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Rechts & Links sind nicht das Gleiche: Warum die Hufeisentheorie aufs Altmetall gehört

von | Jul 30, 2020 | Analyse, Bericht, Gastkommentar

Gastbeitrag von Anastasia Tikhomirova

Hufeisentheorie: Links und Rechts werden ständig gleichgesetzt

Fast täglich kann man in den deutschen Medien von „rechts- sowie linksextrem“ motivierten Gewalttaten lesen. Nicht selten werden sie im Hufeisenmodell gegenübergestellt, bei dem die politische Mitte den Bogen zwischen den beiden Extrema bildet und eine Äquidistanz zu beiden aufweisen soll. Als „extrem“ gilt laut Verfassungschutz, wer die freiheitlich-demokratische Grundordnung und den Staat angreift oder verändern will. Und sich eines ideologischen Dogmatismus bedient. Darunter fallen in der simplifizierenden Hufeisentheorie sowohl Links- als auch Rechtsextreme. Während es zur „gemäßigten“ Mitte keinen Gegenpol gibt. Viele Politiker*innen, darunter vor allem Vertreter*innen der CDU, prangern davon ausgehend beide Seiten als gleichermaßen demokratie- und staatsfeindlich und gefährlich an. Und fordern, hart gegen Militanz auf beiden Seiten vorzugehen (Quelle).

Obwohl die Gleichsetzung von Links- und Rechtsextremismus zunächst eher laienhaft erscheint, wird diese Theorie auch in der Extremismusforschung angewandt. Und auch von prominenten Forschern, wie zum Beispiel Eckhard Jesse, verteidigt. Dadurch werden völlig unverhältnismäßige Taten gleichgesetzt oder linksextreme Straftaten gar in den Vordergrund gerückt. Entgegen der Behauptung Jesses, über linksextreme Gewalt würde medial hinweggesehen (Quelle).

Die Hufeisentheorie ignoriert wichtige Faktoren

Der Fokus wird stattdessen auf die Gemeinsamkeiten von Links- und Rechtsextremen gelegt. Also unter anderem Gewaltbereitschaft, Ablehnung des Staates oder der Polizei als Ordnungsmacht und des Pluralismus, Wunsch nach einer anderen Staatsform. Dabei werden die Unterschiede zwischen den beiden Extremen, wie ihre politischen Ziele, Methoden, Menschen- und Weltbild, außer Acht gelassen. Darüber hinaus wird weder zwischen totalitären und anarchistischen Strömungen unterschieden, noch zwischen den heterogenen Gruppierungen innerhalb der Extreme.

Die Hufeisentheorie erweckt den Anschein, dass der Abstand zwischen links- und rechtsextrem kleiner ist, als der zur politischen Mitte. Religiös-extremistisch und fundamentalistisch motivierte Straftaten kommen in der Hufeisentheorie nicht einmal vor. Obwohl es laut Verfassungsschutz in Deutschland an die 650 islamistische Gefährder*innen gibt.

Durch eine solche Betrachtung entsteht auch im öffentlichen politischen Diskurs ein simplifizierendes Lagerdenken, welches lediglich eine pauschale Kategorisierung und Gegenüberstellung des Extremismus zulässt. Dabei unterscheidet sich dieser grundsätzlich in seiner Motivation, aus der die Gewalt hervorgeht, sowie ihrer Ausrichtung und Ausführung.

Statistiken zu politisch motivierten Straftaten

Vor einigen Wochen veröffentlichte der Verfassungsschutz eine Statistik zu extremistischen Gewalttaten in Deutschland 2019, welche am 09.07.2020 von Verfassungschutzpräsident Thomas Haldenwang und Bundesinnenminister Horst Seehofer vorgestellt wurde. Richtigerweise wurden Rechtsextreme als größte Gefahr in Deutschland benannt, welche 2019 mindestens 21 290 Straftaten verübten. Und deren Anzahl um 10 Prozent auf 32 080 gestiegen ist. Wovon 13 000 als gewaltbereit gelten. (Quelle) Unter die Rechtsextremist*innen fallen auch 7000 Mitglieder*innen des rechten Flügels der AfD (Quelle).

Infografik: VS zählt 7.000 AfD-Flügel-Mitglieder als Rechtsextreme | Statista Mehr Infografiken finden Sie bei Statista

Dies wurde von zahlreichen Medien in Relation mit Linksextremisten gesetzt, deren Anzahl um 40% gestiegen ist und welche 2019 6449 Straftaten verübt haben. Wegen des hohen Anstiegs wurde der Linksextremismus nach Veröffentlichung der Daten vom Verfassungschutz durch etliche Zeitungen und rechte Politiker*innen in den Vordergrund gerückt und gar vor der Gefahr eines neuen Linksterrorismus und gezielten Tötungen durch Linksextreme gewarnt (Quelle). Obwohl es keine Straftaten von vergleichbarer Qualität wie von Rechtsextremen gegeben hat.

Was fällt überhaupt in die Kategorie der linksextremistischen Straftaten?

