Querdenken und die russische Coronapolitik
Der rechtsalternative Publizist Boris Reitschuster veröffentlichte am 23. Mai einen Beitrag auf seinem Blog, worin er von den kaum vorhandenen Coronamaßnahmen sowie einem freien, gefahrlosen Leben wie vor Corona in der russischen Hauptstadtmetropole Moskau schwärmt. Er hängt seinem Text eine etwa 30-minütige Videoreportage an, worin er das „pralle Nachtleben“ auf Moskaus Straßen dokumentiert. In einem weiteren Beitrag auf dem Reitschuster Blog vom 28. Juni schreibt die russischstämmige Journalistin namens Ekaterina Quehl von den lebensfrohen Eindrücken in St. Petersburg:
„Sicher gibt es hier viele Erkrankte und jeder kennt einen, der schon mal krank war oder von einem Todesfall im Bekanntenkreis gehört hat. Aber die Menschen gehen eben damit anders um: ohne Angst und Hysterie. Und sie sind definitiv nicht bereit, ihre Freiheiten wegen dieser Krankheit aufzugeben.“
Auch andere Akteure aus dem Querdenken-Spektrum linsten sehnsuchtsvoll seit letztem Sommer nach Russland hinüber. Und glorifizierten auf den Anti-Corona-Demonstrationen die laxen Maßnahmen der russischen Regierung im Kampf gegen das Virus. Auch in Berlin jubelten sie vor der russischen Botschaft und skandierten Putins Namen. Denn der Kreml hatte Corona im Juni 2020 für „besiegt“ erklärt, um die Abstimmung über Verfassungsänderungen zu ermöglichen, die Putins Präsidentschaft bis 2036 zementieren. Seither ging das Leben in Russland beinahe wie gewohnt weiter. Die Leute feierten in Clubs und Bars, besuchten Restaurants, Theater und trieben Sport in Fitnessstudios und Schwimmbädern. Masken, auch wenn an einigen Orten obligatorisch, wurden dabei kaum getragen.
Was Reitschuster und Co in diesen Artikeln verschweigen
Bei all dem Schönreden der russischen, achtlosen Coronapolitik verschweigen Reitschuster und Konsorten in diesen Artikeln jedoch vor allem eines: Spätestens jetzt zeigt sich das erschreckende Ergebnis der Ignoranz der russischen Regierung mit aller Härte. Russland befindet sich aktuell auf dem vierten Platz der am schlimmsten von Corona betroffenen Ländern, Tendenz steigend (Quelle). Es gibt ein Rekordhoch an Todes- und Ansteckungsfällen (Quelle), davon über 90 Prozent mit der Deltavariante des Coronavirus (Quelle). Deutschland stuft Russland nun als Risiko- und Virusvariantengebiet ein und verhängt eine 14-tägige Quarantäne für alle Reiserückkehrenden, selbst bei vollständigem Impfschutz (Quelle).
Am vergangenen Wochenende wurden in den zwei größten Städten, Moskau und St. Petersburg binnen 24 Stunden jeweils weit über 100 Todesfälle vermeldet, täglich werden insgesamt mitunter über 20 000 Ansteckungen und mehrere Hundert Todesfälle registriert (Quelle). Die Dunkelziffer liegt aller Wahrscheinlichkeit weit darüber, da noch immer wenig getestet wird, besonders in Regionen außerhalb der Großstädte. Seit Beginn der Pandemie werden Zahlen nach unten „korrigiert“, Angaben unterschiedlicher Behörden gehen weit auseinander. Besonders die Situation in den Krankenhäusern offenbart ein alarmierendes Infektionsgeschehen: Coronainfizierte werden in den Fluren untergebracht (Quelle) oder zum Sterben nachhause geschickt, heißt es mit vorgehaltener Hand.
Doch auch vor dem explosionsartigen Anstieg der Coronafälle gab es viele schwere Krankheitsverläufe und Todesfälle – viele von ihnen wurden jedoch einfach nicht von den Behörden registriert, um das Bild zu wahren, die Situation sei unter Kontrolle. Fast jede:r in Russland kennt jemanden, der an Corona erkrankt war oder gar verstorben ist (Quelle).
