Dieser Versuch eines Whataboutismus ging nach hinten los: Katarer wollten eine Doppelmoral des DFB im Umgang mit Özil kritisieren. Die gingen 2018 nicht im Guten auseinander, es gab auch Vorwürfe des Rassismus, aber um Özils Kritik an der Behandlung der Uiguren in China 2019 konnte es offensichtlich nicht gehen, was einige behaupten.
Schon lange ist es keine Übertreibung mehr, dass man abseits vom Fußballfeld über die WM in Katar nur den Kopf schütteln kann. Menschenrechtsverletzungen, moderne Sklaverei, Korruption bei der WM-Vergabe, und offen homophobe Äußerungen seitens hochkarätiger Katarer gehören auf der politischen Ebene der WM zum Alltag.
Manche FIFA-Funktionäre hatten wohl gehofft, dass die Kritik abebben würde, sobald mal Fußball gespielt wird. Wurde nichts draus. Die FIFA hangelt sich von einer red flag zur nächsten. Der Selbstanspruch der FIFA, Fußball zu demokratisieren, ist schon lange eine Farce. Auf ihrer Webseite soll man herausfinden können, wie sich die FIFA das vorstellt – wie’s jedoch nicht funktioniert, zeigt gefühlt jede Entscheidung, die im Zusammenhang mit der WM 2022 getroffen wird. Mit schlechtem Beispiel voranzugehen, scheint das aktuelle FIFA-Motto zu sein.
Ausgangspunkt: Die “Protestaktion” – oder das, was davon übrig blieb
Eines der neuesten Dramen: Kapitän Manuel Neuer durfte nun doch nicht wie vereinbart die One-Love-Binde tragen, was ohnehin nur der Outcome eines Kompromisses gewesen wäre. Eigentlich war die Idee, eine Regenbogenflagge am Arm zu tragen. FIFA und DFB sind jedoch kurzfristig eingeknickt. Der DFB drückte zwar sein Bedauern aber entschied, sich der FIFA zu beugen, um keine gelbe Karte für Neuer zu riskieren. Sofort prasselte es aus Deutschland Kritik – von Politiker:innen, Fans und in den sozialen Medien.
Die Nationalspieler Irans hatten den Mut, zur Nationalhymne zu schweigen und deutlich schwerwiegendere Konsequenzen in Kauf zu nehmen als eine gelbe Karte am Anfang des Spiels. Wozu sich die deutsche Nationalmannschaft schließlich durchringen konnte: Eine mehr oder weniger aussagekräftige Mund-Zuhalten-Aktion zu Beginn des Spiels gegen Japan. Gedeutet wurde das als Zeichen dafür, dass man sich von der FIFA mundtot gemacht fühlt. Im Vergleich zum Schweigen der iranischen Nationalspieler irgendwie nicht so eindrucksvoll und mutig. Aber gut, besser als gar nichts.
Katarer spotten, doch vergessen: Sport ist politisch
Manche deutsche Fans kritisierten also, dass das Signal noch zu schwach war. Doch viele Katarer im Stadion scheinen eine ganz andere Meinung über die Protestkultur (wenn man das überhaupt so nennen kann) der deutschen Elf zu haben. Während der Partie Spanien – Deutschland imitieren katarische Fans die deutsche Mund-Zuhalten-Geste und halten Plakate mit dem Gesicht von Mesut Özil hoch. Sie scheinen sich über die deutsche Nationalelf lustig zu machen.
Klar ist: vielen katarischen Fans geht die Politisierung der WM seitens der Deutschen zu weit – man erhält den Eindruck, am liebsten wäre es ihnen, alle würden die WM-Ausrichtung und Durchführung ganz toll finden. Und ja, manche Reporter:innen und Journalist:innen gehen in ihrer Kritik an Katar zu weit und rutschen in antimuslimische und rassistische Ressentiments ab. Grundsätzlich ist Fußball aber nun mal politisch und eine WM eine großartige Gelegenheit, politische Statements zu setzen und die FIFA nicht einfach machen zu lassen, sondern für mehr Demokratie und Menschenrechte zu appellieren! Aber was hat jetzt Mesut Özil damit zu tun?
