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10-Punkte-Plan: Der Paradigmenwechsel der CDU analysiert

von | Jul 28, 2023 | Analyse

Freidemokratisierung und Rechtspositivismus als Paradigmenwechsel im CDU-10 Punkte-Programm

Man hat lange darauf warten müssen, dass sich die CDU unter ihrem neuen Vorsitzenden zumindest einmal zu einem programmatischen Zucken hinreißen lässt, was sie nun in Form der unglücklich treffend betitelten ‚Agenda für Deutschland‘ getan hat, die sich nun einmal mit AfD abkürzen lässt. In mancherlei Hinsicht enthält der 10-Punkte-Plan, den CDU und CSU nun gemeinsam vorgelegt haben, Wohlbekanntes. Dennoch ist diese Agenda insofern aufschlussreich, als sich in ihr ein Trend zur Freidemokratisierung der Union dokumentiert, der in den 1990er-Jahren begann und dessen Effekte sich in der DNA der Christdemokratie mindestens ebenso so stark abgelagert haben wie die vermeintliche Sozialdemokratisierung der Union.

Und es spricht vieles dafür, dass der freidemokratische Trend mit dem halberneuerten Führungsgespann Merz/Linnemann noch weiter an Fahrt aufnimmt. Das paradoxe Resultat könnte darin bestehen, dass es nun diejenigen sind, von denen sich viele in der Partei eine Schärfung des konservativen Profils erhofft haben, die geradezu das Gegenteil bewirken: die stille Verabschiedung von konservativen Fundamentalüberzeugungen.

Hier wächst nicht unbedingt zusammen, was zusammengehört

Um diese These im Hinblick auf die Agenda plausibel zu machen, ist es sinnvoll, einen kleinen Schritt zurück zu treten und sich das Verhältnis von Konservatismus und Liberalismus vor Augen zu führen, wie es im Mainstream der Union seit den frühen 1970er-Jahren und spätestens mit dem Ludwigshafener Grundsatzprogramm von 1978 ausbuchstabiert wurde mit dem sich die CDU unter der Führung von Kohl und Generalsekretär Biedenkopf nicht nur organisatorisch, sondern auch substanziell als moderne Volkspartei der rechten Mitte aufstellte. Hier wurde (abermals) bekräftigt, dass die CDU mitnichten eine rein konservative Partei sei. Ihre tragenden Säulen seien daneben die christliche Soziallehre und eben auch der Liberalismus (mit dem die Christdemokratie zumindest in der gesellschaftspolitischen Dimension in der Nachkriegsära noch erkennbar gefremdelt hatte).

Deutsche Christdemokratie war seitdem ihrem Selbstverständnis nach also ein liberalkonservatives Amalgam, das auch durch die entsprechenden Wortmeldungen aus konservativen Intellektuellen-Milieus Zuspruch erhielt. Worum es der Christdemokratie ging, war demnach ein weiteres Mal die Überwindung scheinbarer Gegensätze, die eben nicht nur auf der gesellschaftlichen Ebene versöhnt werden sollten (Stichwort: Tarifpartnerschaft statt Klassenkampf), sondern auch auf der ideologischen.

liberalkonservativen Synthese

Aber mit diesem Projekt einer liberalkonservativen Synthese hat sich die Christdemokratie bis heute auf ein schwieriges, wenn nicht gar aporetisches Unterfangen eingelassen, denn hier wächst nun einmal nicht unbedingt zusammen, was zusammengehört. Schließlich steckt trotz aller möglichen Affinitäten im Versuch der Verzahnung von liberalen und konservativen Elementen auch ein immenses Widerspruchspotenzial:

Ökonomisch gesprochen impliziert Liberalismus beispielsweise zumeist Kapitalismus und dieses Regiment der schöpferischen Zerstörung, wie es übrigens sinngemäß auch schon Marx lange vor Schumpeter bezeichnete, verträgt sich angesichts seiner disruptiven Dynamik per se nicht besonders gut mit dem Erhaltungsimpuls des Konservativen. Natürlich kann man versuchen, diese Not in eine Tugend umzudeuten, indem man argumentiert, dass Liberales und Konservatives hier bewusst in der jeweiligen Widersprüchlichkeit gegeneinander in Stellung gebracht werden, um sich gegenseitig zu mäßigen und in Schach zu halten. Aber die Gegensätzlichkeit dieser Komponenten auszugleichen und auch dafür zu sorgen, dass Liberales und Konservatives halbwegs im Gleichgewicht bleiben, stellt eine nicht zu unterschätzende Herausforderung für die Christdemokratie dar – womit wir bei der AfD wären, also dem Positionspapier der Union.

