Kernkraft for Future oder Atomkraft nein danke?
Mit der Atomkraft ist wie mit Final Destination – Immer wenn das Interesse daran eigentlich am Tiefpunkt angekommen ist, bahnt sich doch wieder die nächste Fortsetzung an. Und gerade jetzt, in der Gemengelage aus Klimakrise, verschleppter Energiewende und steigenden Rohstoffpreisen werden die Rufe nach dem Ausstiegsausstiegsaustiegsausstieg gefühlt immer häufiger. Unter so ziemlich jedem größeren Artikel, in dem es um Windkraft, Erdgas-Pipelines oder E-Autos geht, finden sich verlässlich mehrere Kommentare, die eine Rückkehr zur Kernkraft fordern oder darin sogar die einzige Möglichkeit sehen, die Krisen zu lösen.
Auf diese Kommentare folgen dann die zu erwartenden Reaktionen. Es wird gefragt, ob man dafür denn Atommüll im eigenen Vorgarten akzeptieren würde, was mit Fukushima sei und auf Fridays-for-Future-Demos lösen entsprechende Plakate tumultartige Szenen aus. Wir haben uns also gefragt, was da dran ist: Könnten wir mit Hilfe der Kernkraft Deutschland aus der Energiekrise befreien und das Land in die erhoffte Klimaneutralität führen?
Fakten, die beide Seiten übersehen
Bei dieser Frage vergisst sowohl die Anti-Atomkraft- als auch die Pro-Kernkraft-Bubble oft, was genau das eigentlich bedeutet. Deutschland klimaneutral, das sind 6 unschuldig wirkende Silben, die nicht nach der wahren Bedeutung klingen: Aktuell erzeugt Deutschland knapp 500 Terawattstunden Strom im Jahr. Falls euch das Wortungetüm irritiert: Eine Terawattstunde oder auch TWh entspricht einfach einer Milliarde Kilowattstunden oder dem Jahresverbrauch von 320.000 privaten Haushalten in Deutschland.
Von den verbrauchten 500 Terawattstunden im Jahr wurden 2020 gut die Hälfe durch die Erneuerbaren gedeckt. Prima, könnte man denken, dann haben wir ja schon die Hälfte geschafft. Aber leider verbrauchen wir jenseits des elektrischen Stroms noch eine Menge anderer Energie: Zum Heizen, zum Autofahren, für die Stahlherstellung, für die chemische Industrie usw. Um das alles auf klimaneutralen Strom umzustellen, müssen wir je nach Forschungsarbeit zwischen 1.300 und 1.500 Terawattstunden pro Jahr erzeugen. Mit dem Strom aus Erneuerbaren liegen wir also nicht bei der Hälfte, sondern eher bei einem Sechstel der benötigten Menge.
“WAS, so viel Strom? Ich denke wir sollen Energie sparen!” ist eine häufige Reaktion auf solche Zahlen, aber ich kann euch beruhigen: Wir sparen durch die viel effizientere Nutzung Energie, und zwar eine Menge. Der rote Kreis links ist unser heutiges Energiesystem und der kleine Kreis rechts könnte das zukünftige sein:
Atomkraft ist… CO2-neutral?
Mit anderen Worten: Wir brauchen in Zukunft noch viel mehr klimaneutralen Strom und zusätzlich müssen wir die Möglichkeit schaffen, mit diesem Strom effektiv Gebäude zu erwärmen, Autos anzutreiben, Stahl herzustellen, Schiffe fahren zu lassen usw. Wie immer wir das also erreichen wollen: Es ist so oder so eine knackige, aber machbare Aufgabe.
Warum werden nun also die Rufe nach Atomkraft lauter? Nun, der naheliegendste Grund ist wohl, dass beim Spalten von Urankernen praktischerweise kein CO2 entsteht. Ist Kernkraft damit Klimaneutral? Jein: Der Vorgang der Kernspaltung selbst emittiert keine Klimagase, aber natürlich die Urananreicherung, der Transport, der Bau großer Stahlbeton-Konstruktionen usw., all das zusammen führt aktuell zu schätzungsweise 12 Gramm CO2-Äquivalenten pro Kilowattstunde Kernkraft (Die Werte unterscheiden sich stark und reichen von 3 bis 110 Gramm CO2/kWh).
