ist nicht nur deine persönliche Aufgabe, sagt Snyder:
Wir können versuchen, dieses Problem individuell zu lösen, indem wir unsere eigenen Computer sichern; wir können aber auch versuchen, es kollektiv zu lösen, indem wir beispielsweise Organisationen unterstützen, die sich für die Menschenrechte einsetzen.“ (S. 88f.)
15. Engagiere dich für einen guten Zweck.
Wir alle haben nur 24 Stunden am Tag – und oft scheint es, als reichten sie nicht einmal für das Nötigste. Zwischen Arbeit, Alltag, Familie, Freizeit und Verpflichtungen bleibt kaum Raum für zusätzliches Engagement. Doch vielleicht gibt es trotzdem eine Möglichkeit, sich einzubringen – dort, wo es zu deinem Leben passt. Vielleicht in einem Verein, der sich für Werte einsetzt, die dir wichtig sind. Vielleicht mit einer Spende an eine Organisation, die vor Ort etwas bewegt. Auch das ist Engagement. Auch das ist ein Beitrag.
Dabei ist klar: Zeit und Geld sind Privilegien. Nicht jeder kann sie einfach so aufbringen. Aber nicht jedes Engagement muss politisch sein, nicht jede Beteiligung muss Geld kosten. Vor allem auf dem Land erleben wir in Deutschland ein stilles Vereinssterben – ein schleichender Verlust an Gemeinschaft. Dabei sind gerade diese Orte so wichtig. Sie bringen Menschen zusammen, schaffen Austausch, stärken den Zusammenhalt. Ob Sportverein, Theatergruppe oder Kulturzentrum – sie alle sind Teil einer lebendigen Zivilgesellschaft.
Und genau diese Zivilgesellschaft ist es, die autoritäre Regimes fürchten. Was meinst du, warum Rechte so viel gegen „NGOs“ hetzen? Alle großen Tyrannen waren und sind Feinde von Vereinen, NGOs, Nachbarschaftsinitiativen und gemeinnütziger Arbeit. Denn dort entstehen Zusammenhalt, Solidarität – und Widerstand. Wer sich engagiert, wo auch immer, leistet einen zutiefst antifaschistischen Beitrag. Eine Übersicht zivilgesellschaftlicher Organisationen in Ostdeutschland findest du hier:
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Vielleicht ist ja etwas dabei, das dich inspiriert.
16. Lerne von Gleichgesinnten in anderen Ländern.
Kein Land kann den Kampf gegen Faschismus und autoritäre Tendenzen im Alleingang gewinnen. Demokratien brauchen einander – als Verbündete, als Vorbilder, als solidarische Gemeinschaft. Wer glaubt, dass Abschottung oder nationale Alleingänge Lösungen bieten, hat die Lektionen der Geschichte nicht verstanden. Es braucht den internationalen Austausch, die gegenseitige Unterstützung und das gemeinsame Lernen aus Erfahrungen.
Timothy Snyder nennt als Beispiel die Ukraine. Ein Land, das nicht nur militärisch gegen eine autoritäre Aggression kämpft, sondern auch auf medialer Ebene bemerkenswerte Strategien im Umgang mit Propaganda entwickelt hat. Ukrainische Medien zeigen, wie sich Desinformation entlarven lässt – mit Mut, Kreativität und Fakten. Manch westliches Medium könnte sich davon eine Scheibe abschneiden.
Und auch Snyders eigene Biografie zeigt: Der Kampf für Demokratie ist kein Rückzug, sondern ein aktives Ringen. Übrigens zog Snyder nicht etwa nach Kanada, um der politischen Lage in den USA zu entkommen – auch wenn es durchaus Wissenschaftler gibt, die genau das tun, weil sie vor Trumps Politik fliehen. In seinem Fall waren es familiäre Gründe. Doch der Punkt bleibt: Widerstand gegen Tyrannei ist eine globale Aufgabe – und sie kennt keine Grenzen.
17. Achte auf gefährliche Wörter.
Timothy Snyder warnt eindringlich vor bestimmten Begriffen, die in politischen Krisen immer wieder auftauchen – und oft nicht das bedeuten, was sie vorgeben. Begriffe wie „Notstand“ oder „Ausnahmezustand“ klingen zunächst technisch oder verwaltungssprachlich, doch sie können gefährliche politische Werkzeuge sein. Denn genau mit solchen Worten wurden in der Vergangenheit grundlegende Rechte ausgehebelt, Demokratien ausgehöhlt und autoritäre Maßnahmen legitimiert.
Snyder fordert deshalb, bei solchen Begriffen besonders wachsam zu sein. Zu oft dienen sie nicht dem Schutz der Bevölkerung, sondern als Deckmantel für Machtverschiebungen – weg von Freiheit und Kontrolle hin zu Unterdrückung und Willkür. Wer sich auf den „Ausnahmezustand“ beruft, schafft meist genau das: einen Zustand, in dem Ausnahmen zur neuen Regel werden und demokratische Prinzipien ausgesetzt sind.
Deshalb gilt: Wenn Politiker von „Notstand“ sprechen, sollten bei uns alle Alarmglocken läuten. Nicht jede Krise rechtfertigt den Ausnahmezustand. Und nicht jede Einschränkung ist alternativlos. Wer frei bleiben will, muss genau hinhören – vor allem dann, wenn andere wollen, dass wir weghören. Und das sagte er vor den Plänen der neuen deutschen Regierung, einen „Nationalen Notstand“ auszurufen, obwohl die Asylzahlen seit Langem immer weiter sinken.