Die absurde Causa Özil
Dafür müssen wir ein bisschen aufholen, was denn genau mit Fußballstar Mesut Özil und dem DFB los war. Fest steht, dass Özil seit 2018 nicht mehr für die Nationalelf spielt, er selbst ist aus der Nationalmannschaft ausgetreten. Hintergrund war, dass seine Bilder mit Recep Tayyip Erdogan, dem türkischen Präsidenten (seinerseits bekannt für Menschenrechtsverletzungen), viel Protest in Deutschland auslösten. Nicht nur der DFB forderte von Özil, sich vom türkischen Machthaber zu distanzieren. Özil reagierte auf den Druck und die Vorwürfe mit seinem Rücktritt aus der Nationalelf. Das war damals kurz nach dem Ausscheiden Deutschlands aus der WM in Russland. In seiner ausführlichen Stellungnahme führt er seine Entscheidung vor allem auf Rassismus zurück, den er im DFB wahrgenommen habe: „Ich bin Deutscher, wenn ich gewinne, und Einwanderer, wenn ich verliere.“
Ob wohl die katarischen Fans auf diesen Disput angespielt haben? Also frei nach dem Motto, „wieso kümmert sich der DFB so sehr um Menschenrechte in Katar, wenn er nicht einmal seine eigenen Rassismusvorwürfe aufgearbeitet hat?“. Gut möglich, auch wenn sich das nicht bestätigen lässt. Fest steht aber, wie die Interpretation in den sozialen Medien ausfiel. In oftmals auffallend LGBTQI+-feindlichen Social Media Statements bringen User:innen in der Özil-Geschichte viel durcheinander. So wird der DFB dafür kritisiert, Özil für sein Statement zu der Situation der Uiguren in China bestraft zu haben, selbst jedoch in Katar ein Zeichen für Meinungsfreiheit setzen zu wollen. An dieser Stelle werden Dinge miteinander vermischt, die rein chronologisch und faktisch nichts miteinander zu tun haben.
Plottwist: Özil-Äußerung kam erst NACH Rücktritt!
Ob man dem DFB Doppelmoral in irgendwelcher Hinsicht vorwerfen möchte, soll mal dahingestellt sein. Denn ganz bestimmt handelt der Verband nicht immer moralisch richtig und könnte sich deutlicher zu verschiedensten Themen positionieren. Ob die Rassismusvorwürfe von 2018 gerechtfertigt sind, ist an dieser Stelle ebenfalls nicht das Thema. Doch zu behaupten, der DFB handele moralisch nicht stringent, weil er Özil aufgrund seiner Kritik am Umgang Chinas mit der uigurischen Minderheit bestraft hätte, ist faktisch schlichtweg falsch.
Özil trat 2018 aus eigenen Stücken aus der Nationalmannschaft aus. Erst ein Jahr später, 2019, tritt er erneut politisch in den Vordergrund. Damals kritisierte er die angespannte Menschenrechtslage der Uiguren in China, eine muslimische Minderheit im Land, die systematisch unterdrückt wird. Zu diesem Zeitpunkt ist er jedoch schon kein Spieler der Nationalelf mehr. Er hat also mit dem DFB nichts mehr zu tun. Allein sein damaliger Verein, der FC Arsenal, distanzierte sich von Özils Aussage. Das übrigens wohl aus wirtschaftlichen Gründen aufgrund von Partnerschaften in China.
Fazit: Fake News sind ein Problem – egal von wem!
Was die Absicht der katarischen Fans mit ihrer Aktion gewesen ist, darüber kann nur spekuliert werden. Wurde der Fall Özil absichtlich falsch konstruiert? Geschah dies erst im Nachhinein durch die Reaktionen auf Social Media? Sollte im Stil des Whataboutism erneut von der katastrophalen Menschenrechtslage in Katar abgelenkt werden? An dieser Stelle lassen sich die katarischen Fans wenig in die Karten schauen. Fest steht jedoch, dass Fake-News und falsche Sinnzusammenhänge in sozialen Netzwerken schnell Feuer fangen. Auch das: leider eine old story.
Titelbild: Federico Gambarini/dpa