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Zu viel Entweder-Oder im Kampf gegen Rechtsextremismus und Islamismus

von , | Mai 8, 2024 | Aktuelles

Die Demokratie in Deutschland ist bedroht – von gleich mehreren Seiten. Die Gefahr, welche von rechtsextremer Gewalt ausgeht, zeigt sich seit Jahren immer wieder. Zuletzt im brutalen Angriff auf den SPD-Politiker Matthias Ecke. Gleichzeitig wurde auch eine Bedrohung durch islamistische “Kalifat”-Forderer zuletzt deutlich. Beide Ideologien eint ihre demokratiefeindliche Ausrichtung, Demokrat:innen sollten beide also entschlossen bekämpfen. Und doch ist auffällig, wie viele Menschen sich schwer tun, an Islamismus und Rechtsextremismus gleichzeitig Kritik zu formulieren.

Wir müssen mehr Komplexität und Gleichzeitigkeit aushalten – was für eine Binse. Aber sie ist wahr. Tatsächlich leben wir in einer demokratischen Gesellschaft, die gerade von vielen Seiten massiv unter Druck gerät. Außenpolitisch wären da der fortlaufende russische Angriffskrieg gegen die gesamte Ukraine zu nennen, die imperialistischen Bestrebungen Chinas, ein möglicher Flächenbrand im Nahen Osten, aber auch die drohende zweite Amtszeit eines US-Präsidenten Trump und Spionagetätigkeiten, die die Sicherheit Deutschlands bedrohen. Innenpolitisch ist die Gefahrenlage nicht minder divers. Denn es gibt viele Bewegungen, die lieber ohne Demokratie leben würden. 

Rechtsextremismus und Islamismus auf den Straßen

Am 6. April 2024 versammelten sich im thüringischen Gera rund 1.000 Angehörige der “Reichsbürger-Szene”. Sie leugnen die Existenz der Bundesrepublik, lehnen die Demokratie ab und wünschen sich, je nach ideologischer Ausrichtung, das Kaiserreich oder das “Dritte Reich” zurück. Und das nur wenige Wochen vor dem Prozessauftakt am 29. April gegen den militärischen Flügel der “Reichsbürger”-Gruppe um Heinrich XIII. Prinz Reuß, die einen bewaffneten Umsturz geplant haben soll.

Drei Wochen später, am 27. April 2024, rief die islamistische Gruppe “Muslim Interaktiv” zu einer Versammlung gegen “islamfeindliche Berichterstattung” am Hamburger Steindamm auf. An dieser nahmen ebenfalls rund tausend Menschen teil. Es war nicht die erste Versammlung dieser Art, die von “Muslim Interaktiv” in Hamburg organisiert wurde. Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hat die Gruppe vor allem die Arbeit gegen den jüdischen Staat intensiviert.

Sie gilt als ideologisch verbunden mit der 2003 durch Innenminister Otto Schily (SPD) verbotenen Partei “Hizb ut-Tahrir”. Diese strebt laut eigenen Angaben die Zusammenführung der muslimischen Welt, der Umma, in einem Kalifat unter den Gesetzen der Scharia an. Als Reaktion auf die Versammlung am 27. April riefen mehrere Akteur*innen, darunter auch SPD, Grüne und CDU, dazu auf, am selben Ort gegen die Forderungen ein Kalifat zu errichten, zu demonstrieren. Auch „Muslim Interaktiv“ reagierte auf die mediale Berichterstattung. Die Gruppe ruft für kommenden Samstag erneut zur Teilnahme an einer Kundgebung am Steindamm auf.

Auch “Mitte der Gesellschaft” ist nicht immun

All diese Bestrebungen gegen die Demokratie mit der “Extremismustheorie” über einen Kamm zu scheren und sie als das Gegenüber der sogenannten “Mitte der Gesellschaft” zu charakterisieren, wäre verkürzt. Denn ihre Ideologien sind tief in dieser sog. Mitte verbreitet. Gleichermaßen lassen sich bei diesen Gruppierungen gewisse Gemeinsamkeiten beobachten. Sie machen es notwendig, dass sich alle zusammenschließen, denen die Errungenschaften der liberalen Demokratie am Herzen liegen: individuelle Freiheiten, Minderheitenrechte, zunehmende Gleichstellung von Frauen. 

Geeint werden islamistische und extrem rechte Bewegungen gegen die Demokratie durch ein Weltbild, für das die*der Einzelne nichts, das Kollektiv jedoch alles ist. Sie wollen hinter alles zurück, was durch Aufklärung und die vielen bürgerrechtlichen Kämpfe marginalisierter Gruppen erreicht wurde. Denn die Aufklärung – mit all ihrer Dialektik, mit all ihrem Rassismus und Antisemitismus – ist doch die Grundlage für die Freiheiten, die diese Staatsform garantieren soll. Freiheiten, die der extremen Rechten als auch dem Islamismus ein Dorn im Auge sind. Diese Bewegungen werden vereint durch ihren Wunsch nach einer homogenen Gemeinschaft, die nur durch Ausgrenzung bis hin zur Vernichtung dessen erreicht werden kann, was nicht-identisch ist. Und sie greifen dabei zu ähnlichen Maßnahmen. 

