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BKK distanziert sich: WELT & Querdenker verbreiten verfälschte Zahlen über Impfschäden

von | Feb 25, 2022 | Analyse

WELT verbreitet wieder Impf-Desinformation

Ihr habt keinen Bock mehr auf Gesichtsmasken? Ihr habt keinen Bock mehr auf Kontaktreduktionen? Ja, ihr wollt wieder mit tausenden anderen Menschen in Konzerthallen und Stadien? Ich auch. Tim Röhn von der WELT sieht das wohl anders und verbreitet ein vollkommen lächerliches Märchen von mehr Impfnebenwirkungen als angeblich bislang bekannt waren. Die BKK hat KEINE Analyse von Versichtertendaten gemacht und distanziert sich von der Meldung. Allen voran die WELT schürt mit der Falschmeldung jedoch journalistisch völlig unseriös noch mehr Angst vor Impfstoffen und sorgt verbreitet schon wieder Fake News, die extremistischen Querdenkern in die Karten spielt.

Meldung „Mehr Impf-Nebenwirkungen“ sind einfach falsch

Was war passiert? Eigentlich nichts Besonderes: Andreas Schöfbeck, der Der Vorstand der BKK ProVita, hat einen Brief an das Paul-Ehrlich-Institut geschrieben und darin von einem „Alarmsignal“ gesprochen. Zur Einordnung: Die BKK ProVita ist eine mit 125.000 Versicherten eher kleine Krankenversicherung mit alternativmedizinischem Fokus. So hat der dortige Vorstand Schöfbeck bereits ein Vorwort für das Buch von Clemens Arvay verfasst und seine Sicht auf die Medizin scheint geprägt von einer eigenen schweren Krankheit, von der er sich durch eine Ernährungs- und Lebensumstellung erholte.

In veganen Kreisen gibt es immer wieder Personen, die nach ähnlichen Geschichten partiell ihr Vertrauen in die evidenzbasierte Medizin verlieren und fortan der eigenen Ernährung eine deutlich größere Bedeutung beimessen (Natürlich spielt die Ernährung eine große Rolle für die eigene Gesundheit, aber eben nicht die einzige und auch eine gesunde Ernährung ist kein Garant dafür, nicht krank zu werden. Der Autor dieser Zeilen ist selbst Veganer).

Falschnachricht basiert nur auf einem Brief von Schöfbeck

Andreas Schöfbeck bezweifelt nun, dass das Paul-Ehrlich-Institut wirklich alle Impfnebenwirkungen sammelt und behauptet, es seien in Wirklichkeit 6 bis 7 mal so viele wie vom PEI kommuniziert. Zu diesem Ergebnis ist er (nur scheinbar) gekommen, weil er sich ansehen wollte, wie viele Versicherte des gesamten BKK-Verbands (10,9 Mio. Versicherte) innerhalb der ersten 7,5 Monate des Jahres 2021 von Ärzten wegen Covid-19-Impfnebenwirkungen ärztlich behandelt werden mussten. Schade nur: Das hat er nicht. Was Schöfbeck WIRKLICH gemacht hat: Er hat sich laut eigenen Angaben die Abrechnungsdaten des BKK-Dachverbands angesehen (der BKK-Dachverband dementiert das), die von behandelnden Ärztinnen und Ärzten an die BKK übermittelt wurden. Das ist etwas völlig anderes.

Die BKK verwendet für diese Abrechnungen wie vermutlich alle anderen Krankenkassen auch die international geltenden ICD-Codes: Vermutlich weil Mediziner:innen der Sage nach so eine furchtbare Handschrift haben, schreiben diese auf die Krankmeldungen nicht extra „Kopflausbefall“, sondern einfach nur „B85.0“. Andreas Schöfbeck hat sich nur vier dieser Codes genommen und gezählt, wie viele Krankmeldungen es damit gibt, und zwar für:

T88.0     Infektion nach Impfung [Immunisierung]

T88.1     Sonstige Komplikationen nach Impfung, Hautausschlag

Y59.9     Komplikationen durch Impfstoffe oder biologisch aktive Substanzen

U12.9    Unerwünschte Nebenwirkungen bei der Anwendung von COVID-19-Impfstoffen

Das sind KEINE Impfnebenwirkungen!

Mit anderen Worten: Mutmaßlich der absolute Großteil dieser Meldungen macht zu erwartende Impfreaktionen aus, keine Impfnebenwirkungen. Eine meldepflichtige Impfnebenwirkung ist eine außergewöhnliche und problematische Folge der Impfung, z.B. die allseits bekannte Myokarditis und die Sinusvenenthrombose. Ein bisschen Kopfschmerzen, eine rote Einstichstelle und etwas Schlappheit zählen explizit NICHT dazu. Das sind aber genau solche Reaktionen, für die die genannten Codes oft verwendet werden. Diese müssen allerdings auch nach dem Infektionsschutzgesetzt nicht unbedingt gemeldet werden.

