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Superspreader-Event in Kassel: Der Rechtsstaat versagt mit Ansage

von | Mrz 21, 2021 | Aktuelles

Pandemie-Leugner feiern in Kassel eine Siegesparty und der Staat konnte nur zuschauen

Kommentar zur Demo am 20.03. in Kassel von und Andreas Bergholz

Vergangenen Samstag eskalierte mal wieder eine nicht genehmigte Querdenken-Demonstration in Kassel. Mindestens 20 000 Menschen demonstrierten und „feierten“ ohne Masken und Abstände in der gesamten Innenstadt von Kassel. Es war nur eine kleine Demo unter strengen Auflagen außerhalb der Innenstadt erlaubt. Aber wer hat wirklich gedacht, dass sich Menschen daran halten würden, die buchstäblich antreten, um Regeln zu missachten, weil sie glauben, in einer Diktatur zu leben?

https://www.instagram.com/p/CMpsx6RKKVh/

Was sich in Kassel ereignete, war keine Überraschung. Wir berichteten vorab bereits über die Pläne der Pandemie-Leugner-Bewegung:

Die im Geheimen lange geplante „Querdenker“-Demo in Kassel: Wird der Rechtsstaat wieder versagen?

Pure Eskalation

Eigentlich war der Demonstrationszug über den Innenstadtring verboten worden, das kümmerte die aus ganz Deutschland angereisten Demonstrant:innen jedoch herzlich wenig. Sie zogen in großen und kleineren Zügen mehrfach durch die Stadt und wurden kaum bis gar nicht von der Polizei aufgehalten. Diese wirkte überfordert und strategielos und ließ die Querdenker:innen beinahe unbeschränkt gewähren. Diese bekamen nicht nur Rückendeckung von der Polizei, sondern wurden auch aus vorbeifahrenden Autos angehupt und mit Schildern in ihrer Sache bestärkt und zum Weiterlaufen ermutigt sowie auch von einigen Anwohner:innen und Ladenbesitzer:innen der Straßen, durch die sie verbotenerweise zogen. Das Ergebnis waren Bilder wie diese:

Das alles erinnert an die Ereignisse von Leipzig im letzten Jahr. Schon damals versagte der Rechtsstaat und ließ gewaltbereite „Querdenker“ gewähren:

Leipzig: Die Polizei kapitulierte vor gewalttätigen Querdenkern – Was soll das? (Demobericht)

In unserem Live-Ticker zum Geschehen in Kassel ist der Verlauf des Tages in Videos und Bildern festgehalten:

Einige Dutzend Bürger:innen und Antifaschist:innen versammelten sich zu einer Gegenkundgebung mit Masken und Abständen und versuchten anschließend an mehreren Orten innerhalb der Stadt die Demozüge der Querdenker:innen durch Ketten, die sie aus ihren Körpern und Fahrrädern bildeten, aufzuhalten.

Diese Strategie hatte nur wenig Erfolg, da die Polizei der illegalen Demonstration der Querdenker:innen den Weg wortwörtlich freiprügelte. Es gibt etliche Videos, auf denen zu sehen ist, wie Frauen von Polizisten von ihren Fahrrädern gezerrt und geschubst werden, Schläge gegen den Kopf erhalten oder über die Straße geschleift werden. Fahrräder werden von Polizist:innen demoliert. Die vorbeiziehenden Querdenker:innen applaudieren währenddessen den brutalen polizeilichen Maßnahmen. Genau die Menschen, die sich dem illegalen Aufmarsch in den Weg gestellt haben und ihn eben nicht einfach so durch ihre Stadt ziehen lassen wollten, wurden sowohl von den Querdenker:innen als auch von Polizist:innen gewaltsam daran gehindert, geschubst, geschlagen, angeschrien und aus dem Weg geräumt. Zwangsläufig drängt sich die Frage auf, wen die Polizei eigentlich schützt und warum sie das tut.

Ein anderes Foto spricht Bände. Eine Polizistin formt ein Herz mit ihren Händen in Richtung einer Demonstrantin ohne Maske.

Vereinzelt gab es auch polizeiliches Vorgehen wie Schubsen oder einen kurzen, leichten Einsatz der Wasserwerfer gegen aggressive Teilnehmende der Querdenkendemonstration. Diese Maßnahmen haben jedoch auf Einzelne abgezielt und den Demonstrationszug weder in seiner Größe minimiert noch am Weiterlaufen gehindert. Die Querdenker:innen riefen die Polizei dazu auf, sich ihnen anzuschließen und ich glaube, diese Forderung kommt nicht von ungefähr.

Auch auf dem Hauptkundgebungsort Friedrichsplatz wurde polizeilich nicht interveniert. Dort sammelten sich insgesamt über 20.000 Maßnahmenverweigerer:innen, eine Vermengung aus Menschen unterschiedlicher Couleur, darunter einige Rechtsextreme und Verschwörungsideolog:innen, christliche Fundamentalist:innen und Holocaustrelativierer:innen sowie Hippies und Bürgerliche. Es lief Musik, später am Nachmittag gab es sogar so etwas wie „Stages“, auf einer lief Techno und Goa, auf der anderen Schlager. Die Menschen tranken Alkohol, tanzten, viele hatten Luftballons, bunte Schirme und Schilder dabei. Einige hatten sogar ihre Kinder mitgenommen, von denen einige von der Situation überfordert schienen und weinten.

