Autor: Dr. Sebastian Losch. Dieser Text erschien zuerst bei Verfassungsblog.
EuGH bestätigt Übernahme europäischer Werte als Asylgrund
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in seinem Urteil vom 11. Juni 2024 (C-646/21) einen geschlechtsspezifischen Asylgrund bestätigt: Frauen, die jahrelang in einem Umfeld der Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern gelebt haben, können unter Umständen einen Anspruch auf Asyl haben, wenn sie diese Lebensweise in ihrem Heimatland aufgeben müssten. Das Urteil stärkt damit nicht nur die Stellung von Frauen in Asylfragen. Es könnte sich auch auf den Schutzstatus von sogenannten „Klimaflüchtlingen“ auswirken.
„Westliche“ Prägung
Im Vorlagefall ging es um zwei irakische Mädchen (2003 und 2005 geboren), die seit 2015 in den Niederlanden leben. Die Asylanträge, die die Eltern für sich selbst und ihre Töchter stellten, wurden im Juli 2018 endgültig abgelehnt. Die Eltern stellten erfolglos einen Folgeantrag und erhoben schließlich Klage.
Drei Jahre später verhandelte das Bezirksgericht Den Haag darüber. Zu dem Zeitpunkt hielten sich die Mädchen bereits seit über 5 Jahren ununterbrochen in den Niederlanden auf – und zwar im Alter von etwa 12-18 bzw. 10-16 Jahren, also während einer besonders prägenden Lebensphase. Sie machten daher insbesondere geltend, dass sie während ihres Aufenthalts die Gewohnheiten, Normen und Werte ihres sozialen Umfelds angenommen hätten und „verwestlicht“ seien; als „verwestlichte“ Mädchen drohe ihnen in ihrem Heimatland Verfolgung. Bei einer Rückkehr in den Irak wären sie nicht in der Lage, sich den dortigen gesellschaftlichen, religiösen und rechtlichen Regeln anzupassen, die Frauen und Mädchen nicht dieselben Rechte wie Männern zugestehen.
Der Begriff der „bestimmten sozialen Gruppe“
Streitentscheidend war Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 ,(„Qualifikationsrichtlinie“).
Diese Richtlinie präzisiert auf europäischer Ebene Kriterien für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 („GFK“). Die GFK und ihr Zusatzprotokoll von 1967 bilden den Kern des internationalen Flüchtlingsrechts. Ihre Flüchtlingsdefinition aus Art. 1 Abschnitt A. Ziff. 2 ist Grundlage sowohl der europäischen Definition als auch etwa der Definition aus § 3 Abs. 1 AsylG.
Flüchtling ist demnach jede Person, die,
„aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will […].“
Richtlinie 2011/95 (“Qualifikationsrichtlinie”) Art. 10 Abs. 1 Buchst. d
Im Fall der irakischen Mädchen kam keiner der spezifischen Verfolgungsgründe in Betracht. Das Gericht in Den Haag legte dem EuGH vor diesem Hintergrund daher insbesondere die Frage vor, ob „westliche Normen, Werte und Verhaltensweisen, die Drittstaatsangehörige durch ihren Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats während eines beträchtlichen Teils ihrer identitätsbildenden Lebensphase übernehmen, wobei sie uneingeschränkt am Gesellschaftsleben teilnehmen,“ eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe begründen können (Rn. 32).
Es gibt keine abgeschlossene Liste jener „bestimmten sozialen Gruppe[n]“. Diese Kategorie ist vielmehr bewusst hinzugefügt worden, um auch gesellschaftlichen oder politischen Entwicklungen Rechnung tragen zu können, die zum Abschluss der GFK noch nicht absehbar waren.
10 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie liefert den Maßstab für die Beantwortung der Vorlagefrage, indem er das Auffangkriterium der sozialen Gruppe wie folgt konkretisiert:
„d) eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn
— die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und
— die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.“
Der EuGH bejahte diese Voraussetzungen.
Identifikation mit Gleichberechtigung als identitätsbildendes Merkmal
Eine „Verwestlichung“ kann für Frauen ein bedeutendes Merkmal darstellen, durch welches sie eine soziale Gruppe im Sinne dieser Norm bilden. Der Gerichtshof bestätigt damit seine Tendenz, in asylrechtlichen Fragen zunehmend die besondere Situation von Frauen zu berücksichtigen. Bereits zu Beginn des Jahres weitete er die Rechte von weiblichen Geflüchteten aus. In seinem Urteil vom 16. Januar 2024 (C‑621/21) erkannte er an, dass die „Tatsache, weiblichen Geschlechts zu sein“, ein angeborenes und für die Identität bedeutsames Merkmal darstellt, welches für die Identifizierung einer „bestimmten sozialen Gruppe“ ausreichen kann (Rn. 49). Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn Frauen eines bestimmten Herkunftslandes in jenem Land geschlechtsspezifische Gewalt fürchten müssen.
