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Unter Trollen: Ich wurde Opfer einer Trollarmee – So trickste ich sie aus

von | Aug 25, 2019 | Analyse, Social Media

Unter Trollen

Wir sollten uns viel mehr Geschichten erzählen – und ich könnte die folgende auch als Slapstick- artiges Hineinstolpern einer Trollarmee in meinen Twitter-Account erzählen. Davon wie ich merkte, dass sich die Zugriffsdaten veränderten, eigenartige Zusammenhänge mit meinem Umfeld bemerkte und mich entschied ein erratisches Spiel voller vorgeschobener Erklärungen, Fake-Accounts, Irrungen und Wirrungen mitzuspielen. Tatsächlich werde ich das aber nicht tun und das aus gutem Grund.

Was mein Gegenüber mir antun wollte war eine wilde Kombination aus Stalking, Mobbing, Doxing, Gas Lighting und dergleichen mehr. Zu keinem Zeitpunkt des Prozesses war dabei klar, was ich wusste, wie es mir damit wirklich ging und was die Folgen sein würden. Ich kommunizierte die gesamte Bandbreite der möglichen Warnsignale – trotzdem wurde weiter heftig draufgehalten.



Die Zahlen sprechen dabei eine eindeutige Sprache:

Nach Schätzungen begehen zwischen 1600 und 3000 Menschen in Deutschland jährlich in Folge von Mobbing Selbstmord – darunter sind den Erhebungen zu Folge 600 Jugendliche. Mit 2/3 sind Männer häufiger betroffen als Frauen, wobei die mediale Berichterstattung sich in Bezug auf Online-Mobbing vor allem auf in der Öffentlichkeit stehende Frauen fokussiert.

Denken wir an Trolling, Hate Speech und Online-Mobbing, dann denken wir wohl vor allem an Sawsan Chebli, Angela Merkel und die erst 16-jährige Greta Thunberg, über die sich Hohn und Spott ergießen. Immer wieder liest man aber auch von Jugendlichen, die sich nach Mobbing das Leben nehmen – ob online oder offline ist dabei recht egal. Die Methoden unterscheiden sich, die Verzweiflung aber ist die gleiche.

Nach Gewerkschaftsschätzungen werden zwischen drei und fünf Prozent der Beschäftigten gemobbt – im Schnitt müssen also etwa 1,5 Millionen Arbeitnehmer täglich an einen Ort, an dem sie Demütigungen und Schmähungen ausgesetzt sind, von denen sie nicht wissen, wie sie ihnen entkommen können. Wissenschaftliche Erhebungen kommen zu dem Ergebnis, dass ca. 45% der Mobbingopfer den Suizid als einzigen Ausweg sehen.

Woher kommt die Hilflosigkeit? Wieso ignoriert man derartige Angriffe nicht einfach weg?

Was können Betroffene tun und nicht zuletzt: Wie kann das Umfeld adäquat reagieren?
Ich nutzte die mir in den Schoß gefallene Trollarmee für ein autoethnographisches Experiment, dem ich eine dringende Warnung vorwegschicken möchte. Ich klinge jetzt ein bisschen wie Armin aus der Sendung mit der Maus, aber: Macht das niemals nach. In Kenntnis der dahinterstehenden Akteure war mir zwar klar, dass ich mich da auf nichts Gutes einlasse, dass ich mit derartig entgrenztem Hass konfrontiert werden würde, hatte ich aber nicht vorhergesehen.

Es hat keinen Sinn an Menschen zu appellieren, die sich zusammenrotten, um andere fertigzumachen. Es ist ein eigenartiges Zusammenspiel aus gegenseitiger Bestärkung, das zu mangelnder Reflexionsfähigkeit des eigenen Verhaltens und zur Ausschaltung jeglicher realistischer Eigen- und Fremdwahrnehmung führt und damit schlussendlich den Verlust jeglichen Mitleids und der Fähigkeit des Mitleidens und Einfühlens in den anderen als Konsequenz nach sich zieht. Kein Warnsignal, keine Furcht vor Sanktionen, keine Angst vor psychischen oder physischen Folgen für den anderen dringt zu den Beteiligten durch. Sie werden umgedeutet, wegignoriert oder missachtet. Sozialwissenschaftler nennen das: Gruppendynamik.

