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Dänemark öffnet: Ist jetzt der Zeitpunkt für Lockerungen auch bei uns gekommen?

von | Feb 3, 2022 | Aktuelles

Dänemark öffnet, was bedeutet das für uns?

Eines vorab: Nein, die Zeit für Lockerungen in Deutschland ist jetzt noch nicht gekommen, aber man sollte zumindest mit der Debatte darüber anfangen, wann und nach welchen Kriterien sie demnächst erfolgen sollen, ohne dass der Diskurs von Querdenkern & Extremisten dominiert wird. 

Ein weiter fortlaufendes „Impft euch endlich mal“ sind weiten Teilen der Gesellschaft nicht mehr zu vermitteln, insbesondere wenn sich der Impffortschritt seit Monaten kaum bewegt. Was muss jetzt passieren?

Außerdem fällt der Hauptgrund zur Aufrechterhaltung der Pandemiemaßnahmen, auf den sich weite Teile der Gesellschaft ohne Abkommen geeinigt hatten, langsam in den Hintergrund: Eine Überlastung der Intensivstationen. Und damit der Zusammenbruch der Gesundheitsversorgung. Omikron rauscht gerade förmlich durchs Land, trifft auf eine teils geboosterte Gesellschaft und die Intensivstationen und Todeszahlen halten sich noch deutlich in Grenzen:

Zusammenbruch des Gesundheitswesens verhindert

Das Hauptziel der Pandemiemaßnahmen war bisher gewesen: Ein Kollabieren des Gesundheitssystems verhindern. Und das ist uns auch gelungen, eben wegen der Maßnahmen und der Impfungen. Ähnlich gingen andere europäische Länder vor, als die Omikron-Wand sich auftürmte und man sich noch nicht sicher sein konnte, wie sich das auf den Intensivstationen niederschlagen wird. Die Modellierung zu diesem Zeitpunkt war generell schwierig, also agierte man mit Vorsicht (Quelle).

Nun, nachdem man sich ein paar Wochen anschauen konnte, wie sich die Omikron Welle auswirkt, ändern Regierungen in einigen europäischen Ländern den Kurs. Omikron verbreitet sich schneller als Delta, dafür sind die Verläufe milder (Quelle). Viele werden gleichzeitig krank, die Intensivstationen laufen aber nach jetzigem Stand nicht über. Was Anfangs auf ersten stichprobenartigen Daten beruhte, bestätigt sich nun größtenteils in der Realität vieler europäischer Länder. Omikron wirkt beherrschbar. Entsprechend wird von Regierungen reagiert.

https://twitter.com/c_drosten/status/1473778881614295044

Man wettet darauf, dass sich Omikron auch weiter größtenteils mild verhält und die Booster Impfungen schützen. Die Quoten dafür stehen derzeit gut. Ein Sachstand, auf den man sich über die Gräben hinweg im Land eigentlich optimistisch einigen könnte. Corona wird dadurch nicht harmlos, aber das Szenario einer exponentiellen Verbreitung verliert fürs erste seinen Schrecken. Die Impfungen wirken.

https://twitter.com/florianaigner/status/1488817484891361280

Die Zahlen sind sehr hoch, die Belastung auf den Intensivstationen in Relation niedrig

Frankreich kündigt an zu lockern (Quelle), obwohl die Zahl der Neuinfektionen zuletzt über 500.000 erreicht hatte (Quelle). In Spanien wird ebenfalls gelockert (Quelle) und nun heben Großbritannien und Dänemark wieder einmal nahezu alle Maßnahmen auf (Quelle).

Die Schlagzeilen, dass im europäischen Ausland Öffnungsperspektiven kommuniziert oder de facto geöffnet wird, obwohl die Omikron-Welle in allen Ländern durchrauscht, sind kaum zu ignorieren. Der Hauptargumentationspunkt: Während die Infektionszahlen nach oben explodieren, sind die Neueinweisungen auf den Intensivstationen rückläufig. Die Überlastung der Intensivstationen war bisher aber immer der wichtigste Grund für die Begründung der  Maßnahmen.

