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Aiwanger-Antisemitismus-Skandal – Alle Fakten auf einen Blick

von | Aug 29, 2023 | Faktencheck

Dem bayrischen stellvertretenden Ministerpräsidenten und Chef der Freien Wählern wird vorgeworfen, ein zutiefst antisemitisches Flugblatt in seiner Schulzeit verfasst zu haben. In der Sache wird viel relativiert, geleugnet oder verschwiegen – auch sind viele wichtige Details in unterschiedlichen Artikeln zu finden. Deshalb hier die Chronologie, alle bekannten Fakten, was Hubert Aiwanger bereits zugegeben hat und wo bereits klar ist, dass er gelogen hat.

Zentralrat der Juden: Das Flugblatt ist antisemitisch und keine Jugendsünde

Verfasst wurde das antisemitische Pamphlet im Kontext des „Schülerwettbewerbs Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten“, an dem das Burkhart-Gymnasium teilnahm. Das Flugblatt verspottete diesen Wettbewerb mit Verherrlichung des Holocaust. Es ruft zur Teilnahme an einem angeblichen Bundeswettbewerb auf, mit der Überschrift: „Wer ist der größte Vaterlandsverräter?“ Bewerber sollten sich „im Konzentrationslager Dachau zu einem Vorstellungsgespräch“ melden. Als erster Preis wurde „Ein Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz“ ausgelobt. Weiter zu gewinnen sei „Ein lebenslänglicher Aufenthalt im Massengrab“.

Screenshot SZ

Es gibt keinerlei Zweifel, dass das zutiefst antisemitisch ist. Das sagt der Zentralrat der Juden: Das sei keine „Jugendsünde“, es sei „auch heute nicht minder verwerflich, da er die Millionen Opfer der Schoa auf abscheuliche Weise verunglimpft.“

Die bekannten Fakten zum Aiwanger-Skandal

• 17. August: Die SZ konfrontierte, wie es sich für sauberen Journalismus gehört, vor Veröffentlichung Aiwanger mit den Vorwürfen. Sie fragte nicht nur, ob er der Verfasser des Schreibens ist, sondern auch, ob Flugblätter in seinem Schulranzen gefunden worden seien, ob er die Pamphlete verteilt und ob ihn der Disziplinarausschuss der Schule bestraft habe. Mit den Vorwürfen hat sich übrigens einer der damaligen Lehrer an die SZ gewendet – nach der rechtspopulistischen Rede Aiwangers in Erding.

• 21. August: Aiwanger ließ sich 4 Tage Zeit, bis er die Anfrage der SZ beantwortete. Über seinen Sprecher ließ er mitteilen, er habe „so etwas nicht produziert“. Auf alle anderen Fragen antwortete er „dass Hubert Aiwanger die Behauptungen zu seiner Schulzeit vor über 35 Jahren zurückweist und gegen diese Schmutzkampagne im Falle einer Veröffentlichung juristische Schritte inklusive Schadenersatzforderungen ankündigt“. Er behauptet also, weder die Flugblätter im Schulranzen gehabt zu haben, noch sie verteilt, noch dafür betraft worden zu sein. Bereits eine Lüge, wie sich später herausstellt, als er Teile davon dann doch zugibt.

Hubert Aiwanger hat sich 1987/8 als Urheber bekannt

• Am 25. August berichtet die SZ dann ausführlich über die Vorwürfe gegenüber Hubert Aiwanger. Die SZ hat mit rund zwei Dutzend Personen gesprochen, die Hubert Aiwanger aus dessen Schulzeit kennen, mit früheren Lehrkräften und früheren Klassenkameraden. Mehrere dieser Personen sagen, Aiwanger sei als Urheber dieses antisemitischen Pamphlets zur Verantwortung gezogen worden. Ein Lehrer, der damals dem Disziplinarausschuss angehörte, sagte der SZ, dieser habe „Aiwanger als überführt betrachtet, da in seiner Schultasche Kopien des Flugblatts entdeckt worden waren“. Ein anderer sagte, Aiwanger habe seine Urheberschaft nicht bestritten.

Nach diesem Artikel legte die SZ nach und veröffentlicht ein Fachgutachten, in dem dargelegt wird, dass das Flugblatt mit derselben Schreibmaschine geschrieben wurde, mit der Hubert Aiwanger auch seine Facharbeit verfasst hat.

• 26. August: Keine 24 Stunden vergehen und Aiwanger reagiert unter anderem im Spiegel gegenüber den Vorwürfen. Dem SPIEGEL sagte er: „Ich habe das fragliche Papier nicht verfasst und erachte den Inhalt als ekelhaft und menschenverachtend.“ Und weiter: „Der Verfasser des Papiers ist mir bekannt, er wird sich selbst erklären.“ Aiwanger gesteht: bei ihm als minderjährigem Schüler wurden „ein oder wenige Exemplare“ in der Schultasche gefunden. „Daraufhin wurde ich zum Direktor einbestellt. Mir wurde mit der Polizei gedroht, wenn ich den Sachverhalt nicht aufkläre.“ Abschließen schreibt er: „Ob ich eine Erklärung abgegeben oder einzelne Exemplare weitergegeben habe, ist mir heute nicht mehr erinnerlich.“

Erste Unklarheit: Er kann sich nicht mehr darin erinnern, ob er Exemplare weitergegeben hat? Er gibt zu, das Pamphlet besessen zu haben und dafür an der Schule Konsequenzen gehabt zu haben. Er will aber das Schreiben außerdem nicht verfasst haben. Obwohl er damals die Strafe dafür auf sich nahm und mehrere Exemplare bei ihm in der Tasche gefunden wurden.