Dieses Argument wird gerne von Gegner:Innen der Kernkraft ins Feld geführt, allerdings übersehen diese gern, dass diese Emissionen eigentlich unserer auf fossilen Brennstoffen basierenden Wirtschaft anzurechnen sind, durch die wir aktuell eben auch für die Erneuerbaren Energien (noch) einen Klimaschaden anrechnen müssen: Windenergie an Land liegt bei 11 Gramm CO2/kWh, Wasserkraft bei 13 g CO2/kWh und Solarmodule bei 68 g CO2/kWh. Diese Klimaschäden sind aber insofern zu vernachlässigen, als dass der angestrebte klimaneutrale Umbau aller Sektoren (also auch Verkehr, Stahlproduktion, Bergbau) die Stromerzeugung aus Wind, Sonne und Kernkraft perspektivisch auf null senken würde:
- Je schneller wir unsere Gesellschaft klimaneutral umbauen, desto schneller gehen diese Emissionen gegen null. Förderung und Transport von Uran, Silicium oder Neodym sind ja nicht zwingend auf Erdöl und Kohle angewiesen.
- Es sind immer noch um Größenordnungen weniger Emissionen als bei Gas- (524 bis 1620 Gramm CO2/kWh) oder Kohlekraft (765 bis 1220 Gramm CO2/kWh)
Atomkraft: Viel sicherer als Gas und Kohle
Bezogen aufs Klima hat Kernkraft also einen großen Vorteil, aber was ist mit dem Risiko? Deutschland ist ja nicht einfach so aus der Kernkraft ausgestiegen, sondern weil die obere Außenverkleidung von Reaktorblock 1 des Kernkraftwerks Fukushima Daiichi am 12. März 2011 recht medienwirksam von einer Wasserstoffexplosion weggesprengt wurde.
Bei dem Anblick gruselte es nicht nur Leute, deren Kindheit von Gudrun Pausewangs traumatisierenden Anti-Kernkraft-„Jugendromanen“ überschattet wurde. Nein, nur zwei Tage später läutete die eher nüchterne Angela Merkel den Atomausstieg ein. Die Lage müsse neu analysiert werden, da die Risiken doch nicht vollends unwahrscheinlich seien. Daran kritisiert wiederum die Pro-Atomkraft-Bewegung (in meinen Augen zurecht), dass die Risiken zum Zeitpunkt der Pressekonferenz kaum neu analysiert werden konnten, denn die Auswirkungen der Reaktorkatastrophe von Fukushima waren da ja noch nicht bekannt.
Das Ganze ist nun aber zehn Jahre her, der Unfallhergang ist minutiös aufgearbeitet und gemessen an drei Kernschmelzen war die Anzahl der Opfer recht überraschend: Eins. Nein, keine Sorge, wir sind nicht von Nuklearia e.V. gesponsert worden oder der neue PR-Arm von Montgomery Burns, es hat uns bei der Recherche selbst überrascht: Durch die direkte Strahlung des Fukushima-Unfalls ist bislang nur eine Person des Kraftwerkpersonals so schwer erkrankt, dass sie verstorben ist.
Direkte Todesopfer von Fukushima: Eine?!
Das soll aber natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Katastrophe indirekt zu weit mehr Verstorbenen geführt hat, denn wenn ein Staat mit einer der ältesten Bevölkerungen weltweit spontan 300.000 Menschen evakuieren muss, dann birgt das leider auch Gefahren in Form von Unterkühlung, während der Evakuierung nicht behandelbaren Erkrankungen, Austrocknung und solchen Dingen. Auch nach der Evakuierung kann die Unterbringung in Notunterkünften fern der sozialen Kontakte gerade für ältere Menschen eine große Belastung sein. Besonders wenn eine Rückkehr in ihren Heimatort für lange Zeit ausgeschlossen ist, führt das zu Angstzuständen, Depressionen und höheren Suizidraten.
