Von Tobias Wilke
EINE ZAHL, SIE ZU KNECHTEN
Hintergrund der „dpa“-Meldung, die von der „Welt“ massiv ausgeschmückt wurde, ist eine Anfrage der FDP-Bundestagsabgeordneten Linda Teuteberg an das Bundesinnenministerium. Dessen knappe Antwort: „Im Jahr 2020 lag der Anteil der Asylerstantragstellenden ab 18 Jahren ohne Identitätspapiere bei 51,8 Prozent“. Hinzu kommen noch ein paar Zeilen zu gefälschten Dokumenten, deren Anteil liegt demnach bei lediglich 2,35%.
Vollkommen unspektakulär also. 2017 hatten laut BAMF noch knapp 61% der volljährigen Asylsuchenden keine Ausweisdokumente. Die „dpa“ jedoch schreibt dazu eine umfassende Agenturmeldung, die der „Spiegel“ weitgehend unverändert übernimmt – bis auf den letzten Absatz über 13 syrische Islamisten ohne Dokumente, deren Identität dennoch zweifelsfrei geklärt wurde (Quelle).
ZUCKER-PASS FÜR HETZER
Schon diese weitgehend unveränderte „dpa“-Meldung im „Spiegel“ ist eine Steilvorlage für Rechtsextremisten wie die NPD. Einige rechte Postillen wie die „Junge Freiheit“ oder „Journalistenwatch“ veröffentlichen dazu eigene Artikel mit szenetypischen Stereotypen, aber selbst davon „gönnt“ sich niemand so viel Raum zur Wiederholung rassistischer Verschwörungsmythen wie die „Welt“.
KEINE BEWEISE, KEINE INDIZIEN? EGAL!
Die „Welt“ macht erst gar keinen Hehl daraus, dass sie Asylantragstellende ohne Dokumente grundsätzlich für Betrüger hält. Im kostenfreien Artikel werden zwar noch die anderen Möglichkeiten aus der „dpa“-Meldung erwähnt, die Dokumente auf der Flucht verlieren zu können oder an Schleuser abgeben zu müssen. Aber der „Favorit“ ist klar: Täuschungsabsicht. Obwohl die Autor:innen selbst zugeben müssen, dafür weder Indizien noch Beweise liefern zu können.
Hinter der Paywall packt „Welt-Chefkommentator“ Jacques Schuster den verbalen Baseballschläger aus: Für ihn ist offenbar die mutwillige Entsorgung der Dokumente, um sich eine Duldung zu erschleichen „der einzige Grund“.
AM DEUTSCHEN MELDEWESEN MAG DIE „WELT“ GENESEN
Erstaunlich: Offenbar gehen von „dpa“ über den „Spiegel“ und die „Süddeutsche Zeitung“ bis zur „Welt“ allesamt davon aus, dass die hierzulande geltende Ausweispflicht auch in allen anderen Staaten üblich wäre und eine Passbeschaffung nicht mehr Aufwand sei als ein lästiger Gang aufs Einwohnermeldeamt. Wo bitte recherchieren die – bei „Goodbye Deutschland“ auf RTL?
Nur etwa 10% der Österreicher haben einen Personalausweis, in Schweden wurde er erst 2005 eingeführt, in Großbritannien sogar erst 2008 – um ihn 2010 gleich wieder abzuschaffen. Die japanische Regierung hat 2016 die Einführung einer für alle Einwohner verpflichtenden ID-Card beschlossen. Diese Liste ließe sich problemlos verlängern, aber das Prinzip dürfte auch so klar sein:
Einen Personalausweis zu besitzen, den man irgendwann aus niederen Beweggründen unauffällig entsorgen könnte, ist keineswegs selbstverständlich. Ihn wie in Deutschland gar besitzen zu müssen, ist sogar eher die Ausnahme als die Regel.
PASSBESCHAFFUNG IN KRISENGEBIETEN???
Natürlich ist ein Personalausweis nicht das einzige, offizielle Dokument zur Identitätsbescheinigung. Reisepässe zum Beispiel gibt es sogar in Nordkorea. Dass es dort allerdings mehr als nur Fragen aufwerfen dürfte, wenn jemand einen solchen Pass beantragen möchte, ohne zum Reisekader des kommunistischen Regimes zu zählen, dürfte allerdings jedem einleuchten.