Doch auch Frauen, die in ihrem Herkunftsland keine solche systematische Verfolgung fürchten müssen, können als Mitglieder einer anderen sozialen Gruppe „Flüchtling“ sein, wenn sie ein weiteres Identifizierungsmerkmal im Sinne von § 10 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie aufweisen (Rn. 42).
EuGH betont Bedeutung der Verinnerlichung westlicher Werte
Dieses Merkmal, so stellen die Luxemburger Richterinnen und Richter nun klar, könne etwa in der Übernahme bestimmter „westlicher“ Werte liegen. Als entscheidende Werte und Verhaltensweisen, auf die sich die Klägerinnen berufen, identifiziert der EuGH unter Berücksichtigung der Vorlageentscheidung vor allem die gelebte Gleichberechtigung von Männern und Frauen. Die Mädchen wuchsen während einer prägenden Lebensphase unter dem Einfluss der in den Niederlanden gelebten Gleichberechtigung auf; sie waren es gewohnt, gemeinsam mit gleichaltrigen Jungen zur Schule zu gehen, Sport zu treiben und ihre Freizeit zu verbringen.
Die Identifizierung mit dem Grundwert der Gleichstellung von Mann und Frau insoweit, als sie mit dem Wunsch verbunden ist, im Alltagsleben gleichberechtigt zu sein, setze voraus, dass die Frau ihre eigenen Lebensentscheidungen frei treffen kann: etwa in Bezug auf Bildungsweg und Berufswahl, Aktivitäten im öffentlichen Raum, die Partnerwahl oder die Möglichkeit, wirtschaftliche Unabhängigkeit zu erlangen. Diese Identifikation könne so prägend und identitätsbildend sein, dass sie als bedeutsames Merkmal oder Glaubensüberzeugung angesehen werden könne (Rn. 44).
Aufgrund dieser Identität könnten die Mädchen in ihrer Heimatgesellschaft als andersartig betrachten werden, was diese Gruppe deutlich abgrenze (Rn. 45).
Bislang wurde ein solches Merkmal hauptsächlich bei religiös oder politisch begründeten Überzeugungen bejaht. Nun erkannte der EuGH erstmals an, dass auch die unter dem Begriff der „Verwestlichung“ diskutierte Verinnerlichung bestimmter Werte an sich ausreichend sein kann – ohne dass diese eine religiöse oder politische Grundlage haben muss.
Lifestyle oder Identität?
Die Idee, die Übernahme bestimmter „westlicher“ Werte als Verfolgungsgrund zu klassifizieren, ist nicht neu. Einige deutsche Gerichte nahmen in vergleichbaren Fällen bereits die Flüchtlingseigenschaft an. So bestätigt das EuGH-Urteil die Praxis etwa des VG Hamburg, des VG Arnsberg oder des VG Wiesbaden. Diese Entscheidungen ergingen jedoch im Kontext der Herkunftsländer Iran und Afghanistan, Länder, in denen die Rechte von Frauen in den letzten Jahren unter dem zunehmenden Einfluss konservativer islamischer Strömungen immer stärker eingeschränkt wurden. Die Entscheidung des EuGH bestätigt diese Argumentation nun grundsätzlich und unabhängig von bestimmten Herkunftsländern. Da alle Gerichte dieser Auslegungsentscheidung auch außerhalb des Ausgangsverfahren faktisch folgen müssen, erhöht das Urteil den Druck auf die deutschen Behörden, entsprechenden Argumentationen schon im Asylverfahren zu folgen.
Noch größere Auswirkungen wird die Entscheidung in anderen Teilen Europas haben, die das Merkmal der sozialen Gruppe tendenziell restriktiver auslegen. So äußerten neben den Niederlanden auch Tschechien, Griechenland und Ungarn in ihren Stellungnahmen, dass sie das Merkmal der „Verwestlichung“ nicht ausreichen ließen (siehe Schlussanträge des Generalanwalts Collins, Rn. 13). Die Mitgliedstaaten argumentierten, die Klägerinnen hätten sich nicht mit einem gewissen Wert identifiziert, sondern würden lediglich einen bestimmten Lebensstil bevorzugen.
Diese Ansicht verkennt jedoch, dass der Wunsch, nach den hier gegenständlichen Werten zu leben, nicht nur eine bloße Meinung oder Präferenz ist, sondern unter bestimmten Umständen ein unauslöschlicher Teil der Persönlichkeit, ähnlich wie religiöse Überzeugungen oder die sexuelle Orientierung sein kann. Sich in eine patriarchalische Gesellschaftsstruktur wiedereinzugliedern und die Möglichkeit zu verlieren, über wesentliche Aspekte des eigenen Lebens nach freiem Willen entscheiden zu können, ist dann nicht bloß unangenehm, sondern schlichtweg unzumutbar. Dies werden nun auch die Behörden und Gerichte dieser Staaten anerkennen müssen.
