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Grippe, Herdenimmunität? Eine Ärztin erklärt 7 Fakten, die ihr über Corona wissen müsst

von | Apr 23, 2020 | Analyse

Corona und die Diskussionen darüber

Gastbeitrag von Katharina Noord*, Ärztin

In den sozialen Medien kursiert sehr viel Verwirrung darüber, wie gefährlich dieses neue Sars-Cov2 Virus tatsächlich ist und ob die derzeitigen Maßnahmen sinnvoll sind bzw. waren. Ich möchte versuchen, die Zusammenhänge verständlich zu erklären.

1. Der immer wieder bemühte Vergleich zur Grippe

Die Influenza kennen wir seit Jahrhunderten. Und auch wenn es mehrere, sich etwas verändernde Virus-Stämme gibt, besteht doch in einem großen Teil der Bevölkerung Immunität. Allein dadurch kann sich dieses Virus – und damit die Erkrankung – nicht so schnell ausbreiten wie ein völlig neues Virus. Hinzu kommt, dass man bei der Grippe eine Impfung (die jetzt gebräuchliche 4-fach Impfung ist recht effektiv) und Medikamente hat.

Wir kennen die Sterblichkeit, die bei 0,1 % liegt (also jeder Tausendste) und wenn jemand intensivpflichtig wird, dann benötigt er das Intensivbett im Schnitt für 1 Woche. Die Inkubationszeit, also die Zeit von der Ansteckung bis zum Ausbruch, beträgt Stunden bis wenige Tage und die Erkrankung beginnt heftig mit starken Krankheitssymptomen und hohem Fieber. Jemand mit Grippe läuft nicht mehr draußen rum und steckt dort andere Menschen an. Der legt sich ins Bett und betreibt so automatisch “social distancing”.

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2. Was wissen wir von Sars-Cov2 (Covid-19)?

Leider noch nicht soviel, wie wir gerne wüssten. Was normal ist, denn dieses Virus besteht noch kein halbes Jahr. Aber ein paar Dinge wissen wir doch: Es gibt keine Immunität in der Bevölkerung. D. h. prinzipiell kann jede*r angesteckt werden und damit ansteckend sein. Also 83 Millionen Menschen in Deutschland. Die Zeit von der Ansteckung bis zum Ausbruch der Erkrankung beträgt 5-14 Tage und die Erkrankung beginnt in der ersten Woche erstmal bei den meisten wie eine Erkältung.

Also so, dass man damit durchaus noch draußen herumläuft, zur Arbeit geht etc. Es gibt also einen viel größeren Zeitraum als bei der Grippe, in dem man andere anstecken kann. Durch die Kombination von fehlender Immunität in der Bevölkerung zusammen mit der langen Phase, in der man relativ gesund bzw. nur leicht erkrankt noch aktiv am Leben teilnehmen kann, kann sich dieses Virus viel schneller ausbreiten als die Grippe.

Die Sterblichkeit bei Covid-19 ist noch gar nicht bekannt.

Die jetzigen Zahlen reichen von 0,37 % in Gangelt über 1,2 % in den Niederlanden bis hin zu Werten um 10 % in z. B. Italien. Wirklich repräsentative Studien hierzu gibt es noch gar nicht. Dazu müsste man viel systematischer vorgehen. Die Zusammensetzung der Studiengruppe müsste z. B. bezüglich der Altersstruktur und Vorerkrankungen der der deutschen Bevölkerung entsprechen. Auch müsste sich das Virus bereits gleichmäßiger verbreitet haben. In Gangelt (Heinsberg) z. B. waren vor allem Menschen in mittlerem Alter infiziert und nur wenig Ältere.

Dadurch könnte es dort durchaus sein, dass die Sterblichkeit niedriger liegt, als sie es in der Gesamtbevölkerung wäre. Wenn man nach Wolfsburg schaut, dort ist die Hälfte der infizierten Bewohner eines Altenheims inzwischen verstorben. Ein einziges, betroffenes Altenheim in Gangelt hätte also sehr wahrscheinlich zu einer wesentlich größeren Sterblichkeit in der Gangelt-Studie geführt.

Was in diesem Zusammenhang auch immer wieder zu Verwirrung führt, ist die Berechnung der Sterblichkeit von heutigen Sterbeziffern und Infektionszahlen ausgehend. Es dauert minimal 5 Tage bis zum Ausbruch der Krankheit und dann nochmal ca. 3 Wochen bis zum Tod. Die heutigen Sterbeziffern beruhen also auf den Infektionszahlen von vor 3 Wochen. Vor 3 Wochen gab es rund 70.000 nachgewiesene Infektionen und nicht 150.000 wie heute.

