Sodom und Görlimorrha
Selbst Leser vermeintlich seriöser Zeitungen und Zuschauer von ARD-Investigativformaten müssen den Eindruck haben, Bundeskanzlerin Merkel habe im Herbst 2015 irgendwie versäumt, das Tor zur Hölle zu schließen und seitdem spielten sich ausgerechnet in Berlins Görlitzer Park Szenen ab wie in einem Hieronymus-Bosch-Gemälde. Vielleicht hätten die Redaktionen vor der Veröffentlichung ihrer reißerischen Artikel und Beiträge einfach nach entsprechenden Zahlen fragen sollen – diese zeichnen nämlich ein ganz anderes Bild.
von Tobias Wilke
Es scheint allgemein Konsens zu sein in etlichen Redaktionen, dass der gemeine, asketische Deutsche im Herbst 2015 dem Erstkontakt mit jenen, selbstverständlich erst von „Schwarzafrikanern“ eingeführten, illegalen Drogen wenig entgegen zu setzen hatte. Fast so wie die Indianer dem ihnen bislang unbekannten Alkohol bei der blutigen Besiedelung Nordamerikas durch europäische Eroberer. Immerhin haben die berauschten Berliner ihren „Invasoren“ für ein paar Gramm Cannabis nur einen ihrer Parks verkauft und künftige Generationen müssen nicht in einem Reservat irgendwo in Brandenburg auf Casinobesucher warten.
Dieser Eindruck vermittelt sich jedenfalls angesichts etlicher Artikel und Fernsehbeiträge zum Thema „Görlitzer Park“.
Wer hat Angst vorm „Schwarzen Mann“?
„Gleich am Eingang des Parks hält sich ein Dutzend Afrikaner auf“, heißt es Ende Oktober in einem Artikel der FAZ. „Sie fragen: Was brauchst Du? Marihuana, was anderes?“. Für Dorfbewohner der Altersklasse 80+ dürfte der Spannungsbogen damit schon fast überspannt sein, doch die Konkurrenz hat auch noch ein paar Pfeile im Köcher.
„Wer den Park besucht, findet allerorten vor allem afrikanische Dealer. Viele sind als Flüchtlinge eingereist.“ bewirbt das ARD-Magazin Kontraste Ende Juli seinen Fernsehbeitrag. „Sexistische Übergriffe sind keine Seltenheit – vor allem nachts kommt es häufig zu Gewalttaten.“ Entsprechende Zahlen, die das belegen könnten, bleibt der Beitrag schuldig, kommt aber offenbar so gut an, dass die Redaktion Anfang Oktober noch eine 30-minütige Reportage nachschiebt. Auch in dieser wird konsequent auf Belege für teilweise recht steile Thesen verzichtet.
„Deutschlands schlimmster Park“ nennt die BILD den „Görli“, der Tagesspiegel schlägt mit „Deutschlands Problempark Nummer 1“ in die gleiche Kerbe. Immer wieder sind es „Afrikaner“, die seit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ im Jahr 2015 aus einer 14 Hektar großen Grünanlage im Herzen Berlins eine No-Go-Area gemacht haben sollen, in der offenbar selbst der zum vorabendlichen Gassigang mitgeführte Pitbullterrier ständig damit rechnen muss, seines Nietenhalsbands bestohlen, sexuell missbraucht und mit exotischen Gewürzen mariniert auf einem selbst gebauten Grill irgendwelcher, nichtweißer Migrationsberliner zu landen.
Eine Erklärung, wie ein selbst noch so findiger Reporter allein durch Inaugenscheinnahme der Hautfarbe Rückschlüsse ziehen kann auf Staatsbürgerschaft und Aufenthaltsstatus, bleiben übrigens sämtliche der hier zitierten Redaktionen schuldig. Vielleicht stehen da auch einfach ein paar dunkelhäutige Schwaben oder Schweden im Park herum?
Wen interessiert’s? Immerhin die FDP!
Nachdem also etliche Redaktionen ihre Klickzahlen und Zuschauerquoten mit weitgehend recherchefreien Görli-GAUs eingeheimst, gegebenenfalls statistisch aufbereitet, ausgedruckt und eingerahmt haben, dürfte ausgerechnet die in Berlin relativ bedeutungslose FDP-Fraktion den Traum vom Dauerbrennerthema mit einer brachialen Blutgrätsche beendet haben: mit einer schnöden, kleinen Anfrage an den Senat.
Der FDP-Abgeordnete Marcel Luthe stellt genau jene Frage, die Journalisten hätten stellen müssen: wie hat sich die Kriminalität in Berliner Parks seit 2014 (also vor der sogenannten „Flüchtlingskrise“) entwickelt? Die Tabellen aus der Antwort der Senatsverwaltung für Inneres und Sport listen auch für den Görlitzer Park die erfassten Straftaten auf vom 1. Januar 2014 bis einschließlich 13. November 2019. Demnach haben sich dort ausgerechnet die medial hochgejazzten Sexual-, Diebstahl- und Drogenhandelsdelikte im fast abgelaufenen Kalenderjahr halbiert(!) im Vergleich zu 2014.
Deutschland im Rausch
Der Gedanke, dass erst mit der sogenannten „Flüchtlingswelle“ 2015 auch illegale Drogen über das Land der Dichter und Denker schwappten, sollte eigentlich nicht nur Hauptstadtbewohnern reichlich merkwürdig vorkommen. Immerhin hat sich Bayer den Markennamen „Heroin“ schon 1898 schützen lassen, der in Berlin entwickelte Crystal-Meth-Vorgänger „Pervitin“ half der Wehrmacht, besonders stramm in Frankreich einzumarschieren und der Bestseller aus den 1970ern „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ beschreibt nicht die Drogenkarriere von Mohammed E., sondern von Christiane F.
Wer ist überhaupt „Dealer“?
Dass die Zahl der Drogendelikte in Deutschland seit einigen Jahren wieder kontinuierlich steigt, hat weniger mit Geflüchteten zu tun als vielmehr mit dem Fokus der Polizei. Sogenannte „Konsumentendelikte“, also der Besitz kleiner Mengen Cannabis, dürften zu den am leichtesten aufzuklärenden Straftaten gehören: wer bei einer Personenkontrolle mit nur wenigen Krümeln Cannabis „erwischt“ wird, geht als gelöster Fall in die Kriminalstatistik ein. Ganz egal, ob die Staatsanwaltschaft Anklage erhebt oder nicht.
Der Handel -auch mit geringen Mengen Cannabis- hingegen ist etwas völlig anderes. Bei der Abgabe an Minderjährige ist eine Freiheitsstrafe sogar zwingend. Doch die Handelsdelikte im Görlitzer Park haben sich seit 2014 halbiert, genau wie Sexual- und Diebstahldelikte. Wenn also ständig von einer „Explosionsartigen Zunahme durch schwarzafrikanische Dealer“ und einer „ohnmächtigen Polizei“ im Görlitzer Park die Rede ist, widerspricht das der implosionsartigen Abnahme der entsprechenden Zahlen.
Als „mutmaßlicher Dealer“ kann bezeichnet werden, wer als Tatverdächtiger beim Verkauf von illegalen Drogen ermittelt wird. Alles andere ist Spekulation. Wenn dann noch „mutmaßlich“ weg fällt, nur weil es um „Schwarzafrikaner“ geht, wird aus Spekulation Populismus. Kein Ruhmesblatt für die hier zitierten Redaktionen…
Artikelbild: “Das Weltgericht” von Hieroynmus Bosch, 1482