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Holocaust-Verharmlosung: Der selbstherrliche Spaß an der Querdenker-Opfer-Olympiade

von | Mrz 22, 2021 | Aktuelles

Glückwunsch, Du bist jetzt ein Star!

Gastbeitrag von Jan Skudlarek

Jeans, Halbglatze, helle Jacke von s.Oliver. Der Mittelschichtsmann auf dem Foto lächelt. Vielleicht ist er vierzig, vielleicht fünfundvierzig, wirkt insgesamt wie ein normaler Typ. Unscheinbar. Brillenträger. Er könnte Systemadministrator sein oder Versicherungsvertreter oder Kneipenbesitzer. Doch etwas an ihm ist anders, wie er da fürs Foto posiert. Ein gelber Stern ist an seiner Jacke aufgenäht. Ungeimpft. Ungeimpft steht in dem Judenstern, darunter ein Strichcode. Der unbekannte Mann lächelt sein Durchschnittsbürgerlächeln. Über ihm strahlt die nordhessische Sonne.

An diesem Samstag in Kassel ist Querdenkerdemo. Solche „Ungeimpft“-Davidsterne verbinden Impfgegnerschaft mit der menschenfeindlichen Zwangskennzeichnung während des Dritten Reiches. Sie sind ein kalkulierter Tabubruch. Attraktiv für alle, die Anstand, Empathie und politische Bildung überwunden haben. Man kann sie selber basteln oder im Internet erwerben. Keine Minute googeln und ich bin in einem Webshop für Querdenker, wo man sich modisch passend ausrüsten kann für die nächste Deppendemo.

„Friedlich“ für den Tod von politischen Feinden demonstrieren?

T-Shirts, Hoodies, Kaffeetassen und und und. Motive von „Gib Gates keine Chance“ über „Inzwischen sind mehr Menschen an Corona verblödet als gestorben“ (welch Ironie!) bis hin zu, nun ja, dem antisemitischen „Ungeimpft“-Davidstern, mit dem der Impfgegner von heute darstellen kann, dass er weder etwas von Impfung noch von Geschichte versteht. Solche Sterne hat man im letzten Jahr öfter auf diesen Querdenker-Versammlungen gesehen, wo sich Verschwörungsideologen, Neonazis und Wutbürger zusammentun, um über die „Corona-Diktatur“ zu schwadronieren, wirksame Impfstoffe zu verunglimpfen und vielleicht nebenbei noch Angela Merkel, Christian Drosten und Karl Lauterbach und wem auch immer Gefängnis respektive Tod zu wünschen. Was man eben so macht in Zeiten weltweiter Pandemie.

Eine neue Hemmungslosigkeit breitet sich quasipandemisch aus. Es ist die aktuelle, mittlerweile mutierte Variante der alten „Wird man ja wohl noch sagen dürfen!“-Hemmungslosigkeit, die wir seit Jahren kennen – in Form von Sarrazin-Büchern und Pegida-Galgen, auf denen z. B. „reserviert für Sigmar Gabriel“ steht. „Unfassbar!“ würde ein Michael Wendler jetzt vielleicht schreiben – das ist sein Aufruf für so ziemlich alles geworden –, nur eben, dass er und viele andere das absolut Fassbare „Unfassbar!“ finden und jede neue Verschwörungserzählung, jede neue Grenzüberschreitung normal.

Das Foto vom „Ungeimpft“-Mann macht mich wütend

Es geistert Samstag Nachmittag seit ein paar Stunden durchs Netz, zusammen mit Hunderten, eher Tausenden anderen Fotos und Videos von diesem Kasseler Konspirationistensamstag. Man sieht Wutbürger mit Megafonen und Pfeifen durch die Innenstadt irrlichtern, Parolen rufen. Dass ein Mann sein Grundschulkind dazu instrumentalisiert, auf Kommando „Frieden! Freiheit! Demokratie!“ zu rufen, während Umstehende ihn filmen wie ein dressiertes Äffchen, gehört noch zu den harmloseren Szenen dieses Tages. Die Polizei wirkt hilflos bis überfordert, mal prügelt sie ein paar Gegendemonstranten weg.