Übertragungsweg:

Wir wissen inzwischen in jedem Fall, dass der wichtigste Übertragungsweg für dieses Virus die Tröpfcheninfektion ist. Also der Kontakt der Schleimhäute von Mund, Nase und Augen mit Tröpfchen, die Mund und Nase eines Infizierten beim Atmen, Sprechen, Husten und Niesen verlassen. Die größeren Tröpfchen haben dabei eine Reichweite von ca. 1 m. Je höher der Druck beim Verbreiten ist, desto weiter fliegen die natürlich. Darum sind 1,5 m das absolute Minimum, will man Tröpfcheninfektion vermeiden. Besser sind 2 Meter.

Kann man selbst übrigens gut ausprobieren, wenn man mal gegen das Licht redet bzw. hustet, dann kann man diese Tröpfchen fliegen sehen. Wenn man dann das gleiche nochmal mit Tuch vor dem Mund wiederholt, begreift man auch, dass ein Mund-Nasenschutz tatsächlich Effekt hat. Natürlich nur, wenn man dann nicht plötzlich seinen Mitmenschen wieder auf “die Pelle rückt” und sich nicht ständig mit ungewaschenen Händen im Gesicht rumfingert.

3. Übertragungsrate und das ominöse R

“R” steht für Reproduktionszahl. Das bedeutet, wie viele Menschen steckt ein*e Infizierte*r an. Um diese wirklich sehr genau ermitteln zu können, müsste man flächendeckend die Bevölkerung testen, unabhängig davon, ob sie Symptome haben bzw. Kontakt zu Infizierten. Es erklärt sich von selbst, dass das bei 83 Millionen Menschen gar nicht möglich ist (um jeden alle 14 Tage zu testen, müssten pro Tag fast 6 Millionen Tests gemacht werden). Deshalb arbeitet man mit einem Näherungswert, der sich aus den definitiv positiv getesteten Menschen ergibt.

Bei der Bewertung dieser R-Zahl muss man jedoch auch die Dauer der Erkrankung berücksichtigen. Diese ist bei Covid-19 ungewöhnlich lang. Was bedeutet, dass nach 2 Verbreitungszyklen die erste Person immer noch krank ist. Das ist vergleichbar mit einem Stau auf der Autobahn, während der erste noch immer wartet, staut es sich hinter ihm. Erst wenn die Nachfolgenden so langsam fahren, wie der Erste, wird der Stau nicht mehr länger. Und erst wenn die Nachfolgenden langsamer fahren als der Erste, kann sich der Stau langsam auflösen.

Die mittlere Verweildauer auf der Intensivstation bei Covid-19 sind nach heutigem Wissensstand ca. 18 Tage. Also muss die Verdopplungzahl (der Zeitraum, in dem sich die Zahl der Infizierten verdoppelt) größer sein als 18 Tage. In Deutschland ist sie das erst seit dem Osterwochenende. Mitte März lag diese übrigens noch bei etwa 3 Tagen. Man sieht also sehr deutlich den positiven Effekt des Lockdowns.

4. Herden-Immunität

Unabhängig davon, dass wir für solch eine Strategie meiner Meinung nach immer noch zu wenig wissen, rechnen wir doch einfach mal durch, wie das aussehen würde auf Basis von dem, was wir bis jetzt wissen. Durch die Schaffung von über 10.000 weiteren Intensivbetten stehen im Moment noch 13.000 Intensivbetten frei. Bei stabilen Zahlen bei intensivpflichtig an Covid-19 Erkrankten könnten so also auch wieder die jetzt verschobenen regulären Behandlungen stattfinden, was wünschenswert wäre.

Wie sähe das bei R=1 aus?

Ein*e Infizierte*r steckt also eine weitere Person an. Wir hatten ja schon das Vorbild mit dem Verkehrsstau. Nehmen wir einen günstigen Fall. Die erste Person erkrankt bereits nach 5 Tagen und steckt erst nach 10 Tagen nach Infektion eine weitere Person an. Üblicherweise verschlimmert sich Covid-19 bei schweren Verlaufsformen nach etwa 1 Woche und die Dauer auf der Intensivstation liegt danach bei ca. 18 Tagen. 18+7=25.

