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Kein Witz: Putin behauptet, er bekämpft Satanismus in der Ukraine

von | Nov 3, 2022 | Analyse

Seit Beginn des Ukraine-Kriegs lässt der russische Präsident Putin so einiges vom Stapel, um den gewaltvollen Angriff auf das Nachbarland zu legitimieren. Während er in der Ukraine zunächst einen altbekannten Feind wähnte und flugs von Entnazifizierung sprach (Quelle), begibt sich die Kreml-Lügen-Propaganda mit ihren Rechtfertigungen nun noch tiefer in die Vergangenheit – und kommt im Mittelalter raus. Denn welch größeres Ziel könnte es für Russland geben, als sich als höchst religiöses Land gegen atheistische, gar satanische Kräfte zu stellen? Richtig gehört. Nach acht Monaten brutaler Kriegsverbrechen hat sich der Kreml überlegt, dass es sich genau genommen um einen heiligen Krieg handelt (Quelle). Und man „Satanismus“ bekämpft. Wirklich wahr.

Das Narrativ: Putin als nationalheiliger Retter, die Ukraine voll von Satanismus

Die Behauptung: Der Satanismus sei in der Ukraine weit verbreitet, das Land müsse daher entsatanisiert werden (Quelle). Was völlig absurd klingt, stammt inhaltlich tatsächlich aus einer Handreichung, die die russische Präsidialverwaltung im Juli den Staatsmedien zur Verfügung gestellt haben soll. Demnach solle Putin mithilfe von Vergleichen mit dem Nationalheiligen Alexander Jaroslawitsch Newski zum Helden stilisiert werden. Als Heerführer verteidigte er sein Land im 13. Jahrhundert mehrfach gegen angreifende Kreuzritter. Schon in der Sowjetunion wurde er daraufhin zur wichtigen Propaganda-Figur, 2008 trat er aus einer Online-Umfrage als wichtigste Figur der Geschichte Russlands hervor. Noch heute gilt Newski als bedeutender Verteidiger des orthodoxen Glaubens (Quelle).

Als solcher möchte nach genaueren Überlegungen offenbar auch Putin anerkannt werden. Der Kreml setzt, fünf Monate nach Beginn des Ukraine-Kriegs, alles daran, den Überfall auf das Nachbarland als Kreuzzug gegen Ungläubige zu fingieren. So heiße es im herausgegebenen Handbuch der russischen Präsidialverwaltung: „Heute haben sich erneut Vertreter aller Völker Russlands gegen die Atheisten und die Verteidigung traditioneller Werte und des Rechts ihrer Kinder, in Übereinstimmung mit ihnen zu leben, versammelt.“ (Quelle)

In Russland gibt es tatsächlich mehr Atheist:innen als in der Ukraine

Wo und weshalb der Kreml in Russland eine atheistische Bedrohung sieht, geht aus dem Handbuch nicht wirklich hervor. Repräsentative Umfragen zeigen jedoch, dass sich beinahe 80 Prozent der Ukrainer:innen einer orthodoxen Konfession zugehörig fühlen. Darüber hinaus gehören rund zehn Prozent der griechisch-katholischen Kirche an und ein weiteres Prozent der Bevölkerung gehört dem Islam an. Unter einem Prozent sind weiterhin jüdische Religionsangehörige sowie buddhistische und hinduistische Bürger:innen erfasst (Quelle). Für atheistische Einwohner:innen bleibt da gar nicht mehr allzu viel Platz.

Oder besser: Weniger Platz als im russischen Nachbarland. Denn dort verortet eine Bevölkerungsumfrage vom Juli 2019 gleich 15 Prozent nicht-gläubiger Bürger:innen. Dadurch ist das orthodoxe Christentum mit 63 Prozent weniger verbreitet als in der Ukraine, der Islam mit fünf Prozent etwas stärker als im Nachbarland und ansonsten verhält es sich mit der religiösen Landschaft recht ähnlich (Quelle).

Was genau Putin mit seiner Armee bekämpfen möchte, bleibt also unklar.