Im Jahr 2018 zählte die japanische Regierung 2.202 vorzeitige Tode als „related to the nuclear power plant“, wobei diese Zahl nicht berücksichtigt, wie viele dieser Tode durch den langen Evakuierungszeitraum verursacht und die Zustände infolge von Erdbeben und Tsunami verschlechtert wurden. Es ist an dieser Stelle also unter Umständen schwierig, all diesen Fällen die Reaktorkatastrophe als monokausale Ursache zuzuordnen.
Aber zurück zu Angela Merkels Neu-Analyse der Risiken: Wie hoch sind sie denn nun? Vergleicht man unsere kommerziell genutzten Methoden der Stromerzeugung, ergibt sich für uns, die den Begriff Kernkraft zuerst mit Kernschmelze und Strahlentoten assoziieren, ein überraschendes Bild:
Laut Our World in Data liegt die Atomkraft hier bezogen auf ihre Sicherheit nahe bei den klassischen Erneuerbaren Wind-, Solar- und Wasserkraft und weit vor fossilen Energieträgern und Biomasse. Wie kann das sein angesichts der bereits vorgefallenen Reaktorkatastrophen? Indem fossile Technik einen unauffälligen, aber gewaltigen Nachteil hat: Sie verursacht Luftverschmutzung, und davon eine Menge.
So viel tödlicher sind Gas und Kohle
Schätzungsweise 3,5 Millionen Menschen sterben pro Jahr vorzeitig aufgrund der Luftverschmutzung, ein Großteil davon aufgrund von den Rückständen fossiler Energie. Dieses Problem spielt in unserer Wahrnehmung einfach keine so große Rolle, vermutlich weil es zum Thema Menschen mit Atemwegserkrankungen deutlich weniger packende Sondersendungen gibt als für explodierende Reaktorgebäude.
Zwei Anmerkungen zur im Diagramm dargestellten Rate von 0,07 Toten pro Terawattstunde:
- Die Anzahl der Todesopfer der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl ist sehr umstritten, die Schätzungen reichen von weltweit 4.000 bis 60.000 Todesopfer. Die der Grafik zu Grunde liegende Forschungsarbeit bezieht sich mit 4.000 Verstorbenen auf die niedrigste dieser Schätzungen.
- Aber auch wenn wir uns auf die höchste Schätzung bezögen (die Rate läge dann bei 1,05 Toten pro Terawattstunde), würde sich die Reihenfolge nicht ändern: Die Erneuerbaren wären am sichersten, die Kernkraft etwas unsicherer und die Fossilen immer noch um eine Größenordnung unsicherer.
Vor diesem Hintergrund kann man sich also fragen, ob es nicht schlauer gewesen wäre, erst aus der Kohle- und dann aus der Kernkraft auszusteigen. 60 bis 70 Megatonnen CO2 hätten wir so jedes Jahr einsparen können, so viel wie aktuell ganz Israel pro Jahr emittiert. In dieser Zeit wäre dann aber noch mehr Atommüll entstanden, könnte man noch einwenden, andererseits müssen wir dieses Problem aber so oder so lösen, ohne dass ein paar Jahre weiterer Betrieb es nennenswert vergrößert hätten.
Man hätte zuerst aus der Kohle aussteigen sollen
Die Kollegen der Quarks Science Cops kommen zu diesem Schluss: In der Sache sei die Reihenfolge des Ausstiegs fragwürdig, da wir jetzt dringend Emissionen verringern müssen und die Kraftwerke ohnehin schon vorhanden sind. Aus rein wissenschaftlicher Perspektive hätte ein Weiterbetrieb als Brückentechnologie für Kohlekraft den besseren Kosten-Nutzen-Effekt, so ihr Fazit. Wer nun aber hoffe, der Ausstieg könne wieder rückgängig gemacht werden, müsse sich klarmachen, dass ein Weiterbetrieb der deutschen Kernkraftwerke politisch extrem unwahrscheinlich sei.