Sie nutzen die modernste Technik, um damit gegen die Moderne zu kämpfen. Sie sind mit ihren einfachen Botschaften extrem erfolgreich auf TikTok und anderen sozialen Plattformen. “Muslim Interaktiv” nutzt ähnliche Inszenierungen wie die neofaschistische Identitäre Bewegung oder auch die AfD. Beide erobern den vorpolitischen Raum. Sie wissen, wie sie den Kampf um die Köpfe gewinnen. Sie wollen kulturelle Hegemonie erreichen. Und wie es der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn beschreiben würde, sind diese Bewegungen verbündet in dem Versuch der “antisemitischen Revolution”.

Islamismus und Rechtsextremismus gleichermaßen kritisieren

Es ist bemerkenswert, dass sich so viele Menschen schwer damit tun, gleichzeitig eine Kritik an Islamismus und extrem rechtem Denken zu formulieren. Man muss diese nicht gegeneinander aufwiegen. Man sollte sie aber auch nicht gegeneinander ausspielen. Doch während viele Akteur*innen der politischen Linken sich mit einer angemessenen Kritik am Islamismus schwer tun, sind große Teile der moderaten Rechten nicht in der Lage, die Bedrohung durch die extreme Rechte überhaupt angemessen zu erfassen. 

Nach der Kundgebung von “Muslim Interaktiv” zeigte der medial-politische Diskurs wieder einmal seine autoritär-populistische Ader. Entgegen der Behauptungen mancher Journalist*innen und Mitglieder des Deutschen Bundestags müssen Demonstrationen in Deutschland nicht genehmigt werden. Das Internet tobte vor Verbotsforderungen, obwohl das Recht, die eigene (antidemokratische) Meinung auf die Straße zu tragen, ein Grundrecht ist. Jegliche Spannung zwischen der “Freiheit des Andersdenkenden” und der Notwendigkeit, antidemokratische Bewegungen dort zu bekämpfen, wo sie die Demokratie aushöhlen, wurde  im Law-and-Order-Furor vergessen. Verbote werden die gravierenden Versäumnisse in der Auseinandersetzung mit islamistischer Radikalisierung nicht beheben. Abschiebungen lösen das Problem ebenfalls nicht. 

Bei Deutschland handelt es sich um eine postmigrantische Gesellschaft. Viele Muslim*innen, die antisemitisch oder islamistisch agieren, sind Staatsbürger*innen der zweiten und dritten Generation. Sie sind hier geboren und durch sämtliche Bildungsinstitutionen gegangen. Sie können gar nicht abgeschoben werden. Ähnlich sieht es auch bei einem der Wortführer der Gruppe “Muslim Interaktiv” Joe Adade Boateng, der sich Raheem nennt, aus. Die Mutter des 25-jährigen Lehramtsstudenten ist Deutsche und der Vater Ghanaer. Inzwischen äußerte sich auch Hamburgs Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank (Bündnis 90/Die Grünen) zu Boateng:

„Extremisten werden nicht in den Hamburger Staatsdienst übernommen, werden dort nicht eingestellt. Diese Person ist bekannt, der Name ist bekannt und deshalb wird er in Hamburg kein Lehrer sein.“

Quelle: t-online.de

Und dass der Entzug der Staatsbürgerschaft so schwierig ist, hat in unserer post-nazistischen Gesellschaft ebenfalls wichtige und historische Gründe. 

Fazit: Die demokratische Gesellschaft muss sich gegen ihre Feinde wehren

Und so kommen wir dazu, wie wir auf beide Probleme adäquat reagieren müssen. Mit einem Strafrecht, das sich auskennt und konsequent angewendet wird, sowie einer Bildungsoffensive, die diese Probleme an der Wurzel packt und auf der Höhe der Zeit ist. Es ist an der Zeit, den fehlenden Protest gegen islamistische Raumkampfstrategien auf die Straße zu tragen, so wie gegen Aufmärsche der extremen Rechten. Es ist an der Zeit, in sozialen Medien gegenzusteuern und den digitalen Raum nicht antidemokratischen Influencern zu überlassen. Es ist an der Zeit, Räume in Schulen, Universitäten und der Erwachsenenbildung zu schaffen, in denen Kinder handlungsfähig gegen Antisemitismus, Rassismus, Neonazismus und Islamismus gemacht werden. Es braucht einen Wissenstransfer aus der Forschung in die Staatsanwaltschaften, Polizei und Gerichte.

Titelbild: Private Aufnahme