Generell dürfte es in zahlreichen Krisenregionen, in denen beispielsweise die Wehrpflicht gilt, durchaus gefährlich sein, mit der Beantragung eines Reisepasses einen Auslandsreisewunsch zu signalisieren. Jenen Leser:innen, die in der DDR aufgewachsen sind, dürfte das bekannt vorkommen.
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe hatte 2005 ein umfassendes Themenpapier veröffentlicht mit dem Titel „Identitätsdokumente in ausgewählten afrikanischen Flüchtlings-Herkunftsländern“. Darin werden unter anderem Dossiers des UNHCR und der US-Regierung ausgewertet.
Während die „Welt“ also feststellt, dass „am häufigsten Afrikaner ohne Pass, Passersatzpapier oder sonstiges Identitätsdokument hier ankommen“, schildert der erwähnte, 64-seitige Bericht bspw. zu Nigeria die hohen Hürden bei der Passbeschaffung. Für viele werden diese schlicht nicht zu überwinden sein (Quelle).
KINDER OHNE PÄSSE? SKANDAL!
Die „Welt“ scheint mit der unbewiesenen Behauptung, etwa jeder zweite werfe seinen Pass weg, um sich so eine Duldung zu „ergaunern“, noch nicht ganz zufrieden. Wegen der Auskunft des Bundesinnenministeriums, dass es sich bei den „51,8% Asylerstantragsstellenden ohne Identitätspapiere“ um Personen ab 18 Jahre handelt, wird der Fokus noch auf die jüngeren gelenkt, explizit unbegleitete Minderjährige, „die fast nie ein Identitätsdokument vorzeigen“.
„Unbegleitet“ heißt: Ohne Erziehungsberechtigte. Womöglich sind diese also tot. Die blühende Phantasie der „Welt“, wer sich alles vor der Flucht gefälligst einen Pass zu besorgen habe, überschreitet wirklich sämtliche Schamgrenzen.
DAS BAMF FÜR BLÖD ERKLÄRT
Für die zahlreichen Kommentatoren unter den Artikeln -nicht nur dem der „Welt“- scheint vollkommen klar zu sein: Flüchtlinge werfen ihre Pässe weg, um ein für die Anerkennung des Asylantrags „günstigeres“ Herkunftsland vorzutäuschen. Wenigstens diese, mehr als erwartbare Interpretation hätte mit einfacher Recherche verhindert werden können.
Denn das BAMF hat durchaus ein großes Interesse daran, mithilfe vereidigter Dolmetscher die Herkunft der Antragsteller zu klären, die übrigens zur Mitwirkung verpflichtet sind. Selbst Angehörige der deutschsprachigen Gemeinschaft im Osten Belgiens würden es wohl merken, wenn beispielsweise ein Sachse vortäuscht, Schweizer zu sein, obwohl er noch nie dort war.
Dementsprechend hoch ist die „Aufklärungsquote“ des BAMF unter Mitwirkung der Antragstellenden: Lediglich bei 2,6% blieb 2019 die Staatsangehörigkeit „ungeklärt“. Leider haben „dpa“ und alle, die deren Agenturmeldung genutzt haben, irgendwie „versäumt“ darauf hinzuweisen.
VERLOGENES „WELT“-FAZIT
Die „Welt“ suggeriert: Jeder zweite Asylantragsteller (bei Jugendlichen: fast alle) werfe auf der Flucht seine Identitätspapiere weg, um eine „Duldung wegen Passbeschaffung“ zu erlangen. Zahlen, Belege, Indizien oder gar Beweise, bleiben die Autoren schuldig. Sind es zwei Promille, zwei Prozent oder 20?
Man weiß es nicht. Warum also solche Mutmaßungen? Sie verschaffen Reichweite unter denen, die sich für Fakten nicht interessieren, ihre rassistischen Ressentiments aber gern bestätigt sehen. Umso absurder ist wohl das Fazit des „Welt-Chefkommentators“: „Man darf das Thema Asyl nicht den Populisten überlassen“.
Das sehen wir beim Volksverpetzer übrigens genauso: Daher überlassen wir dieses Thema ganz bestimmt nicht der „Welt“!
Artikelbild: shutterstock.com
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