Bedeutung europäischer Werte
Das Urteil des EuGH bedeutet einen Meilenstein für die Auslegung der GFK im Lichte europäischer Werte. Es führt die in Art. 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) fixierten Grundsätze konsequent weiter, insbesondere die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Toleranz und Gleichheit. Denn Gleichberechtigung von Frauen und Männern ist nur dann Ausdruck echter Gleichheit, wenn sie nicht nur für Europäer:innen gelten. Für Frauen, die diese Werte nach längerer Zeit in Europa übernommen und verinnerlicht haben, geht es um die Frage, ob sie dazu gezwungen werden können, wieder auf sie zu verzichten. Es ist nur folgerichtig, die Antwort darauf nicht ausschließlich vom Vorliegen eines (weiteren) Fluchtgrundes abhängig zu machen.
Allerdings sollte dabei auf den bislang üblichen Begriff der „Verwestlichung“ verzichtet werden, da er eine problematische Dichotomie zwischen „Westen“ als progressiv und „Osten“ als rückständig schaffen kann (so auch Generalanwalt Collins hier, Rn. 18). Es ist entscheidend, einen respektvollen Dialog über kulturelle Unterschiede zu fördern, ohne die eigene Kultur als überlegen darzustellen. Dies erfordert Sensibilität und ein tiefes Verständnis für die komplexen historischen und sozialen Hintergründe, die die Werte und Normen verschiedener Gesellschaften prägen. Die Pflicht, diese aufzubringen, ergibt sich ebenfalls aus der konsequenten und authentischen Umsetzung unseres europäischen Wertekanons. So bestimmt Art. 3 Abs. 5 EUV spiegelbildlich zu den in Art. 2 genannten Grundsätzen, dass die Union in ihren Beziehungen zur übrigen Welt einen Beitrag zu Solidarität und gegenseitiger Achtung unter den Völkern leistet.
Potenzial der „sozialen Gruppe“
Auch über den konkreten nun anerkannten Fluchtgrund hinaus lässt sich an dem Urteil eine erfreuliche Entwicklung ablesen. Es trägt dazu bei, den Flüchtlingsbegriff über die Kategorie der „bestimmten sozialen Gruppe“ flexibler auszulegen, um aktuelle Herausforderungen berücksichtigen zu können.
Denn Verfolgung ist nicht mehr auf einen politischen oder religiösen Kontext begrenzt. Dies könnte etwa im Kontext der klimawandelbedingten Vertreibung und den damit verbundenen rechtlichen Unsicherheiten relevant werden. Aus den verschiedenen Auswirkungen des Klimawandels könnten sich unzählige verschiedene identitätsbegründende Merkmale ergeben. In Betracht kommt etwa die Gruppe von Landwirten einer bestimmten Region, die unter Ernteausfällen infolge klimawandelbedingter Dürren leiden. Außerdem könnte die Bevölkerung kleiner Inselstaaten, die im Zuge des steigenden Meeresspiegels drohen, im Meer zu versinken, als soziale Gruppe angesehen werden. Auch wenn sich diese Probleme nicht endgültig lösen lassen, indem Aufnahmestaaten die Flüchtlingseigenschaft zuerkennen, könnte man so zumindest vorübergehend ein Mindestniveau an Menschenrechtsschutz für die Betroffenen gewährleisten.
Um die aktuellen Krisen bewältigen zu können, sind wir nicht nur auf dynamische Rechtsrahmen, sondern auch auf deren angemessene und sinnvolle Anwendung angewiesen. Die Richterinnen und Richter in Luxemburg haben gezeigt, wie es geht.
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Der Artikel erschien zuerst auf verfassungsblog.de, CC BY-SA 4.0. Verfassungsblog ist ein Open-Access-Diskussionsforum zu aktuellen Ereignissen und Entwicklungen in Verfassungsrecht und -politik in Deutschland, dem entstehenden europäischen Verfassungsraum und darüber hinaus. Er versteht sich als Schnittstelle zwischen dem akademischen Fachdiskurs auf der einen und der politischen Öffentlichkeit auf der anderen Seite.
Dr. Sebastian Losch ist Rechtsassessor und hat zum Thema “Meeresspiegelanstieg und völkerrechtliche Herausforderungen für kleine Inselstaaten” promoviert. Er studierte Rechtswissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum mit dem Schwerpunkt “Internationale und Europäische Rechtsbeziehungen”.
Artikelbild: canva.com