Ziehen wir 3 Tage ab (10-7=3) bleiben 22 Tage vom Zeitpunkt der Infektion der zweiten Person bis zum Freiwerden des Intensivbettes. Wenn diese zweite Person erst nach 14 Tagen erkrankt, müsste sie sich im Falle eines schweren Verlaufs 1 Tag das Intensivbett mit Person 1 teilen (14+7 = 21). Erkrankt sie bereits nach 5 Tagen, würde das 10 Tage lang der Fall sein. Da man Intensivbetten nicht teilen kann, müsste man bei erreichter Kapazitätsgrenze der Intensivstationen entscheiden, wer das Bett bekommt.

Dieses einfache Rechenbeispiel macht deutlich, dass R deutlich unter 1 sein muss, wenn wir während der Phase, in der wir versuchen, eine Herdenimmunität zu erreichen, gleichzeitig sicherstellen wollen, dass _alle_ Menschen die bestmögliche Versorgung erhalten können. Ob nun mit oder ohne Corona.

Das bedeutet auch, dass die sogenannte Verdopplungszahl größer sein muss als die 18 Tage.

Allerdings gibt es so viele unbekannte Faktoren bei diesem neuen Virus, dass man die Verbreitung gar nicht so genau steuern kann. Für Herdenimmunität benötigen wir ca. 50.000.000 Menschen in Deutschland, die infiziert wurden. Selbst mit der sehr niedrigen Sterblichkeit aus der Studie in Gangelt von 0,37 % bedeutet das: 185.000 Tote. Nach jetzigem Wissensstand benötigen ca. 5 % der Infizierten intensivmedizinische Behandlung. Das wären 2.500.000 Menschen.

Wenn wir alle optimal versorgen wollen, stehen allein für Covid-19 ca. 20.000 Intensivbetten zur Verfügung (denn der Rest wird für andere Erkrankungen benötigt). Es dürfen von den 2,5 Millionen also nur jeweils 20.000 gleichzeitig intensivmedizinische Hilfe benötigen. Bei einer Dauer auf der Intensivstation von 18 Tagen, dürfen also nur alle 18 Tagen 20.000 neue dazu kommen. 2.500.000 ÷ 20.000= 125

18 Tage x 125= 2250 Tage. Also über 6 Jahre. Und während dieser gesamten 6 Jahre müssten wir immer darauf achten, durch geeignete Maßnahmen, die Infektionsrate nicht unkontrolliert in die Höhe schnellen zu lassen.
Hinzu kommt noch, dass überhaupt noch nicht sicher ist, ob sich nach durchgemachter Infektion eine bleibende Immunität einstellt. Auch kennen wir die Langzeitfolgen schwerer Krankheitsverläufe noch nicht. Es gibt Berichte über bleibende Lungenschäden, neurologische Ausfälle etc.

5. Warum isolieren wir nicht alle Alten und alle Menschen mit Vorerkrankungen?

Zum einen ist das gar nicht machbar. Denn die Menschen, die sie versorgen, müssen ja raus und können so die Infektion reintragen. Insbesondere dann, wenn man das Virus sich unbeschränkt im Rest der Bevölkerung verbreiten lässt, wird das immer wahrscheinlicher. Mal ganz davon abgesehen, dass ein Großteil der Risikogruppe im mittleren Alter zu den Leistungsträgern der Gesellschaft gehört. Und den ethischen Fragen bezüglich der dauerhaften Kasernierung eines Teils der Bevölkerung einfach aufgrund ihres Alters, ihrer Vorerkrankung oder Behinderung.

Auch ist es mitnichten so, dass die Folgen eines überlasteten Gesundheitssystems nur Risikogruppen betreffen würden. Wenn alle Intensivbetten belegt wären, wäre dort auch kein Platz mehr für Unfallopfer und andere. Z. B. eine junge Mutter, die als Nebenwirkung der Antibabypille einen Schlaganfall erlitten hat. Mit optimaler Behandlung könnte sie sich womöglich wieder komplett erholen. Bei überlastetem Gesundheitssystem fällt das flach.

6. Warum gibt es von den Wissenschaftler*innen so viele sich (anscheinend) widersprechende Aussagen?

Das ist eigentlich völlig normal. Nur bekommen die meisten Menschen das normalerweise nicht mit. Aussagekräftige Studien benötigen viel Zeit. Wenn sie abgeschlossen sind, schreibt der oder die Wissenschaftler*in darüber eine Abhandlung, in der er oder sie alle Details im Aufbau der Studie nennt und die Ergebnisse präsentiert. Dieses “Paper” geht dann normalerweise erstmal zu Fachkolleg*innen zur Überprüfung (sogenannter Peer-Review) und wird von diesen diskutiert und kommentiert. Erst wenn eine Studie das bestanden hat, wird sie in einem Fachmagazin veröffentlicht und auf Kongressen vorgestellt. Diese Diskussion findet zur Zeit (leider) in der Öffentlichkeit statt, was für viel Verwirrung sorgt.