»Heute hat Dänemark alle Beschränkungen aufgehoben, während die Zahl der Fälle sprunghaft ansteigt. Die internationale Reaktion: Ungläubigkeit«, schreibt der Fachmann für politische Psychologie und Berater der dänischen Regierung Michael Bang Petersen von der Universität Aarhus auf Twitter.

https://twitter.com/M_B_Petersen/status/1488392005281628160

Er erklärt: Die Dänen seien viel mehr geimpft, und die Überlastung der Intensivstationen droht bisher nicht.

„Should Denmark wait until all concerns have been settled? Maybe. But waiting is not free. It has costs in terms of the economy, well-being and democratic rights. Balancing these is an explicit part of the Danish strategy.“ – „Sollte Dänemark warten, bis alle Bedenken ausgeräumt sind? Vielleicht. Aber das Warten ist nicht umsonst. Es verursacht Kosten in Bezug auf die Wirtschaft, das Wohlergehen und die demokratischen Rechte. Diese abzuwägen ist ausdrücklicher Bestandteil der dänischen Strategie“

Und auch bei uns werden Meldungen von Neuinfektionszahlen von über 200.000 pro Tag (es sind wohl weit mehr, große Dunkelziffer wegen fehlender Testkapazitäten), mittlerweile gefühlt nur noch mit einem Schulterzucken abgetan. Die neue Normalität ist: das Virus scheint durchzurauschen. Es findet eine Durchseuchung statt, ohne dass es von den Verantwortlichen in der Politik offen kommuniziert wird.

Dänemark hat eine Impfquote von 95% bei den Ü60-jährigen

Den wesentliche Unterschied zwischen Dänemark und Deutschland aber: Die Impfquote in der gefährdeten Altersgruppe. In Dänemark sind mehr als 81 Prozent der Gesamtbevölkerung vollständig geimpft, 60 Prozent haben eine Boosterdosis erhalten. Und in der Gruppe ab 60 Jahren, die das höchste Risiko für einen schweren Verlauf hat, sind bereits mehr als 95 Prozent der Menschen geboostert. In Deutschland haben in dieser Altersgruppe erst 74 Prozent einen Booster erhalten, nur 88 Prozent sind doppelt geimpft (Quelle).

Dieser Unterschied in der Impfquote ist entscheidend für die Frage, wann Lockerungen vertretbar sind und die Dänen (leider nicht nur die) sind uns hier einfach meilenweit voraus. Genau auf diesen Umstand macht Virologe Christian Drosten aktuell erneut aufmerksam:

https://twitter.com/faznet/status/1488778865656926212

Außerdem: Aktuell zirkuliert Omicron voranging unter jüngeren Menschen (Quelle).

Wir bleiben beim alten Problem: Das verdammte Impfen

„Wir müssen die Impflücke schließen“ ist die Durchhalteparole schlechthin geworden. Aber wir kommen nicht voran. Und die Mehrheit der Bevölkerung hat ja auch mitgezogen. Wie lange wollen wir noch darauf warten, bis sich auch der Rest irgendwie dazu entscheiden wird zur Impfe zu gehen, um die Lücke zu schließen und warum sollte sich der Rest der Gesellschaft davon noch weiter in Geiselhaft nehmen lassen, während im Ausland gelockert wird. Klar, die stehen bei der Impfe besser da, aber dafür kann der Einzelne hierzulande, der sich hat impfen lassen nichts dafür und es wird zunehmend schwerer die Bringschuld eines kleinen rebellierenden Teils der Gesellschaft, auf die Gesamtrepublik abzuwälzen.

Die „neue Impfkampagne“ der Ampel-Regierung wird voraussichtlich auch nicht die Erfolgswende bringen. Die Message, dass „Impfen hilft“ sollte sich mittlerweile im dritten Jahr der Pandemie rumgesprochen haben. Dafür 60 Millionen € ausgegeben zu haben, offenbart eine riesige Naivität und Ahnungslosigkeit oder zumindest einen Unwillen, das Problem zu verstehen.

https://twitter.com/Volksverpetzer/status/1489189966328569865

Wir müssen wohl oder übel akzeptieren, dass es einen Teil der Gesellschaft gibt, der sich einfach nicht Impfen lassen wird. Man hat ja auch alles versucht, von „Hey, lass dich bitte bitte Impfen“, bis „Wenn du nicht geimpft bist, müssen wir dich weitestgehend vom öffentlichen Leben ausschließen“. Es gab seit der Entwicklung des Impfstoffes zig verschiedene Appelle, an die Vernunft, Solidarität, Beendigung der Pandemie usw., aber ein Teil der Bevölkerung ist einfach immun dagegen.