Wir kennen das von uns selbst, denn jeder lässt sich im Kreis von Menschen, denen man vertraut und/oder mit denen man ein „wir“ bildet, zu Dingen verleiten, die wir alleine oder vor jemandem, vor dem wir uns moralisch rechtfertigen müssen, nicht tun würden. In der Schulzeit haben die einen mit ihren Freunden das Telefonbuch durchtelefoniert und Fremden einen „Streich“ gespielt, sind gemeinsam „Klingelputzen“ gegangen oder haben als alkoholisierte Jugendliche Bäume mit Klopapier und Fensterscheiben mit Eiern beworfen. Andere haben jemanden in die Kloschüssel gedrückt und die Spülung betätigt.

Jungs sind eben nicht JUngs

Dieses Verhalten endet nicht beim kindlichen oder jugendlichen Leichtsinn oder bei „Jungs sind eben Jungs.“ Auch Erwachsene sind vor diesen Mechanismen nicht gefeit. Legen wir sie ihnen abstrakt vor, ordnen sie moralisch ein, zeigen wir die Konsequenzen auf, so erkennen sie die Verwerflichkeit des Verhaltens. Agieren sie in der Gruppe, so lassen sie sich davon mitreißen.

Wir alle erinnern uns an unsere Schulzeit und daran, wie die gesamte Klasse sich einig war „ich hätte damals nicht mitgemacht.“ Ich hätte das schon damals nicht beschworen.  Die großen Katastrophen der Geschichte sind mahnende Zeugen dessen, zu was Menschen in der Lage sind, wenn sich selbstreferentielle Gruppen bilden, die sich selbst in ihrem Wahnsinn verstärken und ihre Abwertung gegenüber anderen zum Ziel des gemeinsamen Handelns macht.

Lässt sich die Konfrontation nicht mehr vermeiden, setzt das große Leugnen ein. Es ist Imagepflege, wie sie Goffman beschrieben hat – keiner will sich seiner Schuld stellen, man schiebt die leise geäußerten Zweifel vor und verklärt sie zum Leitmotiv des eigenen Handelns. Am Ende waren immer alle im Widerstand oder haben von nichts gewusst.

So reagieren trolle

Der Angegriffene, der gegen die Attacken oder die Angreifer anschreit, schreit gegen eine Wand aus Ignoranz, wer um Gnade bettelt, wird verlacht. Jede explizit oder implizit gesteckte Grenze wird böswillig umgerissen. Auf die Drohung mit Konsequenzen folgen Einschüchterung und Entmutigung. Der Appell an Vernunft oder Moral wird höhnisch übergangen oder umgedeutet – es ist einfach jemand anderem die Schuld zuzuweisen, wenn man ihn ohnehin schon geringschätzt: Er oder sie hat es eben verdient. Es ist der Mechanismus des Sündenbocks, den Lewis A. Coser für die Soziologie beschrieben hat: Frustration oder allgemeiner Unmut, die zu schwelenden, nicht ausfechtbaren Konflikten führen, werden auf abstraktere, aber ausfechtbare Konfliktebenen gezogen und so ausgetragen.

Offensive Höflichkeit wird ebenso abgestraft, wie der Versuch einer Klärung auf Sachebene.
Versucht sich der Attackierte zu entziehen, wird er verfolgt, bedrängt, bedroht. Wer verstummt und sich zurückzieht, wird spätestens dann weiterattackiert, wenn er sich doch wieder heraustraut. Wer mitspielt und so versucht ein Ende oder eine Wende herbeizuführen, sieht sich doch wieder neuen Attacken ausgesetzt.

Auf das klare Benennen der Attacken folgen Leugnung, Spott oder das Kleinreden der Vorfälle. „Das ist doch alles nur Spaß.“ Es ist ein perfides An-sich-Reißen der Definitionshoheit. Eine Abwertung des Individuums, seiner Interessen und Bedürfnisse. Schlussendlich aber auch das In-Frage-Stellen seiner Wahrnehmung und das gezielte Herbeiführen der Hoffnungslosigkeit durch eine Situation, die man nicht selbst wenden oder beenden kann.

was ist ihr ziel?

