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WELT: Ein „Herz“ für verfassungsfeindliche Rhetorik?

von | Aug 18, 2022 | Aktuelles

Rechtslibertarismus als Extremismus-Pipeline

Gastbeitrag von Annika Brockschmidt

Rechte und rechtslibertäre Strömungen drängen immer weiter in den politischen Mainstream – teils geschieht dies auch mit der Hilfe etablierter Medien, die Dank eines falsch verstandenen Neutralitätsbegriffs meinen, Falschaussagen kommentar- und kontextlos dastehen lassen zu müssen, und das als ein Zeichen besonderer Objektivität zu verstehen. So erst jüngst geschehen in der “WELT”: Dort konnte man ein Interview mit dem extremistischen rechtslibertären Abgeordneten des argentinischen Parlaments, Javier Milei, lesen, der auch als künftiger Präsidentschaftskandidat gehandelt wird. Doch statt ihn korrekt politisch einzuordnen, wurde Milei den Lesenden als der Anführer der “freiheitlichen Partei ‘La Libertad Avanza’”, als “Hassfigur der Linken” und als “schillerndste(r)” und “derzeit (…) umstrittenste(r) Politiker Argentiniens” vorgestellt. 

„Freiheit“ als Feigenblatt rechter Demagogie

Die rechte La Libertad Avanza als “freiheitliche Partei” zu bezeichnen, erscheint abstrus. Auch hier findet sich, ähnlich wie bei Äußerungen der religiösen Rechten in den USA, die über “Religionsfreiheit” spricht, die Bereitschaft eines Mediums, rechte Akteure in ihrer Selbstdarstellung zu übernehmen. Wohlgemerkt ohne zu kontextualisieren, dass es sich hier um “Freiheit” für nur eine ganz bestimmte Gruppe von Menschen handelt und es zugleich um die Beschneidung der Freiheit derer geht, die nicht zu dieser Gruppe gehören. Dass jedoch selbst die Bezeichnung “libertär” nicht wirklich passt, wurde klar, noch bevor Milei seinen Mund öffnete: Den einleitenden Worten der “WELT” zufolge sei Milei “gegen Abtreibung, für Waffen und ein glühender Kapitalist”. Die letzten beiden Dinge mögen passen, doch Mileis absolute Ablehnung von Abtreibung ist das erste Zeichen, dass wir es hier nicht mit einem wirklich “Libertären” zu tun haben, sondern mit einer Kombination aus hart-rechten sozialen Ansichten und einem völlig entfesselten Kapitalismus – einer Verbindung, die der religiösen Rechten in den USA in den letzten Jahrzehnten scheinbar gut bekommen ist. 

Damit nicht genug: Milei selbst wertet Vergleiche zwischen seiner Person, Donald Trump und Jair Bolsonaro – zwei Politikern, die man begründet als Faschisten bezeichnen kann – als Kompliment. Beide hätten korrekt analysiert, wer der Feind sei – der Sozialismus: “Wir haben also diese gemeinsame Agenda, die darin besteht, den Sozialismus als Feind der Menschheit zu identifizieren.” Die, die ihm anhängen, gelten dann wohl ebenfalls als “Feinde der Menschheit” – was sollte dann wohl mit ihnen geschehen? Milei legt in seiner Argumentation nach: 

(…) Der Sozialismus wird getragen von Neid, Hass, Groll, Ungleichbehandlung vor dem Gesetz, Mord. Konkret ausgedrückt ist das so, als ob Du zu einem Wettkampf antreten musst und neben dir sitzt Usain Bolt. Die Frage ist also: Warum schneiden wir Usain Bolt nicht die Beine ab? Um damit die Ungleichheit zu beseitigen, weil du nicht so schnell wie er rennen kannst. Das Prinzip des Sozialismus ist die Einschränkung, das Prinzip des Kapitalismus ist die Freiheit. Der Neidvolle stellt die Gleichheit über die Freiheit. Und Liberale stellen die Freiheit über die Gleichheit.”

WELT-Reporterin „verliebt“ in verfassungsfeindliche Rhetorik?

Da es in rechten Kommentarspalten vom Transfeind bis hin zum klassischen Rechtspopulisten mittlerweile zum guten Ton gehört, gegen den Staat als Institution und gegen öffentlich-rechtliche Medien zu wettern, darf derartige Rhetorik natürlich auch hier nicht fehlen. Milei spricht von dem “Gehirnwäschesystem des öffentlichen Bildungssystems”, dem sich seine jungen Anhänger jetzt entziehen würden. Eine Rhetorik, die man sonst in den USA von Republikanern kennt, die den öffentlichen Bildungssektor zerstören wollen. Ähnliches Vokabular findet sich auch in dem transfeindlichen Artikel, der unter anderem von Marie-Luise Vollbrecht und anderen Wissenschaftlern im Juni 2022 in der “WELT” verfasst wurde, wo von “Indoktrination” durch den Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk (ÖRR) die Rede war. 