Wie viele der gezählten Reaktionen waren also echte Nebenwirkungen? Können wir aufgrund der unfassbar schlechten Datenaufbereitung nicht sagen, denn Andreas Schöfbeck hat einfach alle diese Fälle ohne nähere Einordnung oder Bewertung der Schwere in eine statistische Soße gerührt. Zudem hat er echte Nebenwirkungen nicht abgefragt, deren Abfrage legitim gewesen wären (es gibt auch ICD-Codes für Enzephalitis oder Myokarditis).

Aber ein Hautausschlag, in den meisten Fällen also eine Rötung an der Einstichstelle, entspricht nicht der Definition einer Impf-Nebenwirkung und eine Ärztin würde sie sinnvollerweise auch nicht ans Paul-Ehrlich-Institut melden, denn das würde schlicht die Genauigkeit Daten verschlechtern. Der Vorwurf, die Zahlen des PEI seien geschönt, trifft also nicht zu. Dort werden nun mal vor allem Verdachte auf echte Impf-Nebenwirkungen gezählt. Diese mit harmlosen Impfreaktionen unnötig aufzublähen wäre nicht zielführend, denn diese Verdachtsfälle müssen nach der Meldung analysiert werden.

Diese Leute waren nicht zwangsläufig „in ärztlicher Behandlung“!

Den Menschen, die dort unter Hochdruck versuchen, echte Kausalitäten zwischen Impfstoffen und Nebenwirkungen zu identifizieren (was ja auch erfolgreich geschehen ist), hilft es nicht sonderlich, wenn der Heuhaufen der Datensätze 10 mal so groß gemacht wird, indem er mit milden, harmlosen Impfreaktionen geflutet wird. Damit stimmt übrigens auch nicht, was Schöfbeck in seinem Brief behauptet, nämlich dass 2,5 bis 3 Millionen Menschen in Deutschland wegen Impfnebenwirkungen in „ärztlicher Behandlung“ gewesen seien:

  1. Er hat nicht die ärztlichen Behandlungen gezählt, sondern die Meldungen an die Krankenkasse. Für so eine Meldung reicht es vollkommen, wenn ein Patient kurz in der Praxis vorbeikommt oder die Krankmeldung telefonisch anfragt, eine Behandlung ist überhaupt nicht nötig.
  2. Es sind keine Nebenwirkungen, wenn die Einstichstelle rot wird oder man sich etwas schlapp fühlt. Dieser Effekt rührt von der Reaktion des Immunsystems her und ist die beabsichtigte Wirkung einer Impfung.

Ja, in Deutschland sind knapp 170 Millionen Impfdosen verabreicht worden, da ist es zu erwarten, dass sich zwei Prozent der Geimpften für einen oder zwei Tage nach der Impfung nicht richtig fit fühlen. Viele dieser Personen wollen sich dann nicht krank ins Büro schleppen und brauchen dafür eine AU-Bescheinigung für ihren Arbeitgeber. Es gab also weit weniger Impfnebenwirkungen als der Vorstand der BKK ProVita hier behauptet, es gab viel weniger ärztliche Behandlungen als er behauptet und der Umstand, dass 2 Prozent der Deutschen eine Krankmeldung brauchten, ist alles andere als sensationell.

Schwurbel-Brief wurde medienwirksam aufgebauscht – WELT verbreitet wieder Querdenker-Unsinn

Das ganze wäre also keinen weiteren Gedanken wert, hätte Andreas Schöfbeck seinen albernen Verdacht einfach an den BKK-Dachverband geschickt. Die hätten ihm dann vermutlich erklärt, wo er falsch liegt und die Geschichte wäre zu Ende. Stattdessen hat er seinen Brief möglichst medienwirksam vermarktet, so dass auch Tim Röhn von der Welt Wind von der Nummer bekommen hat. Dieser macht daraus eine Art Lungenärzte-Gedächtnis-Fehlmeldung und erinnert uns alle daran, wie die halbe deutsche Journaille die Rechenfehler von Lungenfacharzt Dr. Köhler ohne Prüfung abgeschrieben hat.

Tim Röhn übernimmt die Aussagen von Schöfbeck und reproduziert den ganzen Unsinn. Direkt im ersten Absatz behauptet er, es gebe nun erstmals Zahlen zu den Impfnebenwirkungen eines großen Krankenkassenverbands. Nein, nochmal: Das sind keine Impfnebenwirkungen. Man sei bei der BKK ProVita hellhörig geworden, weil dort „immer öfter“ Diagnosen aufgetreten seien, die auf Impfnebenwirkungen schließen ließen. Über die Frage, wie sich die Häufigkeit im Zeitverlauf geändert hat, machen die Zahlen aber gar keine Aussage.