Abkehr vom Böckenförde-Diktum

Denn wenn man sich das Papier mit den diversen Punkten ansieht, von denen der ein oder andere im Übrigen den Eindruck macht, dass er auch aufgenommen wurde, damit am Ende eine runde Zahl steht (der 8-Punkte-Plan hat sich nie wirklich durchgesetzt), dann kann man sich des Eindrucks einer liberalen Schlagseite kaum erwehren. Natürlich kommt kein Unionspapier ohne die obligatorische Forderung nach besserer, effizienterer, härterer und am besten präventiver Bekämpfung von Kriminalität aus, die routiniert Code-Wörter wie ‚Clan-Kriminalität‘ mit dem Problem fehlgeschlagener Integration verknüpft. Aber abgesehen von solchen konservativen Dauerbrennern enthält das Papier doch zunächst einmal auffällig viel Supply-Side-Economics: Steuern runter für Wirtschaft und Private und auch grundsätzlich keine weiteren Belastungen für Unternehmen, die zudem einen Strompreis zahlen sollen, der ihre Wettbewerbsfähigkeit nicht beeinträchtigt.

Nun ist auch diese generisch liberale wirtschaftspolitische Positionierung mitnichten eine Kehrtwende für die Union, aber in der Vergangenheit wurden dem bisweilen auch noch andere Akzente zur Seite gestellt. Der Arbeitnehmerflügel befindet sich jedoch angesichts der Freidemokratisierung der Union schon seit 25 Jahren in der Defensive und erlebte 2003 in Form des dezidiert neoliberalen Leipziger Programms sein Waterloo. Endgültig hellhörig wird man dann ganz zu Ende des Papiers, wo nämlich doch recht deutlich wird, welche Stunde nun geschlagen hat: „Wir wehren uns gegen eine moralische Einengung des öffentlichen Diskurses. Nicht Kommentarspalten, Ideologien oder Moralvorstellungen sind Maßstab für die individuelle Freiheit, sondern einzig und allein unser Grundgesetz.“

Böckenförde anyone?

Dies ist für eine christdemokratische Partei eine in mancherlei Hinsicht bemerkenswerte Pointe. Kluge Konservative waren sich seit jeher bewusst darüber, dass sich keine Rechtsordnung, jedenfalls nicht die einer liberalen Demokratie, aus sich selbst heraus erhält, sondern bestimmter Voraussetzungen bedarf – Böckenförde anyone? – zu denen auch Wert- und Moralvorstellungen gehören. Und natürlich kann man sich auch fragen, warum dann alles notwendigerweise auf die individuelle Freiheit als das Maß aller Dinge hinauslaufen muss, wenn der Individualismus, der durch diese Freiheiten ermöglicht wird, auch immer mal wieder gerade von konservativer Seite problematisiert wurde.

Es verblüfft auch, wie hier Moralvorstellungen und Ideologien weggewischt werden, als ob es sich um suspekte und spekulative Sujets handelte, deren Nebelschwaden aber von der strahlenden Klarheit eines für sich stehenden Grundgesetzes aufgelöst werden. Dabei waren es natürlich vor allem konservative Rechtsgelehrte, die einst die Vorstellung ins Spiel brachten, man habe es beim Grundgesetz auch mit einer objektiven Wertordnung zu tun und damit ausdrücklich legale und moralische Sphären miteinander verkoppelten. Zudem können ja gerade Konservative das Grundgesetz selbst auch als Ausdruck bestimmter moralischer Vorstellungen verstehen – Stichwort: Christliches Menschenbild – und darauf hinzuweisen, dass womöglich auch bei der Interpretation auslegungsbedürftiger grundgesetzlicher Normen die ein oder andere Moralvorstellung eine Rolle spielen könnte – abermaliges Stichwort: Christliches Menschenbild.