Russlands ‚Dschihad‘ soll für die großen monotheistischen Religionen anschlussfähig sein

Doch die russischen Staatsmedien und ihre Komplizen haben da ein paar konkretere Theorien. So postulierte Ramsan Kadyrow, Präsident von Tschetschenien kürzlich, dass Russland einen Kampf gegen Satanist:innen führe (Quelle).

Sowohl Alexei Pavlov, stellvertretender Sekretär des russischen Sicherheitsrates als auch TV-Moderator Wladimir Solowjow schließen sich der Aussage einfach mal an. Ersterer beharrte darauf, dass die ukrainische Gesellschaft von ‚Fanatikern‘ definiert sei, die die Werte der russisch-orthodoxen Kirche sowie des Islam und Judentums über Bord werfen wollten (Quelle) – und versucht mit seiner Aussage, eine anschlussfähige Projektionsfläche für alle drei großen monotheistischen Religionen zu liefern, indem er diese ganz nonchalant direkt benennt. Fernseh-Persönlichkeit Solowjow erweiterte Kadyrows Statement derweil, indem er sagte: „Seht hin, unsere Leute kämpfen gegen das absolut Böse: [gegen die] gesamte satanische Maschine des Westens.“ (Quelle)

Die Verzweiflung hinter der „Satanismus“-Propaganda

Die Debatte erreicht wohl ihren Höhepunkt und wird völlig ad absurdum geführt, als sich Solowjow im Rahmen seiner Show mit einem Atheisten namens Yevgeny Satanovksy unterhält. Beide stimmen erneut der Aussage von Kadyrow, einem Moslem, zu – sie sind sich sicher, dass Russland in der Ukraine einen Dschihad, also einen islamischen Kampf oder Krieg auf dem Wege Gottes, durchführt. In einem Moment geistiger Helle fragt der atheistische Gast zurecht, warum er dieselben Werte vertritt wie sein orthodoxer Gesprächspartner. Beinahe scheint es, als wolle er darauf hinweisen, dass es sinnbefreit ist, der ukrainischen Bevölkerung jene Werte abzusprechen. Doch als Solowjow anfängt, davon zu erzählen, dass jeder normale Mensch solche Werte vertrete, hat Satanovsky keine Einwände mehr.

Etwas weiter im Gespräch spitzt Solowjow seinen Standpunkt weiter zu, indem er behauptet: „Das gesamte Gebiet der heutigen Ukraine ist das Schlachtfeld für den Kampf mit Iblis.“ – eine Figur des Korans, die dem Satan vergleichbar ist. Der Atheist Satanovsky stimmt zu.

Screenshot: Julia Davis, twitter

Auf Entnazifizierung und Entmilitarisierung folgt Entsatanisierung

Die Kreml-Propaganda scheint mit ihrem Latein am Ende. Nachdem die Allgemeinheit weder die Entnazifizierung noch die Entmilitarisierung als Rechtfertigung für den brutalen Angriffskrieg hat durchgehen lässt, beruft sich Putins Regime nun auf ein völlig absurdes Motiv: Die Entsatanisierung der Ukraine, in der sich doch über 90 Prozent der Bevölkerung zu weltweit anerkannten religiösen Gruppierungen bekennen, die so oder so ähnlich auch in Russland vertreten sind. Logik und Verstand werden – wie so oft im Rahmen der Kreml-Propaganda – einfach mal völlig über Bord geworfen, die Ähnlichkeiten der Religionszugehörigkeit zwischen Russland und der Ukraine ignoriert. Russische Staatsmedien stürzen sich auf die Gaga-Rhetorik von „Satanismus“ wie auf gefundenes Fressen und versuchen, das Motiv für die großen monotheistischen Religionen (und irrwitzigerweise auch für Atheist:innen) anschlussfähig zu machen. Wenn man schon wie gedruckt lügt, um seinen imperialistischen Angriffskrieg zu rechtfertigen, kann man ja gleich von Satanismus faseln

Artikelbild: EKO SOFIYANTONO, Max kegfire, Harold Escalona