So werden Verstöße gegen das Versammlungsgesetz, also friedliche Sitzblockaden (unter anderem auch gegen Naziaufmärsche) (Quelle) und Aktionen von Klimaschützer*innen und Umweltaktivist*innen bereits als linksextreme Straftaten verbucht. Auch Antikapitalist*innen und radikalen Klimaaktivist*innen, die das wirtschaftliche System kritisieren, wird vom Verfassungschutz Demokratiefeindlichkeit unterstellt, was fälschlicherweise die Gleichsetzung von Demokratie und Kapitalismus bedeutet. In einer demokratischen Gesellschaft darf Kapitalismuskritik nicht als extremistisch eingestuft werden. (Quelle)

Gleichzeitig kann bei offensichtlich rechtsextremistischen Anschlägen, wie zum Beispiel der seit Jahren andauernden Anschlagsserie in Neukölln (Quelle) oder dem Zeigen rechtsradikaler und verfassungswidriger Symbole (Quelle), die Polizei und zuständige Behörden entweder keinen rechtsextremen Hintergrund erkennen, ermittelt in alle Richtungen oder hat noch immer keine Verantwortlichen ausfindig gemacht, obwohl es häufig genügend Indizien für einen rechtsextremen Hintergrund der Taten gibt. Das überrascht nicht wirklich, da rechte Tatmotive seit Jahren von Polizist*innen, Richter*innen und Staatsanwält*innen heruntergespielt werden und die Tatmotivation nicht zu Genüge herausgearbeitet wird.

Die Aufklärungsquote rechter Straftaten liegt in einem niedrigen Bereich, denn häufig kommt es weder zu Anklagen, noch zu Verurteilungen, da  das Tatmotiv nicht erkannt wird. (Quelle) Wirft man hingegen einen genaueren Blick auf die Zahlen zu linksextrem motivierter Gewalt, so sind die meisten Straftaten Sachbeschädigungen, Landfriedensbruch oder Verstöße gegen das Vermummungsvebot und Versammlungsgesetz (Quelle)  – die Anzahl der Gewalttaten gegen Personen ist sogar im Vergleich zum Vorjahr gesunken.(Quelle).

Linksextremismus immer „schlimmer“? 2019 litten darunter vor allem 2-Euro-Artikel: Wahlplakate!

Wogegen richtet sich links- und rechtsextremistische Gewalt?

Während linker Extremismus zu einem großen Teil gegen „die Starken“, also den Staat, Staatsvertreter*innen, das kapitalistische System, Unternehmer*innen und vor allem gegen Rechtsextremist*innen kämpft, richtet sich rechtsextrem motivierte Gewalt gegen „die Schwachen der Gesellschaft“. Also gegen Minderheiten, Migrant*innen , Schutzsuchende, Obdachlose, Menschen mit Behinderung oder politische Gegner*innen, sowohl aus Parteien der Mitte und des linken Spektrums (Mord an Walter Lübcke CDU, NSU 2.0 Drohungen gegen etliche linke Politiker*innen und Migrant*innen), als auch gegen Linksextreme und Antifaschist*innen.

Wo linke Gewalt oftmals Kritik an der kapitalistischen Wirtschaftsordnung darstellt oder zur Verhinderung rechter Kundgebungen und Demonstrationen angewandt wird, haben rechte Gewalttaten immerzu menschenverachtenden Charakter und sind gefährlich – nicht nur für einzelne Individuen, sondern vor allem für marginalisierte Gruppen und letztendlich unsere Demokratie.

Fazit: Die Hufeisentheorie gehört ins Altmetall weggeworfen

Hier soll nicht verharmlost und verneint werden, dass auch linke Militanz falsche Formen annehmen und ausufern kann – jedoch ist sie unter keinen Umständen mit rechter Militanz gleichzusetzen, denn dieser Vergleich relativiert wiederum diese.

Rechtsextreme ermordeten in Deutschland mindestens 182 Menschen seit 1990. (Quelle)  Zu den bekanntesten Fällen rechtsextremer Gewalt der letzten Jahre zählen wohl die NSU-Morde, die Ermordung von Walter Lübcke, die Terroranschläge von Halle und Hanau, letzteres erst im Februar. Etwas vergleichbares findet man seit vielen Jahren in Deutschland auf „linker Seite“ nicht mal im Ansatz. Rechtsextreme Gesinnung ist nicht erst seit 2015 und mit dem Erstarken der AfD wiedergekehrt – sie hat zu keinem Zeitpunkt aufgehört, auch nicht nach 1945 (Quelle).

Das Relativieren und Kleinreden dieser zieht sich jedoch durch die Geschichte der Bundesrepublik (Quelle) und die Verwendung der Hufeisentheorie trägt dazu bei. Die hier aufgeführten Fakten und Quellen sollten klar darlegen, wieso die Hufeisentheorie ins Altmetall gehört und nicht mehr zeitgemäß ist.

Autorin: Anastasia Tikhomirova. Artikelbild: pixabay.com, CC0


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