Alle Formen dieser Angriffe zielen auf eines: Isolation, Verunsicherung und Silencing des Individuums. Schon die Konfrontation mit einer feindlich gesinnten und handelnden Gruppe soll ein Gefühl der Machtlosigkeit erzeugen, das Gefühl im Unrecht zu sein oder wenigstens dazu führen an der eigenen Wahrnehmung und Bewertung zu zweifeln, wenn doch eine Menge anderer vehement das Gegenteil behauptet. Es soll auslösen, dass sich Menschen nicht weiter trauen ihre Meinung zu äußern, dass sie an sich selbst zweifeln, nicht mit ihrem Umfeld sprechen, um sich Unterstützung zu suchen oder auch ihre eigenen Interessen nicht zu verteidigen und zu verbalisieren.

Direkte Angriffe gegen die Person, ihren Körper, ihre Haltung, ihre Kompetenzen und Werte führen zu einem Gefühl der Scham sowie zu Zweifeln an sich selbst. Niemand ist sich letztendlich sicher, dass alles, was er glaubt stimmt. Jeder erkennt sein Veränderungspotenzial, seine eigene Nichtigkeit und Unwichtigkeit und schlussendlich auch, dass seine eigenen Überzeugungen niemals endgültig wahr sein können. Wir haben alle erlebt, dass unsere großen offensichtlichen Wahrheiten nur wenige Jahre später nur noch eine Erinnerung sind, die wir als jugendlichen Idealismus oder großen Irrtum abhaken oder verleugnen.

Selbst der größte religiöse Fanatiker hat irgendwo in seinem Hinterkopf leise Zweifel an Gott sowie auch der überzeugteste Atheist – so argumentiert Richard Dawkins in „der Gotteswahn“ – höchstens ein Agnostiker ist, der eine sehr geringe Irrtumswahrscheinlichkeit nicht ausschließen kann.
Das alles ist so richtig wie redundant. Es macht uns trotzdem angreifbar, weil es unsere ohnehin vorhandenen Selbstzweifel nährt.

Der psychologische mechanismus hinter cyber-mobbing

Noch aggressiver ist die Methode der despektierlichen Fremdzuschreibungen. Durch aggressive Pathologisierungen soll der Angegriffene dazu gebracht werden an seiner geistigen Gesundheit, seinem moralischen Gewissen und seiner Eigenwahrnehmung zu zweifeln. Jeder Mensch hat eine facettenreiche Persönlichkeit, die auch Charakterzüge enthält, die in ihrer totalen Ausprägung krankhaft sein können. Wird unsere Aufmerksamkeit auf diese gelenkt und die Gegenanzeichen ignoriert oder weggeleugnet, so sollen wir diese Facetten selbst erkennen, überbewerten, mit uns selbst hadern und in unserer Verunsicherung die Frage stellen, ob die Zuschreibung nicht doch wahr ist.

Das Prinzip kennen wir von Horoskopen: Ein bisschen was stimmt immer, meist sind es hier aber eher positive Charakterzüge, die beschrieben werden, so dass wir nur allzu gerne zu glauben bereit sind, dass die Zuschreibungen stimmen und uns als wertvolle Person ausweisen. Man ist eben gerne der ordnungsliebende charakterstarke und durchsetzungsfähige Steinbock – dann muss auch der Rest stimmen und wenn wir uns darauf konzentrieren, dann finden wir in den sehr allgemein gehaltenen Weissagungen auch einen auf aktuelle Ereignisse beziehbaren Kern.

Der Mechanismus abwertender Fremdzuschreibungen bezüglich Einstellungen oder Verhaltensweisen funktioniert sehr ähnlich – die Aufmerksamkeit wird von der notwendigen Gesamtbetrachtung der charakterlichen Disposition, der Haltungen, Werte und der erlebten, gewachsenen Geschichte mit all ihren Erfahrungen abgelenkt – stattdessen soll sich der Attackierte auf die Anteile seiner Persönlichkeit, Haltungen und Werte konzentrieren, die ihm das Gegenteil seines Eigenbildes suggerieren und ihn damit an sich selbst, seinen Haltungen und seinem moralischen Gerüst zweifeln lassen.