Die gerade diskutierte Einführung einer Impfpflicht ist das letzte Mittel. Mehr Möglichkeiten, die Impfquote mittelfristig zu erhöhen, gibt es nicht mehr.

Die Einführung einer Impfpflicht offenbart jedoch politisches Scheitern

In einem aktuellen Gastbeitrag schreibt Politik- und Kommunikationsberater Johannes Hillje vom „Wert der Überzeugung in der Politik“ im Bezug auf eine Impfpflicht treffend (Quelle)

„Die Einführung einer Impflicht wäre ein denkwürdiges politisches Scheitern. Nicht, weil sie zur Überwindung der Pandemie ungeeignet wäre. Womöglich ist sie dafür am Ende sogar das letzte realpolitische Mittel. Das Scheitern bestünde darin, dass das parteiübergreifende Ziel, eine ausreichende Impfquote durch Überzeugung zu erreichen, verfehlt wurde.

Gegenüber knapp einem Fünftel der erwachsenen Bevölkerung ist die politische Klasse mit ihrer Überzeugungsarbeit gescheitert. Und damit der wichtigste Baustein der gesamten Corona-Strategie. Denn die klaffende Impflücke ist der Graben zur Endemie. Und sie ist auch der Vertrauensgraben zwischen Politik und einem Teil der Gesellschaft.“

Es ist Aufgabe der Politik gewesen, die Menschen von einer Impfung zu überzeugen. Rund ein Fünftel haben sich nach über einem Jahr Impfkampagne mit Höhen und Tiefen, nicht überzeugen lassen. Es bleibt nur die Impfpflicht.

Aktuell sind drei Varianten in der Diskussion: Eine Impfpflicht für alle Erwachsenen (Ü18), eine Impfpflicht für über 50-Jährige (Ü50) – und keine Impfpflicht (Quelle). Unter den aktuellen Rahmenbedingungen ist eine Impfpflicht für die Gruppe der ü50 ein geeigneter Kompromissvorschlag, mit denen sich wohl die meisten arrangieren könnten.

Und danach ist fertig, mehr geht nicht. Wer sich bis jetzt und bis zu einer solchen Impfpflicht, nicht hat Impfen lassen, ist dafür selbst verantwortlich.

Wir müssen Querdenker hinter uns lassen

Die Meldung aus Dänemark lässt Querdenker:innen und Verschwörungsideolog:innen jubeln. Als hätten die damit irgendwas zu tun. Ganz im Gegenteil, sie sind es, die mit ihrer Panikmache rund um Impfungen und Lügen über die Gefährlichkeit von Corona quasi im Alleingang dafür gesorgt haben, dass wir die Impflücke noch nicht geschlossen haben und nicht schon längst Öffnungen umsetzen haben können. Früher oder später werden viele von ihnen merken müssen, was für einen unglaublichen Quatsch sie geglaubt haben, wenn wir in die Phase der Endemie eintreten. Wir sollten die Diskussion der Öffentlichkeit nicht diesen radikalen, wissenschaftsfeindlichen Stimmen überlassen.

Dänemark zeigt Sieg der Wissenschaft

Deshalb sollten wir bei den Öffnungen in Dänemark auch nicht mit Unglauben reagieren, sondern das Fallen der Maßnahmen als einen Sieg der Wissenschaft sehen. Andere waren erfolgreicher mit ihrer Impfstrategie, das ist leider einfach so. Ein Großteil der Bevölkerung ist geimpft, vor allem die gefährdeten Altersgruppen. Omikron verbreitet sich schneller, trifft oft auf Geboosterte und wirkt sich dadurch nicht so stark auf den Intensivstationen aus.