Im Moment stürzen sich viele Medien auf jeden noch so kleinen Bericht, in den meisten Fällen handelt es sich dabei um gar keine Studien, sondern um Einzelfälle. Nehmen wir z. B. Berichte, dass 1 oder 2 Patient*innen ein Medikament erhalten haben und danach ihr Zustand besser wurde. So etwas kann auch immer ein Zufall sein. Erst in einer Studie, in der eine genügend große Gruppe mit Medikament verglichen wird mit einer Gruppe, die nur Placebo erhält, kann man beurteilen, ob das ein Effekt des Medikaments ist oder ein spontaner Behandlungsverlauf. Solche Studien sind zur Zeit noch gar nicht abgeschlossen. Können sie auch gar nicht, weil man dafür Zeit benötigt.

Oder der Fall des Kindes, das niemanden angesteckt hatte. In den Medien wird das teilweise so dargestellt, als ob Kinder niemanden anstecken könnten. Aufgrund eines Einzelfalles kann man das nicht sagen. Es könnte purer Zufall sein. Auch wüsste man dann noch lange nicht, bis zu welchem Alter das so ist und ob es andere Faktoren gibt. Auch hier müsste erst eine breit angelegte Studie stattfinden, um das bestätigen oder auch verwerfen zu können.

Kompliziert wird das Ganze noch durch Menschen, die sich jetzt teilweise zum “Experten” hochspielen. Z. B. Finanzexpert*innen ohne jeglichen medizinisch-naturwissenschaftlichen Hintergrund oder Ärzt*innen, die sich plötzlich “Epidemolog*in” nennen, obwohl sie schon lange aus dem Berufsleben ausgeschieden sind und nie selbst in Sachen Epidemiologie geforscht haben. Und natürlich die Politik, die unter dem Druck, die richtige Entscheidung treffen zu müssen, nun ihrerseits Druck auf die Wissenschaftler*innen ausübt.

7. Wie geht es weiter?

Eine gute Nachricht: Zu einem guten Teil haben wir (alle) das selbst in der Hand. Sogar buchstäblich. Händehygiene und Maske tragen sind Dinge, an die man sich schnell gewöhnt und die einen kaum einschränken. 1,5-2 Meter Abstand halten ist lästig, aber in den meisten Bereichen durchaus möglich. Selbst beim Grillen mit den Nachbar*innen. Allein schon durch diese Maßnahmen lässt sich die Verbreitung eines Virus, das vor allem durch Tröpfchen verbreitet wird, deutlich verlangsamen. Wichtig dabei ist, dass alle 3 (!) Verhaltensweisen kombiniert werden.

Wenn sich wirklich _alle_ daran halten, bin ich sehr zuversichtlich, dass bis auf wenige Dinge wie bestimmte Großveranstaltungen demnächst wieder fast alles möglich wird. Selbst der Restaurantbesuch. Reisen wird wird noch etwas komplizierter, auch weil Reisen dazu führt, dass man Infektionsketten schlechter nachverfolgen kann und das Testen, Nachverfolgen und Eindämmen (Quarantäne) wird wichtig bleiben. Beim Lockern der Maßnahmen wird es wichtig sein, dieses schrittweise zu tun. Sonst weiß man hinterher nicht, wenn die Infektionszahlen wieder ansteigen sollten, welche der 5 aufgehobenen Maßnahmen darauf den größten Einfluss hatte. Das fordert erstmal Geduld, macht sich aber später bezahlt, weil man so später sehr zielgerichtet einzelne Maßnahmen einsetzen könnte bei steigenden Infektionszahlen und einen Lockdown vermeiden.

Nach meinen Informationen gibt es etwa 10 vielversprechende Kandidaten für einen Impfstoff, 4 davon gehen bzw. sind in die erste Phase der klinischen Forschung gegangen. Also die ersten Verträglichkeitstests am Menschen. Was bedeutet, dass sie im Reagenzglas und im Tierversuch bereits effektiv waren. Das stimmt mich zuversichtlich, dass es tatsächlich in der ersten Hälfte von 2021 einen Impfstoff geben könnte. Bis dahin regelmäßig die Hände zu waschen, Maske zu tragen und Abstand zu halten, kann doch nicht so schwer sein, oder?

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Katharina Noord  (*Name von der Redaktion geändert, sie möchte anonym bleiben). Artikelbild: pixabay.com, CC0