Troll-Neusprech

Abwertungen können aber auch genereller gehalten werden: Attackiert wird hier nicht das Individuum als solches, sondern das Wertegerüst oder die Kernüberzeugungen, in welches es sich fügt und für welches es steht. Werden diese Einstellungen und Haltungen abgewertet, so wird im zweiten Schritt damit auch derjenige diskreditiert, der für sie einsteht und sich einsetzt.

Auch bewusstes Missverstehen gehört in diese Kategorie. Niemand weiß wirklich, was das Gegenüber in letzter Konsequenz mit einer Aussage gemeint hat. Wir interpretieren also zwischen Wortlaut, Erfahrung mit dem anderen und vorausgesetztem Grundvertrauen. Wer bewusst missversteht, nicht für ihn bestimmte Aussagen auf sich bezieht, vereinnahmt die Kommunikation des Gegenübers und reißt die Deutungshoheit an sich – es ist ein Machtspiel, das Machtlosigkeit suggerieren und den Angegriffenen in Bezug auf die Klarheit seiner Aussagen verunsichern soll.

Damit einher geht eine Umdeutung von Begriffen – es ist das orwellsche Neusprech. Die Themen und Wörter, die wir kurz zuvor noch unbefangen ausgesprochen haben, die unser Umfeld prägen, da wir hauptsächlich mit Menschen interagieren, die einen ähnlichen Wertekosmos haben, werden umgedeutet und zu Schlagworten der uns zugefügten Verletzungen. Spricht jemand diese Themen an, so kommen wir auf einmal ins Zweifeln, ob nun auch derjenige sich mit den Angreifern verbündet hat. Selbst wenn wir das rein denklogisch ausschließen können, führt aber allein das Aufrufen des Themas, das Aussprechen des Wortes dazu, dass wir uns permanent an die Beleidigungen, Abwertungen und Schmähungen erinnern.

Wie trolle triggern

Neudeutsch nennt man das „triggern“ – wir verstehen oft nicht, was es ist, was das Gegenüber aus unseren Aussagen falsch kontextualisiert oder versteht, an welches Ereignis im Leben es sich zurückerinnert fühlt, wenn wir ein für uns belangloses Thema oder Wort ansprechen oder nutzen. Besonders perfide wird diese Methode, wenn die Trigger auch noch bewusst eingesetzt werden, um als alleinstehender Angriff zu fungieren. Es reicht dazu durchaus, sie als einzelnes Wort in einem Gespräch zu verwenden oder als haptische Entsprechung so zu platzieren, dass die Attacke verstanden werden muss.

Noch relevanter ist aber ein anderer Mechanismus: Wir alle wissen, dass wir angreifbar sind. Wenn wir uns offenbaren oder Verbündete suchen, müssen wir uns unserer eigenen Verletzlichkeit stellen und unsere wunden Punkte offenlegen. Es genügt nicht die Attacken zu schildern – die menschlichste, wahrscheinlichste aller Reaktionen darauf ist der lapidare Hinweis sich dem zu entziehen. Es ist eine Kommunikationsfalle. Derjenige, der sich offenbart, muss gegen Unverständnis und einfache Lösungsvorschläge eines – hoffentlich – wohlmeinenden Gegenübers anargumentieren – er muss immer mehr von sich offenlegen, um Verständnis zu erhalten. Dabei kostet schon der erste Schritt für viele zu viel Überwindung. Stattdessen tun viele Menschen eben eines: Sie leiden stumm, brechen die Gesprächsversuche ab und ziehen sich in sich zurück.

falsche freunde

Isolation kann aber auch deutlich perfider induziert werden, indem sich die Angriffe gegen das soziale Umfeld des Individuums wenden und dieses bewusst oder unbewusst zum Spielball der Attacken gemacht wird. Es ist die Verunsicherung über die Loyalität unseres Gegenübers, die aus schlechten Erfahrungen gespeist wird, die sich die Angreifer zu Nutze machen.

Wir alle kennen sie: Die falschen Freunde, die sich unsere Geschichten anhören, um dann vertrauliche Informationen brühwarm weiterzutragen. Und wir kennen auch diejenigen, die uns ohne offensichtlichen Grund auf einmal stehenlassen oder sogar anfangen uns mit Vorwürfen zu überhäufen. Wir sind uns niemals zu 100% sicher, wen wir da vor uns haben und welche Agenda die Person verfolgt. Manch einer lügt uns ins Gesicht und erweist sich schlussendlich als Opportunist.

