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Putins Invasion: Darum halten Experten einen Atomkrieg für unwahrscheinlich

von | Mrz 13, 2022 | Aktuelles

Aus diesen Gründen halten Expert:innen einen Atomkrieg füra unwahrscheinlich

Von Jenny Beck

Seit Putin seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 begann, hat er mehrmals mit dem Einsatz von nuklearen Waffen gedroht (Quelle). Zunächst hieß es, Länder, die sich in den Krieg einmischten, müssten mit Konsequenzen rechnen, „die sie noch nie gesehen haben“ (Quelle) Am 27. Februar konkretisierte Putin seine Drohung dann und verkündete öffentlich, dass er die Atomstreitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt habe (Quelle). Doch wie realistisch ist ein Atomkrieg wirklich?

Ein Schritt auf der Eskalationsskala

Die erhöhte Alarmbereitschaft ist die zweite Eskalationsstufe des russischen Sicherheitssystems. Demnach steht nur noch eine weitere Stufe zwischen der erhöhten Alarmbereitschaft und dem Atomkrieg.

Ähnlich beunruhigend fühlen sich Putins Warnungen für viele scheinbar an – sie verfallen in Panik und fürchten katastrophale Szenarien (Quelle). Genau das möchte Putin mit seinen Drohgebärden von Atomkrieg wohl erreichen: Die Hilfsbereitschaft für die Ukraine soll brechen (Quelle).

Doch Expert:innen schätzen die Lage weniger besorgniserregend ein. So hält unter anderem Carlo Masala den Ausbruch eines Atomkriegs für unwahrscheinlich (Quelle). Gegenüber dem WDR sagte der Militärexperte der Münchner Bundeswehruniversität, dass die erhöhte Alarmbereitschaft „weit entfernt von einer konkreten Drohkulisse [ist], bei der man befürchten muss, dass Nuklearwaffen jetzt auf irgendwelche Ziele irgendwo im Westen oder den USA abgefeuert werden.“ (Quelle)

Zwei Supermächte in Konfrontation: Vereinigte Staaten setzen auf Deeskalation

Für Masalas Aussage spricht einiges. Insbesondere die umsichtige Reaktion der Vereinigten Staaten spielt eine essenzielle Rolle. Denn ebenso wie Russland sind die Vereinigten Staaten mit reichlich Nuklearwaffen ausgestattet (Quelle). Ginge der US-amerikanische Präsident Joe Biden also vorschnell auf die Drohungen Putins ein, so könnte das den russischen Kriegstreiber weiter provozieren.

Doch obgleich die Vereinigten Staaten in Sachen Atommacht mit Russland mithalten können, ignorierte Biden Putins Drohgebärden weitgehend (Quelle). Anstatt seinerseits nukleare Waffen bereit zu machen, verdeutlichte Botschafterin Linda Thomas-Greenfield, dass Russland keiner Gefahr ausgesetzt sei. „Dies ist ein weiterer eskalierender und unnötiger Schritt, der uns alle bedroht“, kritisierte sie das Verhalten Putins. „Wir fordern Russland dringend auf, seine gefährliche Rhetorik in Bezug auf Atomwaffen zu mäßigen.“ (Quelle)

Verschobener Testlauf einer Interkontinentalrakete

Die Mühen um eine Deeskalation von Seiten der Vereinigten Staaten gehen noch weiter: Am 02. März verschob das US-amerikanische Militär den geplanten Testlauf der Interkontinentalrakete LGM-30 Minuteman, um Missverständnisse zu vermeiden (Quelle). „Wir sind uns bewusst, wie wichtig es in diesem Moment der Spannung ist, dass sowohl die Vereinigten Staaten als auch Russland das Risiko einer Fehlkalkulation im Auge behalten und Schritte zur Verringerung dieser Risiken unternehmen“, begründete John Kirby, der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, die Entscheidung (Quelle).

Bereits einen Tag zuvor hatte das US-amerikanische Militär laut NBC News einen Kommunikationskanal eingerichtet, über den es direkt mit dem russischen Militär in Verbindung treten könne.

Dieser sei etabliert worden, um „Fehleinschätzungen, militärische Zwischenfälle und Eskalation“ zu verhindern, so ein US-amerikanischer Verteidigungsbeamter (Quelle). Demnach hatten die Vereinigten Staaten den Kanal aufgrund der räumlichen Nähe der US-amerikanischen und russischen Truppen in der Nähe der Nato-Ostflanke eingerichtet (Quelle). Der Kanal fungiert also nicht spezifisch als Instrument gegen einen nuklearen Angriff. Und doch kann klare Kommunikation zwischen den beiden Supermächten die Situation wohl nur erleichtern.