WELT profitiert von ihrem journalistischem versagen – klicks von querdenkern

Eine journalistische Prüfung bleibt komplett aus: Die dilettantische Summierung der ICD-Codes, die Behauptung es handele sich beim Ausstellen von AU-Bescheinigung um Behandlungen, die Gleichsetzung von Verdachtsfällen und Nebenwirkungen, all das übernimmt der Chefreporter der Welt vollkommen unkritisch. Das Dementi des BKK-Dachverbands erwähnt er gar nicht und fragt dort auch nicht nach, in seinem Jubelbeitrag fragt er dann auch ausgerechnet Andreas Schöfbeck, wie er sich die Differenz zwischen den Zahlen erklärt.

Dieser darf dann ungeniert herumschwurbeln: „Ärzte werden für die Meldung von Impfnebenwirkungen nicht bezahlt.“ Nein, es liegt daran, dass das einfach zwei vollkommen unterschiedliche Größen sind, die er miteinander vergleicht, was er sogar selbst zugibt, wenn er sagt: „Zur Art und Schwere der Beschwerden könne auf Basis des Datenpools keine Aussage getroffen werden“.

Warum zählt er sie dann überhaupt, könnte man fragen. Deswegen:

„Klar ist nur: Es ist den Leuten so schlecht gegangen, dass sie zum Arzt gegangen sind.“

WELT lässt frei herumschwurbeln

Nein, es ging ihnen nicht so schlecht, dass sie zum Arzt gegangen sind, sondern nur so schlecht, dass sie nicht zur Arbeit gehen konnten. Oder sie fühlten sich einfach unwohl, hatten keinen Bock auf das anstehende Vertriebsmeeting, das ist ein himmelweiter Unterschied. In seinem offenen Brief redet er davon, dass „Gefahr für das Leben von Menschen nicht ausgeschlossen werden kann“, zählt dann aber Schwellungen an der Einstichstelle und Leute, die mit leichtem Fieber nicht zur Arbeit gegangen sind.

Dass der Chefreporter der Welt tatsächlich zu blöd war, das zu erkennen, halten wir für sehr unwahrscheinlich. Deutlich plausibler ist, dass es ihm vollkommen egal war, ob diese Zahlen stimmen, und er den Brief als willkommenes Vehikel gesehen hat, um im Sinne der Linie der Zeitung querdenkeresque Narrative zu bedienen.

In Deutschland sind nur 75% der Gesamtbevölkerung vollständig geimpft, die Impfkampagne ist nahezu gestoppt und die Zahlen der täglichen Corona-Toten stiegen wieder im dreistelligen Bereich. Wer zu so einem Zeitpunkt mit Fake News Stimmung gegen Impfungen macht, verursacht noch mehr Tote, Einschränkungen und wirtschaftliche Schäden. Die WELT hat schon seit langem gezeigt, dass ihr seriöse Berichterstattung beim Thema Corona und Impfungen egal zu sein scheint:

Auch andere greifen diese Falschmeldung über die BKK auf

Wie zu erwarten wurde der Text in der Querdenker-Szene euphorisch aufgenommen, zilliardenmal geteilt und wenn in eurer Familien-WhatsApp-Gruppe demnächst erzählt wird, dass die ECHTE Zahl der Impfnebenwirkung unterdrückt wird, dann dürfte das ebenfalls von dort stammen. Allerdings beteiligt sich nicht nur die „Welt“ an dieser gefährlichen Desinformation, auch die B.Z. verbreitet den offenen Brief ungeprüft. RTL berichtet ebenfalls, lässt aber auch den Virchowbund der niedergelassene Ärztinnen und Ärzte zu Wort kommen;

Dieser kritisiert die „Schwurbel-BKK“: Es handle sich entweder um „peinliches Unwissen oder hinterlistige Täuschungsabsicht“. Die Schlussfolgerungen aus der Datenlage seien „kompletter Unfug“, sagte der Bundesvorsitzende Dirk Heinrich. Die BKK ProVita vermische zwei völlig unterschiedliche Bereiche: die ärztliche Diagnose-Codierung und die Meldung an das PEI. „Offenbar will man vor allem Werbung in der impfkritischen Klientel machen.“

Update 02.03.:

Es gibt Konsequenzen: Die BKK ProVita trennt sich jetzt von ihrem Vorstand Schöfbeck, der mit seinen irreführenden Interpretationen die Desinformation losgestoßen hatte.

Update 03.03.: Analyst steht „Querdenken“ nahe

Nach Recherchen von SWR ist klarer, wie die verzerrten Zahlen zu Stande gekommen sein sollten: Die vermeintlich alarmierende Datenanalyse der gesetzlichen Krankenkasse hatte ein in der „Querdenker“-Szene gefragter Interviewpartner durchgeführt, der dort schon mehrfach mit fragwürdigen Methoden und vor allem stimmungsanheizenden Analysen auffiel. Transparenzhinweis: Im Bereich „Das sind KEINE Impfnebenwirkungen!“ haben wir einen erklärenden Satz hinzugefügt und Formulierungen verbessert.

Artikelbild: Jihan Nafiaa Zahri / Screenshot

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