Partnerschaften zerbrechen und legen Charakterzüge frei, die wir dem anderen nie zugetraut, schlimmer noch, gegen die wir noch kurz vorher unser Leben verwettet hätten. Menschliche Enttäuschungen sind Teil jeder einzelnen Biographie, Verrat seit Menschengedenken das Kernthema von Mythologie und Geschichte. Je länger und besser wir das Gegenüber kennen, desto sicherer werden wir uns bezüglich seiner Absichten. Wirklich sicher aber sind wir uns nie.

zweifel am sozialen umfeld säen

Wenn die Angreifer Unklarheit über die Menge und Identitäten der Beteiligten schaffen, wenn sie sogar noch über die Identität der Unterstützer und Unbeteiligter lügen, nähren sie damit bewusst Zweifel an unserem sozialen Umfeld, sie isolieren den Angegriffenen und zerstören das Grundvertrauen, das wir alle benötigen, um möglichst unbefangen mit unserer Umwelt interagieren zu können. Plötzlich sehen wir Warnsignale bei jedem Unbekannten, Bekannten oder sogar Freund. Selbst unser nächstes Umfeld bleibt nicht davor verschont. Es ist nichts weiter als boshaft induzierte Wahnvorstellungen, die weit über ein gesundes Misstrauen hinausgehen und den Angegriffenen zwingen sollen sich zu isolieren, weil er niemandem mehr traut.

Das Zusammenspiel dieser Techniken nennt man Denglisch „Gaslighting“ – es ist ein gezielter Angriff auf die Selbstwahrnehmung des Individuums. Es soll dazu führen, dass dieses an seinem Verstand verzweifelt, sich selbst in Frage stellt und hat nicht selten massive psychische und physische Folgen.
Als ich bemerkte, dass mein Twitteraccount von einer Trollarmee belagert wurde, war es eigentlich schon zu spät.

Was passiert ist

Ich hatte den Account etwas aus den Augen verloren, da er – gegründet als Teil des Social Media Kits eines nicht mehr existierenden Blogs – thematisch entkernt und als Reminiszenz an die Veganbloggerszene der frühen 2010er einfach nur übriggeblieben war. Die ersten Warnhinweise bemerkte ich zu spät, die folgenden dokumentierte ich bewusst und begann später auch diese explizit zu benennen. Die Trolle durften durchaus wissen, dass ich bemerkt hatte, dass etwas vor sich geht.

Es war nicht der erste Trollangriff

Einen zuvor hatte ich rechtzeitig bemerkt und den Account privat gestellt und mühsam bereinigt, das ist allerdings eine Sisiphos-Aufgabe. Darauf hatte ich nach reiflicher Kosten-Nutzen-Überlegung keine Lust – nicht für einen Account, der eigentlich im Wesentlichen nur noch Account-Leichen als Follower hat. Ich sah mir also das Trollnetzwerk an, googelte ein wenig, stellte fest, dass nicht nur Twitter, sondern auch das – wie wir es in den frühen 2000ern nannten – real life betroffen war und überlegte, wie man damit nun umgehen soll.

Was die Trolle mir erzählten: Sie betrieben Sozialforschung und/oder Kunst. Es war eine hämische Abqualifizierung: Sie wollten mich demütigen, indem sie auf meinem Gebiet herumstocherten und mir beweisen wollten, dass sie mich übertrumpfen, blamieren oder bloßstellen konnten.
Es gibt Provokationen, die man herunterschluckt. Diese nicht. Also beschloss ich gegenzuhalten. Es war ein Akt der Selbstermächtigung. Studien zu Trollnetzwerken, wie sie sich untereinander absprechen, wie sie aufgebaut sind, etc. gibt es zur Genüge.