Absurdes, riesiges Festival

Es erschien wie ein absurdes, riesiges Festival mitten in einer Pandemie. Der Schlagersänger Banane (?) trällerte einige Lieder mit verschwörungsideologischem Inhalt und beschimpfte anschließend die Bundeskanzlerin als Schlampe. Neben dem „Rave“ standen mehrere Polizisten und schauten tatenlos zu.

Anastasia interviewte einen Polizisten und fragte, warum die Polizei nichts gegen diesen „Rave“ unternehme. Der Polizist reagierte gereizt und entgegnete, dass die Polizei nichts gegen eine solche Masse unternehmen könne, und daher auf Anweisungen warte und man sich an die Pressesprecher wenden solle. Auch dieser lieferte keine ausreichende Erklärung für die Handlungsunfähigkeit (oder -unwilligkeit) der Polizei: Sie wollten schauen, wie sich die Lage entwickeln würde und wollten deeskalierend agieren, um schlimme Bilder und Verletzte zu vermeiden.

https://www.instagram.com/p/CMqCbt0HBT5/

Fazit: Freie Fahrt für Pandemie-Leugner in Kassel

Die Polizei hat in Kassel kapituliert, das ist sicher. Was unzählige Menschen, die aktuell zu Hause sitzen und die Maßnahmen befolgen, jedoch noch mehr frustriert und wütend zurücklässt, ist, dass es nicht das erste Mal zu solchen Bildern und einem dermaßen katastrophalen und unkontrollierten Verlauf einer Querdenkendemonstration kam. Die Eskalation und Größe der Demonstration kann nicht mehr als überraschend und unerwartet abgetan werden, sondern war zu erwarten und wurde von Medienvertreter:innen, Politiker:innen und Journalist:innen bereits im Voraus prognostiziert. Viele wollen die Ausrede „man wolle schlimme Bilder vermeiden“ nicht mehr gelten lassen, denn genau DAS sind schlimme Bilder für den Großteil der Bevölkerung.

Die Demonstration wurde schon lange in den sozialen Medien angekündigt, auf Telegram wurde massiv dafür geworben und auch die Polizei sollte nach über einem Jahr Pandemie bereits wissen, wie es auf solchen Demonstrationen zugeht und ein Konzept zu ihrer Zerschlagung entwickelt haben. Wie sich zeigte, ist ein solches Konzept jedoch nicht existent und selbst eine Strategie der Deeskalation müsste irgendeine Handlung von Seiten der Polizei gegen die Demo bedeuten. Sie blieben untätig oder ebneten dem verbotenen, rechtsoffenen Protest den Weg.

https://www.instagram.com/p/CMrnoeWHVhT/

Nach solchen Ereignissen wie gestern werden die Lockdowngegner:innen nur mehr in ihrer Meinung bestärkt und sich unbesiegbar fühlen. Vielleicht sollte die Polizei ein paar Taktiken aus ihrem Umgang mit linken Demonstrationen auch bei rechtsoffenen Protesten ausprobieren. Bei der Zerschlagung antifaschistischer Demonstrationen zögert die Polizei weder damit, Wasserwerfer mit voller Kraft einzusetzen, noch undurchdringbare Polizeiketten zu bilden, um ein Weiterlaufen der Demos zu verhindern. Bei Querdenker:innen ist dies bisher ausgeblieben.

Aber da auf der Demonstration gestern zum wöchentlichen Sturm auf unterschiedliche deutsche Städte aufgerufen wurde, hat die Polizei sicherlich noch ausreichende Gelegenheiten zu üben, denn selbst Verbote halten die Querdenker:innen mitunter nicht auf. Ein solches Superspreader-Event darf sich in den nächsten Wochen nicht noch einmal derart ungehindert ereignen. Studien haben bereits gezeigt, dass solche Demonstrationen, bei denen sich nicht an Masken- und Abstandsregeln gehalten wird, zu vielen Neuinfektionen im Land führen:

Studie beweist: Nur 2 Querdenker-Demos haben bis zu 21.000 Menschen angesteckt

Und das zur dritten Welle:

Die Daten zur Corona-Lage in Deutschland weisen eindeutig darauf hin, dass wir uns mitten im Anstieg der 3. Welle befinden:

Das letzte, was wir da brauchen, sind Superspreader-Events wie in Kassel. Hier ein anschauliches Beispiel, welche Auswirkungen eine solche Corona-Party haben kann, wohlgemerkt bei über 75 % Verbreitungsgrad der noch ansteckenderen britischen Mutationsvariante B.1.1.7:

Was wir jetzt brauchen, ist ein wehrhafter Rechtsstaat, der sich von Pandemie-Leugner:innen nicht auf der Nase herumtanzen lässt und klare Position für den vernünftigen Teil der Gesellschaft bezieht.

Artikelbild: @phil1291