Freiheit ist, wenn ich mache, was immer ich will

Und das sind noch nicht alle Fragezeichen, die ein solch dürrer Rechtspositivismus provoziert. Die Verhandlung von Wert- und Moralvorstellungen, ja, oftmals sogar die Reduzierung aller möglicher Zusammenhänge auf die Frage von Moral, Wert und Charakter, war schließlich einst die ureigenste Domäne des Konservativen – und keineswegs nur im 19. Jahrhundert. Die Älteren werden sich entsinnen, dass die Union Anfang der 1980er-Jahre mit der Agenda einer ‚geistig-moralischen‘ Erneuerung antrat und suggerierte, dass die damalige Wirtschaftskrise eigentlich im Kern eine moralische Krise war:

Gegen die korrosiv-subversiven Werte von 1968 sollten nun die Werte von 1948, von Wiederaufbau und Wirtschaftswunder, mobilisiert werden. Bekanntlich versandete dieses Projekt recht bald, aber man muss daran erinnern, dass es hier durchaus noch darum ging, Subjekte zu formen, wie man es heutzutage wohl ausdrücken würde; nicht von ungefähr spielte die Frage der Erziehung (konservatives Stichwort: Mut zur Erziehung) seit den 1970er-Jahren eine prominente Rolle in den ‚neo-konservativen‘ Diskursen darüber, was gegen den Wertewandel bzw. –verlust zu tun sei.

Und wem das alles immer noch zu 20. Jahrhundert ist, um noch als Maßstab zu dienen, dem seien die diversen Iterationen der Leitkultur-Debatte ans Herz gelegt, die sich ja durchaus bis in die jüngere Vergangenheit zog und sowohl von Merz und Linnemann, als auch von Schönbohm und De Maizière aufgeworfen wurde. Wie mokierte man sich damals, wenn von (links-)liberaler Seite damals die trockene Replik lautete, dass die einzige Leitkultur der BRD das Grundgesetz sein könne.

anhaltender Trend zu Freidemokratisierung der Union

Ausdrücklich insistierte man darauf, dass das Grundgesetz allein nicht als Orientierung ausreiche, gehe es doch um wirkmächtige ungeschriebene Normen und Konventionen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Man kann mit guten Gründen die Vorstellung einer mehr oder weniger kodifizierten Leitkultur für bedenklich halten, aber der Blick auf das Sozialleben und seine Integrationsmechanismen, die der Position zugrunde liegt, scheint mir plausibler zu sein, als dass Gesellschaften allein durch Rechtsordnungen integriert würden.

Halten wir also fest, dass gerade die Schlussformulierungen der AfD, der Agenda für Deutschland, nachdrücklich einen schon lange anhaltenden Trend zu Freidemokratisierung der Union bekräftigen. Freidemokratisierung, das ist, wenn die individuelle Freiheit zum zentralen Referenzpunkt wird und Vorstellungen von Tugenden und Werten nun zur reinen Privatsache oder einfach für irrelevant erklärt werden. Wo von Moral die Rede ist, wittert der Konservative von heute immer schon die bevormundende Moralisierung und schlägt sich auf die Seite des Liberalen, für deren heutige politische Repräsentanten die altehrwürdige Unterscheidung Lockes zwischen Freiheit und Zügellosigkeit immer mehr an Bedeutung zu verlieren scheint:

Freiheit ist, wenn ich mache, was immer ich will

Freiheit ist, wenn ich mache, was immer ich will. Und nicht wenige der kulturkämpferischen Tiraden der Union werden ja gerade im Namen eines solchen geradezu aggressiven Freiheitsverständnisses vorgetragen: Ich heize, wie ich will, esse, was ich will, fahre, was ich will und rede, wie ich will – alles andere ist eigentlich schon eine Art weicher Totalitarismus. Damit scheint sich die Freidemokratisierung der Union, die ja wirtschaftspolitisch zwischenzeitlich schon sehr weit fortgeschritten war und dann vor allem durch die großkoalitionären Handlungszwänge und die Strategie der asymmetrischen Mobilisierung wieder etwas zurückgeschraubt wurde, mittlerweile auch auf einer grundsätzlicheren Ebene zu manifestieren.