Es sind deskriptive Arbeiten mit bunten Grafiken und Relevanzzuschreibungen, typisch für die eher quantitativ ausgerichtete Netzwerkforschung. Mein soziologisches Interesse galt aber schon immer der verstehenden Soziologie. Diese will wissen warum Menschen so sind, wie sie sind, weswegen sie handeln wie sie handeln – sie fragt nach den Beweggründen, nach den Effekten, nach den Auslösern und Folgen. Ich hatte das Glück schon als Kind einen der großen Ethnographen treffen zu dürfen: Roland Girtler. Dieser hat mein Bild von der Wissenschaft und von dem was sie kann geprägt.

eine Autoethnographie

Girtler tritt für etwas ein: Das unbedingte Ernstnehmen des Beforschten. Ein wenig finden wir davon in den Ethikrichtlinien der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, die Radikalität mit der sich Girtler aber über diejenigen lustig macht, die meinen dieK Lebenswelt der Beforschten besser verstehen zu können, als die Beforschten selbst, ist für die einen Grund zu Kritik und Spott, für andere unbedingte Leitschnur. Ihr, liebe Leser, werdet es schon ahnen: Ich gehöre zur zweiten Gruppe.

Also beschloss ich: Wir spielen Girtler. Methodisch lehnte ich mich an die Autoethnographie an – denn was wirklich passiert, was ich verstehen konnte, waren nicht die Beweggründe der Angreifer. Die Sozialwissenschaften sind über diverse Diskussionen und kritische Auseinandersetzungen mit den Vorvätern und ihren Forschungsarbeiten schließlich zu einem Schluss gekommen: Wir schreiben immer nur über das, was wir von uns selbst im anderen wiedererkennen.

Vielleicht kennen wir uns nicht einmal selbst, das allerdings noch am besten. Mit einer sozialwissenschaftlichen Ausbildung können wir zumindest eines: Die Veränderungen, die wir an uns selbst bemerken beschreiben und kritisch analysieren. Autoethnographien sind Werke, in denen wir uns selbst offenlegen, es sind sehr persönliche Texte, deren Veröffentlichung uns unendlich viel Mut kostet, weil wir ein unbekanntes Publikum in unser Innerstes sehen lassen.

Roland Girtlers Arbeit zeichnet neben seinen zehn Geboten der Feldforschung (Link) vor allem eines aus: Er schreibt seine Ergebnisse verständlich und für ein breites Publikum nieder. Auch das wollte ich tun.

Ich fing an meinen Twitter-Account zu präparieren:

Ich schrieb Tweets, die man nur verstehen konnte, wenn man nicht nur die aktuellen Ereignisse in meinem Leben kannte, sondern vor allem auch die Wortwahl kontextualisieren konnte. Es war angelehnt an den Falken der Novelle, das immer wiederkehrende Motiv, das die Handlung rahmt und sie durchzieht: Bestimmte Schlüsselbegriffe oder Hashtags verwiesen auf Ereignisse meines Lebens, auf bestimmte Personen, Erschütterungen, Ereignisse.

Wer mich kennt oder zu einem bestimmten Zeitpunkt kannte, der würde einiges wiedererkennen. Ja, wer ehrlich interessiert war, der würde durch diese Tweets einen Teil meines Werdegangs verstehen können. Wer allerdings bloßes Agenda getriebenes Bashing betrieb, für den lasen sich die Tweets wie das Protokoll eines Zusammenbruchs: Coping-Strategien, Drohungen, Selbstzweifel.

mein patronus

Jeder von uns hat wichtige Ereignisse in seinem Leben. Dinge und Personen an denen wir gescheitert sind, die uns geprägt haben, an denen wir zerbrochen oder gewachsen sind. Ich nahm die wichtigsten Personen, Ereignisse und Themen und hinterlegte sie mit einem damit in Verbindung stehenden Ding, dem jeweiligen Falken. Potter-Kenner kennen dieses Prinzip, es ist der Patronus, den Harry Potter gegen die Dementoren einsetzt.