Einfach so Atomkrieg? Den roten Knopf kann Putin nicht so einfach drücken

Sollte die Situation wider Erwarten doch weiter eskalieren, so erlaubt die Befehlskette der russischen Atomwaffen immerhin keine impulsiven Entscheidungen. Neben Putin müssen sich, so vermuten Expert:innen, mindestens zwei weitere Personen über den nuklearen Angriff einig sein: Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Walerij Gerassimow. Erst wenn alle drei übereinstimmen, könne eine nukleare Waffe gezündet werden – und selbst dann könnten sich die Streitkräfte dem Befehl verwehren (Quelle). Viele vertrauen auf eine solche Stimme der Vernunft aus Putins Reihen, die im Fall der Fälle eingreifen würde.

Whistleblower im russischen Geheimdienst

Auch ein vermeintlicher Whistleblower des russischen Geheimdienstes FSB zweifelt einen Atomkrieg an. In einem Brief soll sich der Analyst über die Entwicklung des Angriffskriegs geäußert haben. Der investigative Journalist Christo Grozev des internationalen Recherchenetzwerks Bellingcat sei sich zunächst nicht sicher gewesen, ob der Brief wirklich von einem Mitglied des FSB stammte. Grozev bewertete ihn dann jedoch als eher zuverlässig, da der Brief von einer seriösen Quelle stamme und zu lang für einen Fake sei (Quelle). Zudem seien sich zwei seiner FSB-Kontakte sicher gewesen, dass ein Kollege den Brief geschrieben habe (Quelle).

Einerseits offenbarte der anonyme Analyst dementsprechend, dass der russische Angriffskrieg nicht so erfolgreich laufe wie erhofft. So heißt es, Putin habe keine Aussicht auf einen möglichen Sieg. Zur Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs auf Befehl Putins schreibt der vermeintliche Whistleblower weiterhin: „[Ich glaube nicht], dass Putin den roten Knopf drücken wird, um die ganze Welt zu zerstören.“ Er:sie beruft sich ebenfalls auf die komplexe Befehlskette und stellt zudem die Funktionalität der russischen Atombomben infrage. „Ich bin mir nicht sicher, ob das System des roten Knopfes so funktioniert, wie es angekündigt wurde. Hinzu kommt, dass die Plutoniumladung alle zehn Jahre gewechselt werden muss“, so das besagte Schriftstück (Quelle).

Die Nato ist den nuklearen Waffen Russlands nicht hilflos ausgeliefert

Sollten sich die Expert:innen sowie der vermeintliche Whistleblower doch täuschen, ist ein nuklearer Angriff von Seiten Putins dennoch nicht gleichbedeutend mit einer geglückten Offensive. Es gibt Möglichkeiten, eine Atombombe abzuwehren. So beispielsweise das Aegis-Kampfsystem (Quelle), das sich auf einigen australischen, japanischen, norwegischen, spanischen, südkoreanischen und US-amerikanischen Kriegsschiffen befindet. Mithilfe von Radargeräten ist es in der Lage, den Luftraum zu überwachen. Entdeckt der Radar einen (nuklearen) Angriff, dauert es keine 15 Sekunden, bis die Abfangraketen starten (Quelle). Sie zielen auf den gegnerischen Sprengkopf und versuchen, diesen in der Luft zu zerstören (Quelle).

Der Journalist und Waffensachverständige Lars Winkelsdorf erklärt auf Twitter, dass solche Abfangraketen in der Lage seien, die Zahl der Atombomben maßgeblich zu reduzieren (Quelle). Zudem habe Russland eigens Raketen entwickelt, die weniger Sprengköpfe transportieren, um die Zerstörung großer Mengen zu umgehen. Weiter benennt Winkelsdorf die primären Ziele eines potenziellen nuklearen Angriffs durch Russland: „die Raketensilos der amerikanischen Minuteman III, Stützpunkte für Bomber, Kommunikationszentren und Hafenanlagen für Raketen-Uboote“ (Quelle).

Denn bei einem solchen Angriff ginge es darum, dem Westen die Chance auf eine nukleare Reaktion zu nehmen (Quelle). „Abwehr gibt es also“, so der Waffensachverständige, „auch wenn diese lange nicht so aufgestellt ist, wie sie es sein sollte. Sie reicht aber bereits aus, um die Möglichkeiten bei einem Atomkrieg entscheidend zu reduzieren und zwingt unvermeidbar dazu, sie einkalkulieren zu müssen.“ (Quelle)

Fazit: Die westliche Solidarität muss den Drohungen Putins standhalten

Die Drohungen Putins und das resultierende Was-wäre-wenn-Szenario stimmen ängstlich und sollen den Westen einschüchtern, sowie dessen essenzielle Hilfsbereitschaft lähmen. Expert:innen sind sich derweil weitgehend einig, dass ein atomarer Erstschlag seitens Russlands aktuell eher unwahrscheinlich ist (Quelle). Zudem könnte sich die Nato gegen einen solchen wehren. Daher gilt: Erst einmal ruhig bleiben und Kräfte sammeln – denn in der Ukraine gehen bereits Bomben hoch. Es gibt schon jetzt Menschen, die Katastrophales erleben und unsere Hilfe brauchen.

Gastautorin: Jenny Beck. Artikelbild: Mikhail Klimentyev/Pool Sputnik Kremlin/AP/dpa

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