Laut der aktuellen Statistik für politisch motivierte Kriminalität stieg Muslimfeindlichkeit im vergangenen Jahr um 140 % an. Das ist der größte prozentuale Anstieg im Bereich Hasskriminalität und der höchste Wert seit Beginn der Zählung 2017. Nur Antisemitismus (5.200) und Ausländerfeindlichkeit (7.000) sind in absoluten Zahlen noch stärker gestiegen. Doch in der Berichterstattung taucht diese Entwicklung bislang kaum auf. Weder Politik noch Medien nehmen das Thema so ernst wie andere politische Straftaten. Und das nutzen Rechtsextreme aus.
Anmerkung zu den Fallzahlen: Die eigentlich größte Kategorie “fremdenfeindlich” besteht aus mehreren Teilkategorien, darunter auch ausländerfeindliche Straftaten.
Anstieg der Muslimfeindlichkeit: Schweigen in der PK des Innenministeriums?
Ein paar Beispiele: Im November wird eine Frau mit Palästinensertuch kurz vor der U-Bahn auf die Gleise gestoßen. Im Februar wird eine Moschee mit Hakenkreuzen und dem Schriftzug „AfD“ beschmiert. Im März wird einer Frau mit Baby das Kopftuch heruntergerissen. Und sie wird zusammengeschlagen. Ebenfalls im März versucht ein Mann, Feuer an einer Moschee zu legen. So eine aktuelle Chronik von Zeit Online.
Es gibt mehr als doppelt so viele Straftaten gegen Muslime wie 2022. So viele wie noch nie zuvor in der Erhebung. Es gibt Drohbriefe, Brandanschläge und Verletzte – und das Bundesinnenministerium erwähnt das nicht. Nicht in der Pressemitteilung zur Jahresbilanz der politischen Kriminalität. Und auch kein Wort dazu in der einstündigen Pressekonferenz. So war das letzte Woche Dienstag. Und für viele Muslime fühlt sich das zurzeit sehr merkwürdig an.
Dunkelziffer vermutet: Angst in der muslimischen Community steigt
Der Anstieg sei für Muslime deutlich spürbar, sagt Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland gegenüber dem Volksverpetzer. „Die muslimische Community hat vielerorts Angst. Und die Furcht vor Anschlägen zum Beispiel auf Moscheen hat enorm zugenommen“. Ganz zu schweigen von der Alltagsdiskriminierung.
Dazu kommt noch ein weiterer Punkt: „Ich fürchte, die Zahlen decken noch gar nicht alles ab“, sagt Mazyek. Viele Straftaten würden unter „ausländerfeindlich“ oder „flüchtlingsfeindlich“ gezählt. Obwohl viele Angreifer auf Geflüchtete zum Beispiel durchaus Muslime als Ziel im Kopf hätten, vermutet er.
Medien berichten kaum über steigende Muslimfeindlichkeit
Und nicht nur die Politik – auch die meisten Medien berichten kaum darüber, wenn Muslime angegriffen werden. In der Woche nach der Veröffentlichung der Statistik tauchte in Zeitungen laut Genios-Presse-Datenbank das Wort „islamfeindlich“ nur rund 50 Mal auf. Zum Vergleich: „Antisemitisch“ wurde rund 1.400 Mal erwähnt.
Woher kommt diese krasse Ungleichbehandlung? Sind muslimfeindliche Straftaten nicht so schlimm? Oder sind Muslime irgendwie selbst schuld? Oder ist das alles vielleicht nur eine Taktik, um von berechtigter Kritik am Islam abzulenken? So wirr das klingt. Es gibt Leute, die genau das behaupten. Aber der Reihe nach.
Straftaten gegen Muslime ähnlich gewalttätig wie Anstisemitismus
Zunächst einmal muss man festhalten: Gewalt gegen marginalisierte Gruppen ist ein in Deutschland weit verbreitetes Problem. Gerade im Kontext des seit dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober wieder aufgeflammten Nahostkonflikts sind sowohl Juden als auch Muslime davon betroffen. Und selbst, wenn es manchen Menschen in dieser hochemotional geführten Debatte schwerfällt, das anzuerkennen: Es gibt keine “besseren” oder “unwichtigeren” Opfer. Das belegen sogar die Zahlen.
Ein Blick in die Statistiken zeigt: Hass-Taten gegen Muslime sind ähnlich gewalttätig wie die gegen Juden. Im Bereich „Islamfeindlichkeit“ gab es im vergangenen Jahr 93 Körperverletzungen, mit 16 Verletzten und einem Schwerverletzten. In der Kategorie “antisemitische Straftaten” waren es 91 Körperverletzungen. Im selben Jahr wurden 70 Mal Moscheen angegriffen. 42 Mal waren es Synagogen.