Diese Einschätzung klingt plausibel: Die Kritik an der Anti-Kernkraft-Haltung entlädt sich hierzulande zwar meistens nur an den Grünen, aber hier sei nochmals daran erinnert, dass es Angela Merkel von der Union und Guido Westerwelle von der FDP waren, die 2011 vor der Kamera standen und die Abschaltung der deutschen Kernreaktoren verkündeten. Aussagen unseres designierten Bundeskanzlers Olaf Scholz wirken ebenfalls nicht so, als wolle er diese Technologie wiederbeleben, und das dürfte sich jetzt, wo er Teil einer Ampelkoalition mit den Grünen ist, auch nicht geändert haben.
Nicht mal die Atomwirtschaft will noch Kernkraftwerke
Und selbst wenn sich im Januar 2022 ein politisches Weltwunder ereignete und Scholz, Baerbock, Habeck und Lindner sich darauf verständigen würden, die restlichen Atommeiler doch noch weiterlaufen zu lassen… ja, das ist ungefähr so wahrscheinlich wie ein Gendersternchen in einem AfD-Tweet, aber viel wichtiger: Es hätte vermutlich kaum eine Wirkung, denn nicht mal die Atomwirtschaft will ihre Kraftwerke länger laufen lassen.
Die Konzerne Eon, RWE, EnBW und Vattenfall haben im Zuge des Ausstiegs geklagt und Verfassungsbeschwerde eingelegt, aber sich schlussendlich nach viel Streit dazu verpflichtet, Milliarden Euro in Fonds einzuzahlen, welche die Haftung übernehmen. Wollten wir das jetzt alles rückgängig machen, würden all diese Vereinbarungen wieder in Frage gestellt, Schadensersatzregelungen würden angefochten und die Aktienkurse der betreffenden Konzerne unter dieser Unsicherheit leiden.
Zudem haben die betreffenden Konzerne sich mittlerweile alle zur Energiewende bekannt und richten ihre Geschäfte danach aus. Ein paar Jahre zusätzliche Einnahmen aus der Kernkraft nachdem eigentlich schon alles geregelt war und das zum Preis von Klagen und Protesten? Sieht Eon-Chef Leonard Birnbaum anders:„Kurz vor Abschalten in Deutschland eine Debatte darüber zu starten, ob Kernkraftwerke einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz leisten, ist befremdlich. Sie kommt viel zu spät und nutzt keinem mehr.“
Verpasste Gelegenheit
Ein (erneuter) Austiegsaustieg wäre auch unter ganz praktischen Gesichtspunkten eine recht knifflige Angelegenheit: Die Betriebsgenehmigungen müssten neu beantragt werden, ein normalerweise Jahre dauernder Prozess. Verträge mit Partnerfirmen sind längst gekündigt, so dass die deutschen Kernkraftwerke erst mal ohne Brennstoff und ohne Personal dastünden, denn Deutschland hat defacto keine Nuklearwissenschaft und -industrie mehr.
Das kann man jetzt als verpasste Chance sehen und sich den ganzen Tag tiefe Falten in die Stirn ärgern, aber klimafreundlicher wird der Strommix davon auch nicht. Zudem würde uns das vielleicht etwas mehr Zeit verschaffen, aber wie oben schon mal erwähnt: Wir brauchen in Zukunft noch viel mehr klimaneutralen Strom, ungefähr 25 mal so viel wie alle deutschen Kernkraftwerke im Jahr 2020 ins Netz eingespeist haben.