Auf einem Video ist zu sehen, wie ein Polizist aus Thüringen eine Bürgerin angeht, die sich mit anderen den Querdenkern in den Weg stellt. „Warum greift ihr friedliche Bürger wie mich an und demoliert mutwillig mein Fahrrad, anstatt den verbotenen Querdenker-Aufmarsch zu stoppen“, fragt sie später auf Twitter.

https://twitter.com/heikejablonski/status/1373309515026857997

Und dann ist da der Ungeimpft-Mann. Es ist diese Leichtigkeit, die mich wütend macht. Dieser Sündenstolz. Wie ein kleiner Junge feiert er sich für seine Grenzüberschreitung. Er weiß, dass viele das nicht okay finden werden. „Schaut her, ihr Gutmenschen! Ich trau mich was! Das eigentliche Opfer bin ich!“

Ich beschließe, das Foto auf meinem Twitter-Account zu teilen mit dem nicht ganz subtilen Text: „Wär schon irgendwie blöd, wenn dieser selbstherrliche Holocaust-Verharmloser viral gehen würde. Nachher erkennt ihn noch wer.“

Natürlich muss man Querdenker bekämpfen

Der SPD-Politiker Karl Lauterbach hatte am selben Tag mit einem Tweet für Furore gesorgt, man müsse Impfgegner und Querdenker bekämpfen. Die Empörung der Reflexempörten war groß. Jetzt habe sich Karl Lauterbach für öffentliche Ämter disqualifiziert, schrieb einer. Ein anderer schreibt: „Wie wäre es, wir machen Lager, in denen wir Ungeimpfte unterbringen? Wir Deutsche haben ja eine historische Erfahrung mit solchen Maßnahmen.“ Die Naziopfervergleiche sitzen den Querdenkern an diesem Tag mal wieder ganz besonders locker.

Wenn Menschen, meist Privilegierte, anderen ihr Opfersein absprechen und ein Wettstreit darüber ausbricht, wer die wahren Diskriminierten, die echten Verfolgten seien, spricht der Autor Mohamed Amjahid von einer „Opferolympiade“. Sagen wir mal so: Die Querdenker-Opferolympiade hatte viele Teilnehmer an diesem Samstag, online wie offline.

Natürlich ist die Kritik am Lauterbach-Tweet (Impfgegner bzw. Impfgegnerschaft bekämpfen) inhaltlich gesehen Nonsens. Googelt man „bekämpfen“, findet man als erste Bedeutung:

gegen jemanden kämpfen [und ihn zu vernichten suchen] („die Feinde bekämpfen“)

Daraus konstruierten viele Lauterbach-Kritiker ihre meist absichtlich böswillige Fehlinterpretation. Der SPD-Mann rufe zu Gewalt auf, las man hier und da, in offenkundiger Verkennung der Tatsachen.

Als zweite Bedeutung von „bekämpfen“ findet man in derselben Definition:

etwas einzudämmen, zu verhindern oder zu überwinden suchen, indem man energische Maßnahmen [dagegen] ergreift („eine Seuche bekämpfen“)

Es ist evident, dass Karl Lauterbach keine Menschen bekämpfen will, sondern das Corona-Virus

Und dass man eben so redet – Kampf ist eine der üblichsten Metaphern überhaupt. Wir bekämpfen Verkehrs- und Drogentote genauso ebenso wie den Analphabetismus oder die Extrapfunde nach Weihnachten. Doch das ist den Lauterbachkritikern egal. Er hat „bekämpfen“ gesagt! Er will uns auslöschen! Wo ist mein Stern?

Bullshit. Im Gegensatz zu den Juden im Dritten Reich will euch wirklich niemand auslöschen. Menschen wie Karl Lauterbach (oder ich) wollen einer faktenfreien Wirklichkeitsresistenz Einhalt gebieten und möglichst viele Menschen animieren, ihre toxischen, desinformierten Gedanken abzulegen – und sich stattdessen eine sinnvolle Corona-Impfung abzuholen, damit dieser Pandemie-Spuk so wenig Menschenleben fordert wie möglich und ASAP ein Ende hat.