18. Bleib ruhig, wenn das Undenkbare eintritt.
Snyder zieht eine eindrucksvolle Parallele zur deutschen Geschichte: Der Reichstagsbrand 1933 war der Moment, den die Nationalsozialisten brauchten, um ihre autoritäre Agenda in die Tat umzusetzen. Innerhalb kürzester Zeit erklärten sie den Ausnahmezustand, schränkten Grundrechte ein, schalteten die Opposition aus – und setzten damit die Aushöhlung der Demokratie in Gang. Es war kein Zufall, sondern Kalkül. Ein Schockmoment, der die Bevölkerung verunsicherte – und den die Nazis skrupellos ausnutzten.
Laut Snyder funktioniert moderne Tyrannei oft genau so: als „Terrormanagement“. Terroranschläge und Krisen werden instrumentalisiert, um politische Macht auszubauen. Plötzlich wird jede Maßnahme alternativlos, jede Einschränkung zur Sicherheitsfrage. Gewaltenteilung, Meinungsfreiheit, demokratische Verfahren – all das kann über Nacht unter dem Vorwand des Schutzes eingeschränkt werden.
Doch genau das ist der Trick. Und genau deshalb dürfen wir ihm nicht auf den Leim gehen. Auch in Ausnahmesituationen – gerade dann – ist es wichtig, ruhig zu bleiben und wachsam zu sein. Nicht jede Krise rechtfertigt radikale Eingriffe in unsere Freiheit. Nicht jeder, der mit Angst regiert, meint es gut. Wer seine Demokratie schützen will, muss lernen, in der Krise einen kühlen Kopf zu bewahren.
19. Sei patriotisch.
Für viele mag es zunächst irritierend klingen: Patriotismus als antifaschistische Haltung? Doch genau das ist Timothy Snyders Botschaft. Denn Patriotismus ist nicht gleich Nationalismus – im Gegenteil. Während Nationalismus ausgrenzt, überhöht und spaltet, stellt Patriotismus hohe Ansprüche an das eigene Land. Ein Patriot, so Snyder, will, dass sein Land seinen Idealen gerecht wird. Er fordert es heraus, sich von seiner besten Seite zu zeigen. Er liebt nicht die leere Symbolik, sondern das reale Land – mitsamt seinen Stärken und Fehlern.
„Ein Patriot hingegen will, dass die Nation ihren Idealen gerecht wird, was bedeutet, dass er uns darum bittet, uns von unserer besten Seite zu zeigen. Ein Patriot muss sich mit der wirklichen Welt beschäftigen, denn sie ist der einzige Ort, an dem sein Land geliebt und unterstützt werden kann. Ein Patriot verfügt über universelle Werte, über Maßstäbe, nach denen er seine Nation beurteilt, der er immer nur das Beste wünscht – und der er wünscht, es möge ihr noch besser ergehen.“ (S. 114)
Gerade deshalb ist es so perfide, wie die Rechtsextremen den Begriff gekapert haben. Sie erklären sich selbst zu „wahren Patrioten“, während sie aktiv daran arbeiten, das Land zu spalten, Europa zu schwächen und die Demokratie abzubauen. Wer wie die AfD die EU verlassen, Deutschland abschotten, die Energiewende sabotieren und Grundrechte aushöhlen will, handelt nicht im Interesse des Landes – sondern gegen dessen Zukunft. Warum die AfD alles andere als patriotisch ist.
Ob du dich nun als heimatverbunden siehst oder als Kosmopolit: Wahre Liebe zum Land zeigt sich nicht in Parolen, sondern im Einsatz für seine Werte. Und genau das macht Patriotismus zu einer demokratischen, ja antifaschistischen Haltung.
20. Sei so mutig wie möglich.
Das kann man, glaube ich, einfach so stehen lassen.
Fazit: Der antifaschistische Alltag beginnt bei dir
Timothy Snyders 20 Lektionen sind keine abstrakten Warnungen an „die Politik“ – sie sind ein konkreter Leitfaden für den antifaschistischen Alltag. Denn Faschismus beginnt nicht mit dem Putsch, sondern mit dem Schweigen. Nicht mit Uniformen, sondern mit Gleichgültigkeit. Und Widerstand beginnt nicht erst auf der Straße, sondern beim Denken, Reden und Handeln – jeden Tag.
Es geht darum, Institutionen zu verteidigen, Sprache bewusst zu nutzen, Lügen zu entlarven, Solidarität zu leben und Haltung zu zeigen – auch wenn es unbequem ist. Wer glaubt, es reiche, einmal alle vier Jahre ein Kreuz zu machen, hat die Lektionen des 20. Jahrhunderts nicht verstanden. Demokratie ist nichts, das einfach da ist – sie ist etwas, das wir verteidigen müssen. Gegen Hetze, gegen Gleichgültigkeit, gegen die schleichende Normalisierung des Autoritären.
Der Rechtsruck in Deutschland kommt nicht aus dem Nichts. Aber er kann aufgehalten werden – wenn wir bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Für die Wahrheit. Für unser Land. Für die Freiheit. Die Geschichte lehrt uns, was passiert, wenn wir das nicht tun. Snyder zeigt uns, was wir stattdessen unternehmen können.
Der Kampf gegen die Tyrannei beginnt heute. Und er beginnt mit dir.
Artikelbild: Arne Dedert/dpa, Jacob Schröter/dpa. Teile des Artikels wurden mit maschineller Hilfe erstellt.