Anna Schneider, “Chefreporterin Freiheit” bei der “WELT”, zeigt sich bei Twitter angesichts Mileis Äußerungen entzückt. Sie sei “sehr verliebt gerade, bis auf das Abtreibungsthema, versteht sich”, schreibt sie. Mit Mileis Ansichten zum Waffenbesitz und seiner Leugnung des Klimawandels scheint sie keine Probleme zu haben. Sie twittert zustimmend ein Zitat Mileis, dass Staaten “kriminelle Organisationen” seien. Langsam dürfte man sich fragen, ob man mit solchen Äußerungen noch auf dem Boden der Verfassung steht.

Extreme Positionen zur Abtreibung bleiben unkommentiert

Statt Mileis Behauptungen zu hinterfragen, druckt die “WELT” seine Fabulierung von staatlicher “Gehirnwäsche” ab, ohne sie einzuordnen. Milei leugnet den Klimawandel, doch auch hier kontextualisiert die “WELT” kaum. Es wird lediglich angemerkt, seine Ansichten diesbezüglich würden von Klimaforschern “kritisch” gesehen – Milei darf seinen Klimawandel leugnenden Unsinn dann aber unwidersprochen äußern. Genauso wie seine Lügen zum Thema Abtreibung: 

“Das Leben beginnt im Moment der Empfängnis und endet mit dem Tod. Das heißt, das Leben ist zusammenhängend. Mit zwei getrennten Sprüngen, Empfängnis und Tod, jede Unterbrechung dazwischen ist Mord. Ich bin nicht für Mord, Abtreibung ist Mord. Wie verteidigt sich das Baby im Mutterleib? Der Heranwachsende im Körper der Mutter ist nicht der Körper der Mutter. Er ist ein anderer Mensch, ein Mensch in Evolution.” 

Hier äußert er eine extreme Vorstellung, die ihm bei den radikalsten religiösen Abtreibungsgegnern Standing Ovations bescheren würde und die den Weg freimacht für andere radikale juristische Konzepte wie “fetal personhood”, womit Abtreibung und Fehlgeburten als Mord strafrechtlich verfolgt werden könnten. 

Marktförmiger Extremismus: Unterschätzte Gefahr

Ulf Poschardt, Chef der WELT, zeigt sich von Mileis Ausführungen hellauf begeistert, und twittert “I love @JavierMilei” – statt “love” twittergerecht ein Herzchen. Mittlerweile hat er den Tweet gelöscht und macht sich derweil über seine Kritiker lustig. “Chefreporterin Freiheit” Anna Schneider beharrt jedoch auf ihrer “Verliebtheit” in Bezug auf Milei und kündigt noch wildere Aussagen für ihr kommendes Buch an. Dass radikale Ansichten wie Mileis in der “WELT”-Redaktion auf Zustimmung oder gar Begeisterung stoßen, sollte uns beunruhigen. Andreas Hövermann, Politikwissenschaftler, und Eva Groß, Kriminologin, bezeichnen derartige Ansichten als “marktförmigen Extremismus”, der mit rechtem Gedankengut einhergeht. Hövermann erklärt auf Twitter, was damit gemeint ist: 

Hövermann und Groß haben die Anschlussfähigkeit dieses “marktförmigen Extremismus” in Deutschland gemessen – mit erschreckenden Ergebnissen: durchschnittlich jeder vierte bis fünfte Deutsche stimmt ihnen zu. Hövermann hat wenig Hoffnung für die Zukunft: 

Was die Causa Milei in der “WELT” angeht, findet Hövermann auf Nachfrage hin klare Worte: 

“In der Tat halte ich es für mindestens bedenklich, wenn solch demokratiezersetzende Aussagen in der WELT unwidersprochen abgedruckt werden. Dass der Chefredakteur dieser Zeitung diesen Inhalt dann aber auch noch feiert und ihm dadurch zusätzliche Reichweite verschafft, mag von ihm als Provokation gedacht gewesen sein, verdeutlicht aber auch auf beunruhigende Art und Weise, dass dem Chefredakteur einer großen deutschen Zeitschrift die politische Verantwortungslosigkeit und Radikalität dieser Aussage entweder gleichgültig oder nicht bewusst ist. Einzig erfreulich daran ist der direkt erfolgte breite Aufschrei.“ 

Annika Brockschmidt ist Historikerin und Journalistin. Sie beschäftigt sich unter anderem mit dem Einfluss der Religiösen Rechten auf die amerikanische Politik. 2021 erschien ihr aktuelles Buch „Amerikas Gotteskrieger. Wie die Religiöse Rechte die Demokratie gefährdet“ bei Rowohlt. Artikelbild: Screenshots