Opfer werden zu Tätern gemacht
Eine andere häufige Reaktion ist die des „Whataboutism“, also der Versuch, einen Missstand durch den Verweis auf einen anderen zu relativieren. Sobald man von Straftaten gegen Muslime spricht, sagt jemand: „Aber man muss auch über die Gewalt von Muslimen sprechen / oder den Antisemitismus / oder den politischen Islam“. Das Problem: Damit macht man Opfer zu Tätern.
Wer von Straftaten betroffen ist, gehört wahrscheinlich eher zu den 90 Prozent der Muslime, die die Demokratie befürworten – und nicht zu den 0,5 Prozent extremistischen Islamisten, die der Verfassungsschutz zählt. Oder anders gesagt: Islamistischer Extremismus rechtfertigt nicht die Hassverbrechen gegen Muslime.
Wie verbreitet ist Antisemitismus unter Muslimen?
Und was ist mit dem Antisemitismus auf Pro-Palästinenser-Demos oder Kalifat-Demos? „Die übergroße Mehrheit der Muslime geht besonnen und zurückhaltend mit dem Nahostkonflikt um“, erwidert ZMD-Vorsitzender Mazyek, “obwohl es schwierig ist und viele Angehörige und Freunde dort verloren haben”. Die Kalifat-Demos habe man geschlossen verurteilt und da habe auch keine Moschee aus dem Verband mitgemacht, betont Mazyek.
Aber mit der Verurteilung ist es noch nicht getan. Die Frage, ob Antisemitismus unter Muslim*innen stärker verbreitet ist, wird schon länger erforscht. Und das gemischte Fazit der Antisemitismusforscherin Dr. Sina Arnold lautet: Ja, bei klassischem und israelbezogenen Antisemitismus. Bei Sekundärem Antisemitismus (Judenfeindlichkeit im Kontext der Erinnerung an den Nationalsozialismus) gibt es kaum Unterschiede zu Nicht-Muslimen. Allerdings führen diese Einstellungen offenbar seltener zu Straftaten: Nur ein Bruchteil der antisemitischen Straftaten führt die Polizei auf Täter mit „ausländischer“ oder „religiöser Ideologie“ zurück.
Antisemitismus ist also weiter verbreitet unter Muslimen. Natürlich muss man aber auch hier festhalten: Es ist trotzdem nicht okay, eine gesellschaftliche Gruppe gewalttätig anzugreifen – auch wenn in dieser Gruppe antisemitische Einstellungen weiter verbreiteter sind. Zumal die meisten antisemitischen Straftaten auch 2023 von Rechten kommen.
Muslimfeindlichkeit: Das größere Problem hinter den Schlagzeilen
„Wir erleben ein Unsichtbar-Machen von Muslimen als Opfer“ sagt Rima Hanano. „Gleichzeitig tauchen Muslime in der medialen Debatte seit Jahren als Verdachtsfall auf, als Sicherheitsrisiko oder als Integrations-Problem.“ Hanano ist Leiterin von „CLAIM“, einem Zusammenschluss von mehreren zivilgesellschaftlichen Institutionen gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit und antimuslimischen Rassismus. Claim erhebt selbst Zahlen zu Angriffen auf Muslime und hat schon früh auf den Anstieg hingewiesen.
Hinter dem Anstieg bei Straftaten stecke ein negatives Islam-Bild in den Medien und weit verbreitete Ängste in der Bevölkerung. So empfindet zum Beispiel mehr als die Hälfte der Bevölkerung den Islam laut Umfragen als „bedrohlich“, so der „Religionsmonitor“ der Bertelsmann-Stiftung 2023. „Wenn jede zweite Person anti-muslimischen Aussagen zustimmt, ist das ein Klima, in dem Straftaten gegen Muslime als normal angesehen werden“, sagt Hanano.
Ungleichbehandlung ist ein Problem für alle
„Rechtsextreme achten sehr genau darauf, welche Hierarchisierungen beim Rassismus vorgenommen werden“, sagt Aiman Mazyek vom Zentralrat der Muslime. „Und wenn sie merken, dass bestimmte Gruppen nicht so geschützt sind, stürzen sie sich darauf.“ Und das öffne dann Tür und Tor für Rassismus insgesamt. „Man darf den Gegnern der Demokratie keine offene Flanke bieten.“
Das zeige sich auch in den Strukturen. Es gebe völlig zu Recht Beauftragte der Bundesregierung für Antirassismus, Antisemitismus oder Antiziganismus – aber keinen für Muslimfeindlichkeit oder für muslimisches Leben“, so Mazyek. Das zeigt: „Nicht alle Formen von Menschenfeindlichkeit werden gleich ernst genommen.“
Wichtige wäre eine „Gleichzeitigkeit“ bei der Bekämpfung dieser Probleme, betont Hanano von Claim. „Das wäre nötig, um Antisemitismus, antimuslimischen Rassismus und auch Rechtsextremismus oder Islamismus wirksam zu begegnen.“ Nur so könne man die Zahlen der politische motivierten Kriminalität nach dem Höchststand 2023 wieder dauerhaft runterfahren.
Titelbild: Kay Nietfeld/dpa