Helmut Aiwanger bekennt sich 2023 als Urheber

• 26. August, noch am gleichen Samstagabend meldet sich Huberts Bruder Helmut zu Wort. Er soll das Schreiben verfasst haben. Perfektes Timing. Helmut behauptet, Autor des 35 Jahre alten Schreibens zu sein: „Ich bin der Verfasser dieses in der Presse wiedergegebenen Flugblatts.“ Vom Inhalt distanziere er sich in jeglicher Hinsicht. „Ich bedaure die Folgen der Aktion“, sagte er. Beide Brüder hatten im Schuljahr 1987/88 die elfte Jahrgangsstufe des Burkhart-Gymnasiums in Mallersdorf-Pfaffenberg in Niederbayern besucht.

An diesem Punkt der Geschichte tauchen nochmals Widersprüche auf. Aiwanger gab selbst zu, dass das Flugblatt in seiner Tasche gefunden wurde und er die Strafe dafür auf sich nahm, obwohl er all das zunächst abgestritten hatte. Entweder hatte Hubert seinen Bruder Helmut 1988 gedeckt (- doch warum?) oder Helmut seinen Bruder 2023. Was davon wahr ist, ist unklar. Es ist jedoch klar und gestanden, dass die Brüder offensichtlich entgegen der Wahrheit bereit sind, die Schuld für den Antisemitismus auf sich zu nehmen. Es geht nur darum, ob wir Helmut 2023 oder Hubert 1988 glauben sollen.

Tage später unklare und widersprüchliche Erklärungen?

• 28. August. Als wären den Aiwangers klar, dass genau diese Frage noch geklärt werden muss, meldet sich Helmut erneut zu Wort. Im genauen Wortlaut schreibt er: „Ich bin mir nicht mehr ganz sicher“, sagte der Bruder Helmut den Zeitungen der Mediengruppe Bayern am Montag. „Aber ich glaube, dass Hubert sie wieder eingesammelt hat, um zu deeskalieren.“

Er sei sich nicht ganz sicher und er glaubt nur, sein Bruder hätte dieses und jenes getan. Wieso kann man sich da nicht sicher sein, wenn sein Bruder die Schuld und Strafe für das Pamphlet damals extra auf sich genommen hatte? Wenn Helmut wirklich der Verfasser gewesen ist, wäre doch stets die Möglichkeit im Raum gestanden, dass er als eigentlicher Urheber bekannt wird, wenn Hubert ihn nicht in Schutz nehme.

Hubert Aiwanger wollte die Pamphlet Geschichte schon 2008 vertuschen

• 28. August: Die SZ berichtet über ein weiteres pikantes Detail, das eigentlich ziemlich eindeutig gegen Hubert Aiwanger spricht. 2008 als Aiwanger das erste Mal in den Landtag einzog, schickte er eine Parteifreundin zu einem Lehrer, der mit Kollegen zusammen den Schüler Aiwanger wegen des Flugblatts bestraft hatte. Die Abgeordnete habe wissen wollen, ob Aiwanger von ihm „Gefahr“ drohe. Es sei „eindeutig gewesen“, dass es dabei um das Flugblatt gegangen sei. 15 Jahre später – an dem Tag, an dem die SZ Aiwanger erstmals mit den Vorwürfen konfrontierte – soll die Abgeordnete, abermals im Auftrag Aiwangers bei ihm vorstellig geworden sein.

Klingt nach Einschüchterungsmethoden, die nicht notwendig wären, wenn man nichts zu verbergen hätte. Das ist der letzte Stand, Hubert Aiwanger äußert sich nicht weiter. Söder bestellt Aiwanger zum Sonder-Koalitionsauschuss ein, um sich zu erklären.

Die Fakten – Und Unklarheiten

Wir wissen, dass das Flugblatt echt ist, Antisemitismus, mit dem „Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz auch. Dass ein Aiwanger es verfasst hat & der andere sich als Urheber ausgibt bzw. gab, um seinen Bruder zu decken. Wir wissen, dass Hubert Aiwanger es 1988 im Schulranzen hatte, damit erwischt wurde und die Strafe auf sich nahm. Und dass er 2008 bereits von einem Lehrer wissen wollte, ob ihm von dort Gefahr wegen des Flugblatts drohte.

Es ist lediglich offen, ob Hubert 1988 seinen Bruder gedeckt hat oder Helmut heute den stellvertretenden Ministerpräsidenten Bayerns 2023 im Landtagswahlkampf. Es ist aber auch klar, dass blindes Vertrauen in Aiwanger unangebracht ist. Bereits in der Causa Flugblatt hat Hubert Aiwanger offenbar bereits mindestens einmal gelogen. Und die populistischen Lügen Aiwangers über erfundene „Fleischverbote“ sind auch bekannt.

Mit all diesen Informationen kann nicht klar sein, ob Aiwangers Bruder Helmut ein Bauernopfer ist, damit Hubert sein Amt behalten kann oder ob sich die Geschichte tatsächlich so zugetragen hat, wie die Aiwangers nun behaupten. In letzterem Fall ist dennoch ein Großteil der Vorwürfe durch den stellvertretenden Ministerpräsidenten eingeräumt worden. Viele behaupten, auch in der Version der Aiwangers sei ein Rücktritt fällig. Die SZ hat die Fakten anscheinend korrekt berichtet, kritisiert wird sie hingegen dafür, ob sie juristisch oder journalistisch unproblematisch über den Vorfall berichtet hat.

Artikelbild: Matthias Balk/dpa