Querdenker:innen bejubeln die “Corona-Diktatur” in Russland
Somit bagatellisieren Blogs wie Reitschuster einerseits die vielen coronabedingten Todesfälle in Russland. Darüber hinaus verschweigen viele Querdenker:innen die diktatorischen Maßnahmen, die nun zur Bekämpfung der Pandemie von der russischen Regierung ergriffen wurden. Denn anders als in Deutschland, können sich die Menschen im autokratisch regierten Russland keineswegs frei dafür entscheiden, ob sie Maßnahmen einhalten und sich impfen lassen oder nicht. Um der fatalen Entwicklung entgegenzuwirken, beschloss die russische Regierung nun eine Impfpflicht in 18 Regionen für mehrere Gruppen, darunter Regierungsbeamte und Beschäftigte in Gesundheitswesen und diversen Dienstleistungssektoren (Quelle). Diese Impfkampagne ist bestimmt und aggressiv, obwohl Wladimir Putin versprochen hatte, es würde keinen Impfzwang geben.
Allen, die eine Impfung verweigern, drohen harte Sanktionen. So kann Mitarbeitenden eines Unternehmens, welches zur Impflicht berufen wurde, der Lohn vorenthalten werden, oder sie müssen mit Freistellung oder gar Kündigung rechnen. Betriebe sind dazu verpflichtet, diesen Maßnahmen Folge zu leisten und bis zum 15. Juli alle ihre Mitarbeitenden mindestens einmal und bis zum 15. August vollständig geimpft haben, da ihr Betrieb ansonsten geschlossen werden kann. Der Pressesprecher des russischen Präsidenten, Dmitri Peskow, teilte am vergangenen Montag jedoch mit, dass es keine flächendeckende Impfpflicht für alle Bürger:innen geben würde und diese nur für einige Branchen gelte. Mal sehen, wie lange das noch so bleibt. Darüber hinaus wurden nun in mehreren Großstädten strengere Auflagen eingeführt.
Lockdown für Ungeimpfte, Impfpflicht für Ü60 in einigen Städten
Zum Beispiel wurde in zwei Städten bereits ein Lockdown für ungeimpfte Bürger:innen eingeführt. In der russischen Stadt Priamurye gibt es nun sogar eine Impfpflicht für alle über 60 (Quelle). In mehreren Regionen sollen nun außerdem QR-Codes den Besuch von Cafés und Restaurants für Geimpfte, Genesene oder Getestete ermöglichen. Bereits jetzt kursieren jedoch etliche Fälschungen der QR-Codes im Internet, um die Maßnahmen zu umgehen (Quelle).
Die Impfskepsis ist in Russland ungeachtet aller drohenden Konsequenzen nach wie vor hoch. Auch wenn sich allmählich Schlangen vor den Impfstellen in den Metropolen bilden und sich die durchschnittliche Impfrate nach Angaben der stellvertretenden Ministerpräsidentin Tatjana Golikowa im Laufe der letzten Wochen beinahe verdoppelt hat – noch immer wollen sich über 60 Prozent nicht impfen lassen (Quelle). Als häufigsten Grund, sich nicht gegen COVID-19 impfen zu lassen, nannten 40 Prozent der befragten Russ:innen Angst vor langfristigen gesundheitlichen Folgen. Dies geht aus einer gemeinsamen Studie der Sozialforschungsunternehmen Platforma und Online Market Intelligence hervor.
Putin wirbt für Impfungen
Bisher sind nur etwa 14 Prozent der russischen Bevölkerung mindestens einmal geimpft, 11 Prozent haben vollständigen Impfschutz. Obwohl das Impfziel der Regierung für diesen Zeitraum weit höher, bei 30 Millionen, angesetzt war und diese versuchte die Bevölkerung mit Prämien und Lotterien zum Impfen zu bewegen, ist die Impfkampagne krachend gescheitert (Quelle). Nun versucht sogar Putin die Bevölkerung vom Impfen zu überzeugen. In einem Video erzählt er, er hätte sich im Februar mit Sputnik V geimpft.
Zunächst will ihm der Name des Impfstoffs partout nicht einfallen, am Ende des Videos verwechselt er die Namen der Impfstoffe und Beweise dafür, dass er geimpft ist, wie sie in den Kommentaren vehement gefordert werden, gibt es auch nicht (Quelle). Neben Sputnik V werden noch die Präparate zweier weiterer staatlicher Produzenten eingesetzt, Epivakorona und Kovivak, allerdings deutlich seltener als Sputnik V. Über die beiden Impfstoffe ist nur wenig bekannt, Epivakorona soll sogar gänzlich unwirksam sein und wird anscheinend dennoch verimpft (Quelle).