Eine Technik, die J.K. Rowling aus der Psychologie entlehnt hat. Der Patronus ist die Manifestation der glücklichsten Erinnerungen, die uns vor den Angriffen der Dementoren, die das Glück aussaugen wollen, beschützt. Ich platzierte das Gegenstück dazu in Gesprächen. Es war eine Handreichung, ein Friedensangebot, das eines benötigt hätte: Das was Girtler als ero-episches Gespräch bezeichnet. Es ist eine Gesprächsform, die weit weg ist, von dem, was Forscher sonst machen. Der Soziologe sitzt im Interview hinter seinem Aufnahmegerät und befragt sein Studienobjekt, nach dem Austausch der Höflichkeiten verschwindet er wieder. Die klassische Interviewforschung warnt sogar davor sich zu sehr mit dem Studienobjekt zu fraternisieren. Bei Girtler ist das anders: Man isst, lacht und trinkt zusammen und erzählt sich gegenseitig von seinem Leben.

meine überlebensstrategie

„Du sollst die Muße zum „ero-epischen (freien) Gespräch“ aufbringen. Das heißt, die Menschen dürfen nicht als bloße Datenlieferanten gesehen werden. Mit ihnen ist so zu sprechen, daß sie sich geachtet fühlen. Man muß sich selbst als Mensch einbringen und darf sich nicht aufzwingen. Erst so lassen sich gute Gesprächs- und Beobachtungsprotokolle erstellen. (Gebot 7)

So erzählte ich von meinem Leben und wusste, dass es niemand verstehen konnte. Bis zum ersten offensiven Angriff vergingen noch Monate. Ich hatte Twitter mit Dingen gefüllt, die unverstanden blieben und als der erste Schlag kam, standen die Trolle vor einer Wand: Ich hatte auf Twitter bereits ein Bild erzeugt, das nicht ansatzweise der Realität entsprach. Es war schamlos unterkomplex und entsprach dem Abziehbild der Karrierefrau aus dem Herzkino: Überarbeitet, einsam, traurig.
Gegen dieses Bild ließ ich sie rennen. Wieder und wieder.

Es half: Ich konnte ruhig bleiben, die wichtigste aller Überlebensstrategien, und ihnen immer wieder vorführen, dass sie nichts über mich wussten, Aussagen falsch interpretierten und sich moralisch disqualifizierten. Ich erzählte ihnen Geschichten, auf die sie ansprangen. Ich kommunizierte die Vorwürfe gegen mein soziales Netz offen mit denjenigen, die mir als Verräter benannt worden waren. Es schweißte uns nur näher zusammen und ich gewann Unterstützer.

Ich testete sie, indem ich in bewusst offengehaltener Sprache auf aktuelle Ereignisse rekurrierte und immer wieder feststellte, dass sie nichts über mich wussten, Dinge falsch deuteten, Tweets fälschlich auf sich bezogen.

Das Wichtigste war aber: Ich bewies es mir selbst.

Bezüglich des Gaslightings fühlte ich mich relativ sicher: Die wichtigste Basis für diese psychologische Technik ist ein bestehendes Vertrauensverhältnis, in welchem derjenige, der mit den Methoden überzogen wird, keinen Grund hat dem Täter zu misstrauen und deswegen die Aussagen nicht mit der Realität abgleicht. Aber wer glaubt schon einer Trollarmee aus dem Internet?

Recht früh bemerkte ich, dass man auch bei ihnen Panikreaktionen hervorrufen konnte, die sie zu Fehlern verleiteten. Dass der durchexerzierte Plan bei Weitem nicht so gut geplant und durchdacht war, wie es auf den ersten Blick den Anschein machte, dass sie nicht halb so gut präpariert und erst recht nicht methodisch ausgebildet waren, wie sie es behaupteten und dass sie durchaus Angst vor Konsequenzen hatten. Ich sammelte Beweise, sie versuchten mich einzuschüchtern – auf derartige Diskussionen ließ ich mich aber gar nicht erst ein, ich wollte ihre Aktionen und Reaktionen, ihre Werkzeuge und Methoden beschreiben und mich nicht auf Detaildiskussionen einlassen. Sie wussten ohnehin selber, dass sie mir Lügen auftischten.

mein gegenangriff

Ich konterte jede Lüge mit einer Lüge. Erzählte mir einer ihrer Fake-Accounts von einem Konzert, das nicht stattgefunden hatte, erzählte ich ihm, dass ich unbedingt auf ein Konzert der Band wolle. Ich hätte kein einziges Lied nennen können. Auf Forderungen hin vertröstete ich auf unbestimmte Zeit. Frei nach Girtler lebte ich nach den Sitten der Trolle. Ich kopierte ihre Tweetideen, retweetete die Dinge, die sie mir zuspielten, beschaffte mir erst einen Überblick und dann ein solides Wissen über mein Gegenüber und spielte den Rest der Zeit mit. Ich sammelte Beweise, analysierte, probierte mich durch den Wust aus Hass und Gewalt. Manchmal machte es sogar Spaß, es war herausfordernd. In Kenntnis dessen was mir angetan werden sollte, war es aber erschütternd und traurig.