Würde Deutschland sich also entscheiden, die Energiewende zu einem relevanten Teil mit Kernkraft umzusetzen, müssten schlicht neue Kraftwerke gebaut werden. Und wenn damit noch das 1,5-Grad-Ziel erreicht werden soll, dann muss das schnell gehen. Sehr schnell. Die anderen Atomkraft-Neubauprojekte im Westen haben noch ganz gute Chancen, früh genug eine relevante Menge CO2 einzusparen, aber ihr Bau wurde eben auch vor langer Zeit begonnen:
Neue Atomkraftwerke würden viel zu spät ans Netz gehen
Hinkley Point C im Süden Englands sollte ursprünglich 2017 ans Netz gehen, so die Prognose im Jahr 2007, als der Bau beschlossen wurde. Mittlerweile wird davon ausgegangen, dass der Reaktor im Jahr 2026 erstmals Strom ins britische Netz speist. Das ist nicht nur schlecht, weil die Klimakrise nicht auf uns wartet, sondern weil es ziemlich teuer ist: Wurde ursprünglich noch mit Kosten von 4 Milliarden Pfund gerechnet, geht der hinter dem Projekt stehende Konzern EDF mittlerweile von 23 Milliarden Pfund aus. Für einen Block mit zwei Reaktoren.
In Finnland begannen im Jahr 2003 die Ausschreibungen, um das Kernkraftwerk Olkiluoto um einen dritten Block zu erweitern. Ursprünglich wurde mit einer Betriebsaufnahme im Jahr 2009 gerechnet. Dieses Jahr (zur Erinnerung: Wir haben 2021) wurde der Starttermin erneut verschoben, jetzt auf den Sommer 2022. Die Kosten stiegen von 3 auf 11 Milliarden Euro.
In US-Bundesstaat Georgia wurde 2006 mit den Planungen für zwei weitere Blöcke begonnen, durch diverse Verzögerungen wird mit der Fertigstellung in den Jahren 2022 und 2023 gerechnet. Konstruktionskosten: 28,5 Milliarden US-Dollar. Man kann sich ausrechnen, wie sehr heute neu begonnene Projekte sich noch auf die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels auswirken würden: Gar nicht.
Zudem reichen die aktuellen Projekte vorne und hinten nicht, um die bald stillzulegenden Kernkraftwerke zu ersetzen: In den USA befinden sich zwei Kernkraftwerke im Bau, in Frankreich eines, in Japan zwei (Quelle). In China (14), Südkorea (4) und Indien (6) wird vergleichsweise fleißig zugebaut, aber der globale Kernkraftwerkspark besteht aus 415 Meilern, die so langsam in die Jahre kommen: 89 der Reaktoren sind älter als 40 Jahre, 189 älter als 30 Jahre.
Sie würden extrem teuer werden – und ein Minusgeschäft
Abgesehen von Kritik wegen der langen Dauer werden die Steuerzahler:innen die berechtigte Frage stellen, warum ihr Geld in solche Projekte gesteckt werden sollte, die am Ende nicht gerade günstigen Strom produzieren: Hinkley Point C wird so teuer, dass die britische Regierung den Betreibern für die kommenden 35 Jahre einen Strompreis von 92,5 Pfund pro Megawattstunde garantieren musste, ansonsten wäre das Projekt nicht rentabel geworden. Diesen müssen dann alle Brit:innen zahlen, auch wenn sie nicht Kunde von Betreiber EDF sind.
Während der Preis für Solar- und Windstrom dramatisch gefallen ist, wurde Atomkraft als Erzeugungsart teurer:
Hierbei sollten wir noch berücksichtigen, dass das die reinen Erzeugungspreise sind, wir also für einen fairen Vergleich noch Speicher für die Erneuerbaren berücksichtigen müssen. Nun haben Batterien aber den gleichen Vorteil wie Solarzellen und Windkraftanlagen: Sie können in Massen gefertigt werden und werden dadurch immer günstiger:
Atomkraft wird Deutschland 54 Milliarden mehr Kosten, als sie einbrachte
Nicht zuletzt deswegen wollen mehrere Start-Ups und Wirtschaftsgrößen (unter anderem Bill Gates) eine neue Generation von kleineren, in Serie hergestellten Kernkraftwerken entwickeln, damit die Kosten planbarer und niedriger werden. Die Konzepte sind zu zahlreich und unterschiedlich, um sie jetzt pauschal zu bewerten, aber eines haben sie alle gemeinsam: Es wird Jahre dauern, bis überhaupt Versuchsreaktoren finanziert und gebaut werden.
