7.290

Faktencheck: Von der fehlenden wissenschaftlichen Begründung – dieses Artikels

von | Apr 29, 2020 | Aktuelles, Analyse

Fehlt die wissenschaftliche Begründung?

Ein Psychologie-Professor argumentierte auf dem seriösen Wissensschaftsblog spektrum.de vor einigen Tagen, dass Begründungen für die Corona-Maßnahmen fehlen würden. In „Von der fehlenden wissenschaftlichen Begründung der Corona-Maßnahmen“ suggerierte er, Zahlen würden verzerrt und falsch dargestellt. Von Corona-Leugner*innen über Corona-Verharmloser*innen bis hin zu Leuten, denen die Eindämmungsmaßnahmen zu weit gehen, wurde der Artikel als Argument herangezogen, um ihre Position zu untermauern. Dabei fehlt dem Artikel selbst so manche wissenschaftliche Begründung.

Wie auch der MDR zuvor schon analysierte, begeht Kuhbandner nämlich einige grobe Schnitzer, die ihn zu einer falschen Einschätzung des Corona-Virus kommen lassen. Denn Corona ist durchaus viel bedrohlicher, als er es in seinem Artikel erscheinen lassen will. Er argumentiert, dass die Situation mit den Maßnahmen nicht so dramatisch sei, weil die veröffentlichten Zahlen mehrere Tage hinterher hinken würden. Menschen würden sich erst verspätet melden, wie auch das RKI sagt, klar. Und dann spekuliert er weiter: Er behauptet, die Menschen würden nicht sofort zum Arzt gehen. Er argumentiert, dass deshalb die Statistik nicht korrekt sei.

Ja, die Zahlen sind verzerrt. ABER …

Und es stimmt, dass die Zahlen hinterherhinken. Aber das ist allen klar – das ist aber kein automatischer Grund dafür, dass die Verbreitung tatsächlich langsamer sei als angenommen oder dergleichen. Denn es heißt, dass eine stärkere Ausbreitung eben auch erst verspätet berichtet werde. Derzeit steigt die Ansteckungsrate R wieder – was heißt, die zunehmende Ausbreitung könnte in den letzten Tagen sogar wieder gefährlich angewachsen sein. Er argumentiert, man habe verpasst, früher Lockerungen vorzunehmen. Das ist jedoch sinnlos: Dass die Infektionsrate sinken würde, hätte man vorher ja auch nicht wissen können. Frühere Lockerungen wären wissenschaftlich äußerst schwer zu begründen gewesen. Oder argumentiert er, man hätte einfach ins Blaue hinein Lockerungen vornehmen sollen? Absurd.

Er behauptet jedoch weiter: „Mit der zunehmenden Anzahl an Tests findet man auch zunehmend mehr Neuinfektionen.“ Man müsse deshalb „die Anzahl der mit einer bestimmten Testanzahl gefundenen Neuinfektionen durch die Testanzahl teilen.“ So würde man „nur“ einen vierfachen Anstieg an Infektionen messen können, keinen 27-fachen. Das ist aber Unsinn, denn er nimmt hier an, man würde nur Personen testen, die mit dem Corona-Virus infiziert sind. Was keinen Sinn macht. Man ja doch nicht vor dem Testen, ob eine Person infiziert ist. Außerdem bezieht er sich nur auf neu auftretende Fälle, was auch falsch ist.

Denn bisher Erkrankte sind ja immer noch krank. Und immer noch eine Gefahr für sich und andere. Man kann diese doch nicht einfach ignorieren. Schlimmer noch: Erkrankte, die nach 14 Tagen weder verstorben sind noch auf der Intensivstation liegen, werden automatisch als „genesen“ gezählt. Das ist auch fahrlässig und verzerrt die Darstellung weiter ins Harmlose. Soweit hat Kuhbandner aber nicht mal argumentiert. Außerdem vergisst er, dass es selbstverständlich ist, dass man prozentual weniger Infizierte findet, je mehr man testet. Macht man weniger Tests, testet man es vor allem bei Risiko-Patient*innen – und findet dann natürlich mehr Infizierte. Das ändert ja nichts ihrer tatsächlichen Anzahl.

Mehr Tests bedeutet nicht ein Ende der Ausbreitung

Inzwischen können bis zu 70.000 Menschen pro Tag getestet werden, vor allem Ärzt*innen, Pflegepersonal und so weiter, die einem besonderen Risiko ausgesetzt sind. Die werden sogar regelmäßig getestet. Aber dass dadurch die Prozente fallen, ist überhaupt kein Indiz dafür, dass die Ausbreitung gestoppt wurde. Das ist ein Denkfehler. Außerdem stimmt es nicht, dass Menschen Tage nach Auftreten von Symptomen mit dem Test warten würden. Gerade er als Psychologe müsste das wissen, dass derzeit enorm viel mehr Menschen aus Angst zum Arzt gehen – selbst mit eingebildeten Symptomen.

Die Menschen sind natürlich viel alarmierter als sonst. Auch beginnt die Saison für Heuschnupfen und Allergien, was viele ähnliche Symptome erzeugt, ebenso wie Ängste. Dadurch lassen sich mehr Menschen testen und dadurch sinkt natürlich auch der Anteil der negativen Tests. Darauf rückzuschließen, dass die Pandemie zurück geht, ist unseriös. Die ganze Situation ist kompliziert und ja, uns fehlen enorm viele Daten. Aber das RKI gibt seine Vorgaben gemäß der besten Daten und der besten Wissenschaft, die zur Verfügung steht.

Auf Nachfrage vom MDR sagte das RKI zum Artikel „Von der fehlenden wissenschaftlichen Begründung“, sie würden aus Kapazitätsgründen nicht auf Einzeläußerungen von „Fachfremden“ reagieren. „Das RKI hat auch immer wieder darauf hingewiesen, dass die Maßnahmen nicht auf einzelnen Mess- oder Schätzgrößen beruhen.“ Mit Dunkelziffern und eigenen Vorstellungen zu spekulieren ist Unsinn, denn man könnte auch genau das gegenteilige Argument anbringen – die Zahlen könnten auch enorm steigen, ohne dass wir es wissen. Derartige Spekulationen voller Denkfehler sind unseriös und streuen nur völlig unnötig Misstrauen in die Expert*innen vom RKI. Anstatt einem Psychologie-Professor heranzuziehen empfehlen wir den Podcast von Corona-Experten Dr. Drosten (Link).



Artikelbild: pixabay.com, CC0 / Screenshot