Zurück zum Opferolympiaden-Teilnehmer mit dem Judenstern

Es geht mir nicht um diesen einen Mann. Die Welt ist nicht eine bessere, die Gesellschaft nicht eine gerechtere, wenn er seinen Job verliert oder seine Nachbarn ihn hassen. Es geht mir um die Mentalität, die dahintersteht. Um das Symbol, das der Symbolträger verkörpert. Diese neue Hemmungslosigkeit, welche die Janas aus Kassel und die s.Oliver-Jackenträger dieses Landes ermutigt, sich mit den Opfern der Nazidiktatur gleichzusetzen, bloß weil sie beim Einkaufen eine Maske tragen oder über die Sinnhaftigkeit einer Impfung nachdenken sollen. Das Problem ist die Geisteshaltung, die Mentalität. Da müssen wir draufzeigen und sagen: Das ist nicht okay!

Der Philosoph Karl Popper ist u. a. für sein Toleranz-Paradoxon bekannt. Es thematisiert die Grenzen der Toleranz. Popper zeigt auf, dass die Unterdrückung von Intoleranz unter Umständen sehr vernünftig sein kann. Anders gesagt: Keine Toleranz der Intoleranz. Bei „Ungeimpft“-Judensternen, bei Fotomontagen von Drosten und Lauterbach in Sträflingskleidung, bei Gewaltaufrufen gegen Bill Gates, Angela Merkel mit Hitlerbärtchen (Samstag in Kassel zu sehen) usw. sind die Grenzen der Toleranz nicht nur erreicht, sondern längst überschritten.

Solche Entwicklungen, solche Geisteshaltungen müssen wir bekämpfen

Damit meine ich, ebenso wenig wie Karl Lauterbach, natürlich nicht, dass wir diese Menschen gewaltsam angreifen. Allerdings ist es, wie ich finde, in Ordnung, mitunter „energische Maßnahmen dagegen zu ergreifen“, um die zweite Bedeutung der „bekämpfen“-Definition zu zitieren.

Keine Stunde nach meinem „Wäre doch schade, wenn er viral ginge“-Tweet wurde der Beitrag über zweihundert Mal geteilt. Am selben Abend sind es über eintausend Retweets, am nächsten Morgen über eintausendfünfhundert. Der Ungeimpft-Typ geht viral, und wie! Ein Blick in die Twitter-Statistik verrät mir, dass Mister Ungeimpft mittlerweile, keine 24h später, allein durch meinen Tweet weit mehr als eine Viertelmillion Menschen erreicht hat. Natürlich fragt sich ein Teil von mir, ob es okay ist, was ich gerade tue. Einen Unbekannten anzuprangern wegen eines Jackenaufnähers. Meine Antwort lautet diesmal: Ja. Weil es eben mehr ist als ein bloßer Jackenaufnäher.

Keine Toleranz den Intoleranten

Shahak Shapira hatte vor einigen Jahren eine Kunstaktion namens „Yolocaust“. Er nahm Instagramfotos meist junger Menschen, die am Holocaust-Mahnmal in Berlin herumturnten, posierten, teils deplatziert lächelnd, total ichzentriert. Typisch Generation Instagram. Shapira photoshoppte diese Menschen mit den Mahnmal-Selfies neben Konzentrationslagerleichenberge, mitten ins Elend der nationalsozialistischen Vernichtungsindustrie. Die Message: Dieser Ort ist kein Selfie-Hintergrund für deine Instagram-Likes. Kein Platz wie jeder andere. Hör auf, respektlos herumzuhampeln!

Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, wie es vollständig heißt, steht für etwas. Es gedenkt der Schicksale Millionen Ermordeter. Die Yolocaust-Aktion von Shapira war ein Erfolg. „Fast alle haben die Botschaft verstanden, sich entschuldigt und entschieden, ihre Selfies von ihren Facebook- oder Instagram-Profilen zu löschen.“, schreibt Shapira auf der Webseite.

Auch ich bin bereit, das Foto vom selbstherrlich lächelnden Sternträger zu löschen. Er kann sich gerne bei mir melden. Bestenfalls mit einer kleinen Nachricht, die auf Einsicht schließen lässt oder zumindest so etwas wie den Versuch einer Reflexion. Weil es einfach nicht okay ist, wenn du dich wegen temporärer Masken- und Abstandsregeln mit den Opfern Hitlerdeutschlands vergleichst. Weil es pietätlos ist und eine geschichtsvergessene Frechheit. Und weil damit eine Grenze überschritten ist, die wir nicht tolerieren können.

Zum Thema:

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Autor: Jan Skudlarek. Hier zu seiner Website und hier zu seinem Twitter. Artikelbild: Anastasia Tikhomirova für Volksverpetzer

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