Vakzine aus dem Ausland sind weiterhin verboten und von staatlicher Seite wird ihre Wirksamkeit massiv diskreditiert. Hier drängt sich zwangsläufig die Frage auf, ob die Regierung ihre Bevölkerung gegen Corona oder mit dem umstrittenen Impfstoff Sputnik V impfen möchte. Die Antwort liegt auf der Hand: Die Regierung schert sich offenbar nicht um das Wohlergehen der eigenen Bevölkerung.
Impfskepsis kommt aus Skepsis gegen das russische Regime
Viele Menschen haben Sputnik V gegenüber eine noch höhere Skepsis als gegenüber westlichen Vakzinen und avancieren deshalb zu Impfgegner:innen. Ihre Impfskepsis speist sich außerdem aus Misstrauen gegenüber der Regierung, die die Pandemie zu Beginn leugnete und verharmloste, dann harte Maßnahmen verhängte und vor einem Jahr wieder aufhob. Aber auch für Impfwillige gestaltet es sich in einigen, vor allem ländlichen Regionen schwer, sich impfen zu lassen, da dort eine Impfstoffknappheit herrscht.
Alexander Leonidowitsch Ginzburg, der Direktor des Gamaleja-Instituts für Epidemiologie und Mikrobiologie, verkündete am 29. Juni, dass die Wirksamkeit des russischen Impfstoffes Sputnik V gegen die Delta-Variante um 2,6 Mal gesunken ist (Quelle: lenta.ch). Die Corona-Sterblichkeitsrate in Russland soll hingegen von 1-2% auf 5-10% ansteigen (Quelle).
Russland muss mit den folgen seiner eigenen Propaganda kämpfen
Auch in Russland kann man von einer Querdenkenszene sprechen: Der Filmstar, Jegor Berojew erschien zu einer TV-Preisverleihung, die auch ohne Masken und Abstand stattfand, mit einem gelben Davidstern auf der Brust. Empört von den neuen Maßnahmen, hielt er eine flammende Rede: „Wie konnten wir, die Erben der Sieger, so etwas zulassen?“, schimpfte er. Wie einst in Hitlerdeutschland gebe es wieder ein Kennzeichen, das entscheide, „ob du Bürger bist oder in einem Reservat landest“. Sein Auftritt begrüßte man mit donnerndem Applaus. Der Politologe Wladimir Pastuchow schrieb: „Der Russe glaubt nicht an Medizin, Statistik, einfache Logik oder an ehrliche Behörden. Erst hat die Staatsmacht populistisch alle Corona-Gefahren verniedlicht, jetzt ist sie gezwungen, repressiv gegen jene Massen vorzugehen, die den Virus weniger fürchten als die Spritze.“ (Quelle)
Auch Russia Today berichtete, dass sich am Samstag, den 26. Juni, in Moskau Hunderte Menschen zu einer Protestaktion gegen Corona-Impfungen versammelt hatten. Während der Demonstration kam es zu unzähligen Festnahmen durch die Polizei (Quelle).
Paradox: Querdenker:innen bejubeln ausgerechnet die wahre “Corona-Diktatur” Russland
Querdenker:innen in Deutschland wurden während der Demonstrationen gegen den Lockdown von Staat und Polizei mit Samthandschuhen angefasst. Sie fabulierten von einer “Corona-Diktatur” und stilisierten paradoxerweise zugleich das autokratische Putin-Regime zu einem Paradies der Freiheit und der Menschenrechte. Impfgegner:innen in Russland erfahren jedoch bereits jetzt, einige Tage nach Verkündung der neuen Regeln, starke Einschränkungen und Repressalien durch die Regierung.
Diese ist nun gezwungen zu handeln und greift zu Zwangsmaßnahmen, die in einer Demokratie wie Deutschland zu keinem Zeitpunkt möglich waren. Vielleicht denken deutsche Querdenker:innen das nächste Mal mit Blick nach Russland daran, wie eine Corona-Diktatur tatsächlich aussehen kann. Während sie gemächlich im Restaurant sitzend ihr Bier schlürfen und die Erinnerung an die Hygienedemos allmählich zu verblassen beginnt.
Artikelbild: Harold Escalona / Screenshot youtube.com
Unsere Autor:innen nutzen die Corona-Warn App des RKI.