Es stellt sich also tatsächlich die Frage, inwieweit im liberalkonservativen Mix die jeweiligen Ingredienzen noch einigermaßen austariert anzutreffen sind oder das politische Aroma der Union nicht mittlerweile doch stark nach Freidemokratie schmeckt. Und mit dem neuen Führungsduo der CDU dürfte sich dieser Trend mitnichten umkehren. Dass sowohl Merz als auch Linnemann zu marktliberalen Vorstellungen neigen, darf man ohnehin voraussetzen. Aber auch darüber hinaus ist der liberale Zungenschlag mittlerweile deutlich zu hören.

Warum ist Linnemann nicht in der FDP?

So hat Linnemann kürzlich in einem Beitrag für die WELT seine Auffassung von Konservatismus skizziert und angesichts der Tatsache, dass es auch hier immer wieder darum ging, dass man die Menschen so nehmen müsse, wie sie sind, die individuelle Freiheit das Maß aller Dinge ist, die Leute selbst am besten wüssten, was gut für sie ist und Politik immer nur die vorletzten Antworten kenne, musste man sich aufrichtig fragen, welcher historische Zufall eigentlich dafür verantwortlich war, dass Linnemann in der CDU und nicht in der FDP gelandet ist – jedenfalls war es schwer, den Punkt in Linnemanns Verständnis von Konservatismus zu identifizieren, an dem Liberale sagen würden, dass ihnen das zu konservativ sei.

Liberal mit Schlupflöchern

Nun kann man diese Entwicklung aus (links-)liberaler Perspektive in gewisser Weise sicherlich begrüßen: Ist doch schön, wenn sich die Konservativen nicht mehr als Tugendwächter gerieren und den Leuten nicht mehr vorschreiben wollen, wie sie zu leben haben. Aber erstens ist die Zurückhaltung in Sachen Moral und Lebensführung in der Union dann letztlich doch auffallend selektiv, wenn nicht sogar scheinheilig: Nein, wir wollen den Leuten nicht mehr sagen, wie sie ihr Leben führen sollen – außer wenn es darum geht, Cannabis zu konsumieren, über die eigene sexuelle Identität autonom zu entscheiden oder auch eine Schwangerschaft abzubrechen. Die Liste ließe sich problemlos verlängern und hier zeigt sich eine Union, die auf Kulturkampf setzt, der nun wiederum gar nicht im Namen der individuellen Freiheit geführt wird.

wenn schon Freidemokratisierung, dann eben auch konsequent

Nicht, dass es hier um triviale Entscheidungen ginge; man versteht schon, dass das der Konservative intuitiv nicht der Willkürfreiheit des Einzelnen überantworten möchte, aber wenn schon Freidemokratisierung, dann eben auch konsequent. Und zweitens fragt man sich, ob der Union nicht etwas Wichtige verloren gehen würde, wenn sie sich nun ostentativ auf den normativen Individualismus zurückzieht, der die Entscheidungen des einzelnen für sakrosankt erklärt und nur noch das Grundgesetz als Maßstab akzeptieren will. Krisenzeiten wie die unseren sind geprägt von Erfahrungen des Verlusts und der Desorientierung und dementsprechend ist Krisenmanagement keine rein materielle Sache, sondern auch eine Frage der Orientierung, die geboten, und dem Sinn, dem der Verlust gegeben wird. Jedenfalls haben das gerade Konservative immer wieder so gesehen.

Doch diese Sinn- und Orientierungsangebote schafft man nicht mit dem Verweis auf das Grundgesetz; etwas tiefer wird man schon schürfen müssen. Es wird sich zeigen, ob die CDU entsprechende Ambitionen zumindest in ihrem Grundsatzprogramm an den Tag legt, das vor der Europawahl nächstes Jahr verabschiedet werden soll – den Vorsitz der Programmkommission hat übrigens Carsten Linnemann.

Artikelbild: Der Artikel erschien zuerst auf verfassungsblog.de. Thomas Biebricher ist Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Politische Theorie, Ideengeschichte und Theorien der Ökonomie an der Goethe-Universität Frankfurt.