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Hilferuf der Intensivmedizin: Aber Wagenknecht würde lieber Pflegekräfte verheizen?

von | Apr 9, 2021 | Analyse

Wagenknecht würde Pflegekräfte verheizen?

Hilferuf der Intensivmediziner

Seit Wochen warnen Intensiv-Mitarbeiter:innen und ihre Verbände: „Wir kommen ans Limit. Bitte helft uns.“ Es sind die Intensivmediziner:innen, die zu den stärksten Verfechtern eines wirkungsvolleren Lockdowns gehören. Die Menschen, die vor allem von einer Intensiv-Behandlung profitieren, sind nämlich größtenteils noch nicht geimpft. Es werden daher drastisch steigende Intensiv-Zahlen in jüngeren Altersgruppen erwartet. Dr. Drosten spricht von einem „Notruf“ vom DIVI-Intensivregister.

Die Intensivmediziner:innen fürchten, für die kurzfristigen Interessen einiger Teile der Wirtschaft nach zu schnellen Lockerungen verheizt zu werden. Entgegen möglicher Erwartungen stellt sich ausgerechnet LINKE-Politikerin Sahra Wagenknecht offenbar hinter Wirtschaftsinteressen und nicht die Pflegekräfte. Wagenknecht hat schon in der Vergangenheit gezeigt, dass sie fundamentalen Missverständnissen über die wissenschaftliche Realität von Covid-19 aufliegt – die letztlich Lobbyinteressen nutzen und nicht der unterbezahlten und überarbeiteten Pflege auf den Intensivstationen.

„Verantwortungslos“: Sahra Wagenknechts zweifelhafte Kritik an den Corona-Maßnahmen

Wagenknecht leugnet die dramatische Lage auf den Intensivstationen

Und so leugnet sie auch jetzt wieder die Lage auf den Intensivstationen. Leider nicht nur sie. Auch Politiker:innen anderer Parteien scheinen eine ähnlich verzerrte Sicht auf die Realität zu haben. So will Ministerpräsident Weil (SPD) aus Niedersachsen ebenfalls keinen harten Lockdown. Er nennt es „kurzatmigen Aktivismus“ (Quelle). Die Intensivmediziner:innen widersprechen teilweise energisch. Hier die Klinik für Anästhesiologie der Uni Göttingen:

Der Winter hat den Intensivpfleger:innen und Ärzt:innen alles abverlangt. Viele sind traumatisiert von den vielen Toten, denen niemand helfen konnte (Quelle). Einer von drei Patient:innen mit Covid-19 auf Intensivstationen stirbt (Quelle). Die Intensiv-Mitarbeiter:innen durften nicht gemeinsam Pause machen, was sonst notwendig ist, um das Erlebte zu verarbeiten, da sie sich sonst gegenseitig anstecken könnten (Quelle). Jetzt droht der Rekord vom Winter in nur wenigen Tagen eingestellt zu werden. Und das Virus wird auch dann nicht einfach aufhören sich auszubreiten.

Wagenknecht: Fake News statt Solidarität?

Wagenknecht suggeriert nun in einem Video – völlig entgegen den Tatsachenbeschreibungen der Intensivkräfte -, dass die Intensivstationen in Deutschland nie am Limit gewesen seien. Die Realität sah völlig anders aus: Es wurden massiv kleinere Eingriffe verschoben (Quelle) oder Patient:innen quer durch Deutschland transportiert (Quelle), damit das System nicht zusammenbricht. Tausende Menschen haben sich im Winter aufgerieben, damit die Versorgung einigermaßen sichergestellt ist. In vielen europäischen Ländern hat das nicht gereicht. So gab es Triage (also eine Auswahl, wer ein Beatmungsgerät bekommt und wer sterben muss) in Portugal oder Tschechien. Aktuell steht Frankreich kurz vor der Triage (Quelle). In Belgien haben Pfleger:innen ihren Urlaub unterbrochen, um ihre Kolleg:innen nicht mit der Katastrophe allein zu lassen. Wünscht sich Wagenknecht solche Zustände bei uns, wenn sie die Probleme leugnet?