Bereits im Oktober 2021 hatte der dänische Forscher Michael Bang Petersen dazu aufgerufen, der Bevölkerung auch harte Wahrheiten zuzutrauen und offen in der Pandemie zu kommunizieren (Quelle).

»Von den vielen Ängsten, die während der Pandemie aufkamen, war eine besonders schädlich: die Angst der Regierungen vor ihren Bürgern«, schrieb er.

Der Dänische Regierungsberater Petersen schreibt zum Thema Vertrauen zwischen Politik und Bevölkerung auf Twitter:

https://twitter.com/M_B_Petersen/status/1488392085220773890

Übersetzt:

Sollte Ihr Land die Verantwortung auch auf die Menschen selbst übertragen? Das hängt von der Epidemie und den Präferenzen der Bevölkerung ab. Dies zeigt jedoch, dass Vertrauen und Solidarität die Übernahme von Kosten mit sich bringen, die es der Gesellschaft ermöglichen, im Einklang zu handeln. Sowohl bei der Schließung als auch bei der Öffnung.

Bedeutet dies, dass es vorbei ist? Nein, wir haben Corona schon einmal deklassiert. Aber da Abriegelungen Misstrauen erzeugen, ist es klug, die Maßnahmen zu lockern, wenn es möglich ist. Wenn es nicht vorbei ist – wenn wieder Schließungen verhängt werden sollen -, brauchen die Gesellschaften so viel Vertrauen und Solidarität, wie sie aufbringen können.

In Dänemark geht man also nicht pauschal davon aus, alles sei vorbei. Eher sieht man die jetzige Pandemielage als stabil genug an, um Maßnahmen zurückzunehmen. Auch um Vertrauen in der Bevölkerung zurückzugewinnen. In Dänemark ist das Vertrauensverhältnis zwischen Bevölkerung und Politik generell hoch, es wird verstanden und akzeptiert wenn Maßnahmen erlassen und wieder zurückgenommen werden. Und in Deutschland?

https://twitter.com/CarstenWatzl/status/1488766176654241792?t=w1n21BFjQ9Ajm5DA0ULOlg&s=19

Ob die Wette der Dänen in den nächsten Wochen aufgehen wird, werden wir sehen.

Fazit: Jetzt ist der Zeitpunkt für Debatte um Öffnungen gekommen

Wenn sich also weiter abzeichnet, dass das Gesundheitssystem trotz der hohen Infektionszahlen nicht kollabiert, fehlt die Grundlage, einen Großteil der Pandemiemaßnahmen weiter aufrecht zu halten. Die Öffnungsbestrebungen im europäischen Ausland erhöhen den Druck, sich der Debatte auch in Deutschland zu öffnen. Auf Volksverpetzer-Anfrage erklärt das RKI, die Wirkung von Omikron auf ältere Ungeimpfte könne noch nicht quantifiziert werden. Aber wenn diese Zahlen nicht bald kommen, kann niemand mehr gegen Öffnungen argumentieren. Wir haben nicht eine Situation wie in Dänemark, deshalb sind Lockerungen jetzt noch nicht klug. Aber die Debatte darüber könne man beginnen.

Darauf zu hoffen und zu warten, dass sich auch der Rest der Gesellschaft aus heiterem Himmel impfen lassen wird und wie durch ein Wunder die Impflücke geschlossen wird, scheint wenig erfolgsversprechend zu sein. Da helfen auch keine überteuerten Plakatkampagnen. Das Ende der Pandemie an den Zeitpunkt der Schließung der Impflücke zu koppeln, ist zwar idealistisch gesehen richtig, scheitert aber an der Realität der letzten Monate. Wenn also eine Impfpflicht umgesetzt wird (was sich sowieso nicht mehr auf die aktuelle Welle auswirkt), am besten eine Variante für ü50- Jährige, dann sind alle Instrumente der Politik ausgeschöpft, die Quote nach oben zu treiben.

Wann also sollen die Pandemiemaßnahmen bei uns schrittweise zurückgenommen werden?

Eine Frage, die Politiker:innen in den kommenden Wochen klären müssen.

https://twitter.com/SZ_Politik/status/1488839229337649153

Artikelbild: pixabay.com, CC0

Unsere Autor:innen nutzen die Corona-Warn App des RKI.