Ob der Rückbau dieser Anlagen günstiger wäre als die der aktuellen Kraftwerke, kann aktuell auch niemand beantworten. Beim Rückbau des Kernkraftwerks Greifswald-Lubmin müssen 1,8 Millionen Tonnen Material abgetragen werden. 1,2 Millionen davon sind wiederverwendbar, aber die übrigen 600.000 Tonnen sind Sonderabfälle: Sämtliche Gebäude müssen auf Radioaktivität untersucht werden. Mit einem diamantbeschichteten Seil werden z.B. die kontaminierten Betonwände zerschnitten, während sich kein Personal währenddessen darin aufhalten darf.
Auch durch diese ursprünglich geringer geschätzte Kosten wird die Atomkraft Deutschland laut der Wirtschaftswoche volkswirtschaftlich rund 54 Milliarden Euro mehr kosten, als sie einbrachte.
Fazit: Pro eingesetztem Euro lässt sich mit Erneuerbaren also mehr CO2 einsparen als mit Atomkraft
Kernkraft kann dabei helfen, die Klimakrise zu lösen, aber vermutlich nicht mehr in Deutschland. Als Technologie, um den Kohleausstieg zu überbrücken, wäre sie vermutlich eine sinnvolle Möglichkeit gewesen, denn der Hauptgrund für den früheren Ausstieg (Sicherheit) erscheint vor dem Hintergrund des Risikos von fossiler Technik unglaubwürdig.
Jetzt ist der Atomausstieg aber zu weit fortgeschritten, um ihn rückgängig zu machen. Die Debatte um längere Laufzeiten ist insofern nicht besonders hilfreich, da er uns als Gesellschaft Energie und Zeit kostet, die wir brauchen, um jetzt die Lösungen für 2030 auf den Weg zu bringen. Die Konstruktion neuer Anlagen dauert hingegen viel zu lange, um im entscheidenden Jahrzehnt die gewünschte Wirkung zu erzielen:
Ob die neue Generation von seriengefertigten Mini-Kernkraftwerken irgendwann zur Lösung beitragen, ist heute noch kaum seriös einschätzbar. Es ist nicht klar, wie lange es bis zum ersten kommerziellen Einsatz noch dauert, wie sicher die verschiedenen Typen sind, ob sie das Problem der kontaminierten Rückstände lösen können und wie rentabel sie überhaupt sein werden.
Wir bräuchten 3 Billionen (!) Euro – dann lieber in Erneuerbare investieren
Wollten wir die zukünftig benötigten Strommengen jetzt mit konventioneller Kernkraft decken, müssten in Deutschland 150 große Reaktorblöcke wie die des Kernkraftwerks Biblis oder ca. 100 des neuen, oben erwähnten britischen Reaktors Hinkley Point C betrieben werden. Bei gleicher Baukostenentwicklung würde allein der Bau dieser Anlagen 3 Billionen (3 Tausend Milliarden!) Euro kosten.
Mit diesem Betrag könnten wir stattdessen auch eine halbe Million 6-Megawatt-Windkraftanlagen errichten, die im Jahr selbst an mittelguten Standorten viermal so viel Strom erzeugen würden wie die 100 Kernreaktoren (Kosten pro Anlage 6 Mio. € und mindestens 2.000 Volllaststunden pro großer Anlage ergibt 6.000 Terawattstunden Strom). Und das täten sie ohne Uranimporte und ohne extrem aufwändigen Rückbau. Die ersten vollständig recyclebaren Anlagen sind bereits im Testbetrieb.
Pro eingesetztem Euro lässt sich mit Erneuerbaren also schlicht mehr CO2 einsparen als mit Atomkraft, und das viel, viel schneller. Das dürfte in den kommenden Jahren die größte Rolle spielen.
Artikelbild: pixabay.com, CC0
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