Sie verbreitet Unwahrheiten, um ihre Behauptung (manche würden es sogar Verschwörungsmythos nennen) zu untermauern, dass Intensivbetten „abgebaut” worden seien. Das ist aber falsch (Quelle). Ja, tatsächlich zeigt das Intensivregister einen Rückgang der gesamt verfügbaren Betten. Das liegt aber ausschließlich daran, dass die Zählweise geändert wurde. Das Intensivregister hat die Kliniken gebeten, nur noch solche Betten zu melden, für die auch Pflegekräfte zur Verfügung stehen. Das führt natürlich auch dazu, dass, wenn Mitarbeiter:innen sich anstecken oder anderweitig z. B. wegen Burn-out ausfallen, weniger betreibbare Betten zur Verfügung stehen. Einfach aus praktischen Gründen. Ein Problem mit intubierten Covid-19 Patient:innen ist auch, dass der Personalaufwand für diese Menschen höher ist. Unter anderem wegen der erforderlichen Schutzmaßnahmen. Es ist also kein Wunder, dass in der größten Belastungssituation für das Gesundheitssystem die Zahl der betreibbaren Betten sinkt. Wagenknechts angeblicher „Beweis”, dass alles gar nicht so schlimm war, zeigt also das genaue Gegenteil.

Wagenknecht gaukelt nur vor, eine Lösung zu haben

Wagenknecht schließt aus diesen falschen Informationen, dass man einfach den Intensivpfleger:innen mehr bezahlen müsste, und schon wäre es nicht mehr nötig, das öffentliche Leben herunterzufahren. Natürlich ist es schon lange eine gute Idee, Pflegekräften mehr zu bezahlen. Aber die Intensivmediziner:innen fordern gerade aus gutem Grund vor allem ein Herunterfahren des öffentlichen Lebens. Wagenknecht ignoriert diese Forderung komplett. Warum? Weil sie dann den Menschen nicht suggerieren könnte, eine einfache Alternativlösung zu notwendigen Maßnahmen für das Problem zu haben?

Das Problem ist: Selbst wenn wir jetzt sofort den Intensivpfleger:innen mehr bezahlen würden, dauert es Jahre, bis der positive finanzielle Anreiz Wirkung zeigt, bis Menschen die Ausbildung absolviert haben. Es brechen zu viele die Ausbildung ab, auch weil sich dieser Knochenjob nicht einmal finanziell lohnt (Quelle). Das Gehalt ändert schlicht wenig an der aktuellen Notlage und dass sie droht, noch weiter außer Kontrolle zu geraten. Das heißt nicht, dass es nicht steigen sollte. Aber es löst das Problem einfach nicht. Und selbst wenn wir doppelt so viele Intensivkräfte hätten: Die Zahl der Infektionen verdoppelte sich vor Ostern alle zwei Wochen. Und nur unsere Mithilfe kann das stoppen. Und Frau Wagenknecht untergräbt dies mit Verharmlosungen, die der Pandemie-Leugner-Szene gefallen.

Fazit: Ist ihr Populismus wichtiger als Pflegekräfte?

Um den Beruf Intensivmediziner:in attraktiver zu machen, braucht es Solidarität auf allen Ebenen, nicht nur der finanziellen. Wegen genau solch einem Mangel an Solidarität während der Coronakrise, wie Wagenknecht ihn zeigt, verlassen gerade Tausende Menschen weltweit den Beruf (Quelle). Um Menschen zu überzeugen, Pfleger:in zu werden, müssen sich diese darauf verlassen können, von uns und unseren Politiker:innen nicht für populistische Forderungen und kurzfristige wirtschaftliche Interessen verheizt zu werden. Und gerade jetzt benötigen die Intensivkräfte nun mal Solidarität in Form von niedrigeren Corona-Zahlen. Das fordern sie ja auf allen Kanälen.

Wagenknecht ignoriert in ihrem Video die Bitten um Hilfe der Intensivkräfte nicht nur, sie untergräbt diese aktiv. Das ist das Gegenteil von Solidarität.

Artikelbild: photocosmos1

Unsere Autor:innen nutzen die Corona-Warn App des RKI.