Sie führten immer wieder selbst den Beweis, dass sie überhaupt nichts verstanden hatten, dass sie mir selbst die absurdesten Geschichten, Selbstzuschreibungen und Begeisterungsbekundungen glaubten oder Aussagen falsch interpretierten. Sie kannten und verstanden mich nicht, das hatten sie bewiesen.
Ab und an trafen sie doch einen Nerv: Wer wild um sich schlägt, schafft das immer. Ich zog die Gegenstrategie an. Ich kommunizierte Warnhinweise in ihre Richtung: zunächst waren es nur Triggerwarnungen.

das moralische versagen der angreifer

Dann begann ich die Palette der einschlägigen Signale für eine psychische Überlastung zu kommunizieren: Schlafstörungen, Nervosität, Gereiztheit, allgemeine Angespanntheit, Coping-Strategien (Sport zur Entspannung, Rauschmittelabusus (ausschließlich legal, illegale Substanzen hielt ich aber in meiner Kommunikation vage offen) zuletzt sogar eine Essstörung. Nichts davon führte dazu, dass sie von mir abließen.

Es war das moralische Versagen einer Gruppe von Angreifern, welches ich mir selbst vorführte, um mich daran zu erinnern, dass nicht ich es war, die in dieser Geschichte Scham oder Schuld zu empfinden hatte.

einer radikalisierten affenbande zusehen

Ich grenzte mich immer weiter von meinen Angreifern ab, konnte den entgegengebrachten Hass kontextualisieren, analysieren und intellektualisieren. Ich beobachtete ihr Netzwerk, ihren „Werkzeuggebrauch“ und fühlte mich immer mehr wie das Idol meiner Kindheit: Dian Fossey. Es war wie einer wildgewordenen, sich immer weiter radikalisierenden Affenbande zuzusehen.
Irgendwann endeten die Variationen.

Es gab nur noch die Belagerung durch Fake-Accounts, die Lügengeschichten auftischten und Dinge einforderten, das Präsentieren immer neuer Honeypots, die jede noch so wilde Geschichte glaubten oder zumindest nicht bestritten und die vorhandenen Online-Ressourcen schienen aufgebraucht, zumindest wurden mir keine weiteren mehr präsentiert.

In der qualitativen Sozialforschung nennt man diesen Zustand theoretische Sättigung. Er bedeutet: Das Feld hat dir nichts mehr zu sagen, du hast alles gesehen und kannst gehen. Ich hatte einen widerwärtigen Alptraum, der eindeutig im Kontext mit den Trollangriffen stand. Einer dieser Träume, nach denen man schweißgebadet und desorientiert aufwacht und ein paar Momente zwischen Realität und Traumwelt festhängt. Bei aller Abgrenzung und allen Selbstermächtigungsstrategien:

Es wurde Zeit das Experiment zu beenden.

Ich verabschiedete mich von den Trollen und forderte eine Entschuldigung. Die bekam ich – ich hatte es geahnt – nicht. Also ließ ich die Geschichte nochmal eskalieren. Der Account war ohnehin verbrannt und soweit von Trollen und ihren drölfzig teils abgeschalteten Mehrfachaccounts durchsetzt, dass ich ihn nicht mehr sauber bekommen hätte.

Noch dazu gab es einen Grund, weswegen ich Twitter nie genutzt hatte: Diejenigen, mit denen ich mich online vernetzen wollte, waren dort gar nicht – und zu den wenigen Twitter-Menschen hatte ich ohnehin noch andere Verbindungen. So ließ ich alles nochmal mit einem J’accuse-Spiel eskalieren, wartete die begeisterten, überschäumenden und unvorsichtigen Reaktionen ab, konnte nochmals Belege bezüglich des Angriffs sammeln und löschte den Account.

Mit den Trollen befasste ich mich nie wieder.

Text: Annette Greca, Artikelbild: GoodStudio, shutterstock.com