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107 Infektionen in Frankfurt: Stellt euch vor, es wären Muslime gewesen

von | Mai 24, 2020 | Aktuelles, Corona, Kolumnen, Schwer verpetzt

107 Infektionen nach Gottesdienst in Frankfurt

Wie heute bekannt wurde, gab es mindestens 107 Corona-Infektionen nach einem Gottesdienst in Frankfurt (Quelle). Die Behörden versichern, die Situation „im Griff“ zu haben, „nur eine Person“ sei in einem Krankenhaus, heißt es (Quelle). Die Gemeindemitglieder stammten nicht nur aus Frankfurt, sondern auch aus mehreren hessischen Landkreisen. Allein in Hanau seien 16 Infektionen auf den Gottesdienstbesuch zurückzuführen gewesen. Ein für heute (Sonntag) geplantes Fastengebet von Muslim*innen wurde deshalb abgesagt.

Die Reaktionen? Naja, es ist nicht DAS Diskussionsthema in Social Media. Manche äußern Verwunderung, dass man doch schließlich Desinfektionsmittel genutzt habe und Abstände eingehalten, andere kritisieren genau das, gemeinsam mit den 70 infizierten Personen aus einem Restaurant in Leer (mehr dazu): Zu frühe Lockerungen, ständige Regelverstöße, die die Corona-Pandemie noch weiter in die Länge ziehen werden. Was aber zum Glück fehlt: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit.

Stellt euch vor, es wäre eine Moschee gewesen

Ich meine, klar, es gibt ein paar Reaktionen, die über Religiöse schimpfen und kritisieren, dass Gottesdienste nicht zu essentiellen Einrichtungen gehören. Ich habe ein paar wenige unsachliche Kommentare gefunden, für die ich aber auch eine Weile suchen musste:

Was niemand geschrieben hat: „Blöde Christen“ oder dergleichen. „Das Christentum gehört nicht zu Deutschland“. Und klar – gut so. Ein christlicher Glaube macht einen nicht zu einem Corona-Superspreader. Aber keine*r kommt und behauptet, die Gemeindemitglieder der Baptisten-Gemeinde würden deshalb nicht (mehr) „zu Deutschland gehören“, wegen des „Gottesdienst-Chaos“. Ihr wisst schon, worauf ich hinaus will.

Klar, es mag absurd erscheinen, AfD und andere Rassist*innen dafür zu kritisieren, dass sie NICHT über Frankfurt twittern. Man müsste froh sein um jedes Thema, das nicht instrumentalisiert wird und zur Hetze verwendet. Aber wann sprechen wir sonst über die rassistische oder anti-muslimische Heuchelei abseits davon, wenn Einzelfälle instrumentalisiert werden? Sonst sprechen wir immer nur über die Fälle, die diese Feinde der offenen Gesellschaft auf die Agenda bringen. Und das wirkt dann stets wie das Suchen nach „Ausreden“. Deshalb war mein erster Gedanke: Wie voll mit Hass gegen Muslim*innen wären gerade die Kommentarspalten der BILD, wenn es in Frankfurt keine Kirche, sondern eine Moschee gewesen wäre?

Rassistische Heuchler*innen und ihre Hetze

Nach etwa fünf Jahren Propaganda-Maschine der AfD wissen wir alle, wie das aussehen würde: Ganz viele gleichgeschaltete AfD-Accounts würden ganz empört reagieren. Sie würden über „Regelbrüche“ schreiben, für die wir die „Zeche“ bezahlen müssten. „DIE MUSLIME“ wären es, die UNS in Gefahr bringen (weil Muslim*innen angeblich ja keine Deutsche sein können). 107 Infizierte in Frankfurt, nur wegen „des Islams“. In den Kommentarspalten wäre Hass, Hetze, Beleidigungen und Todeswünsche für Muslim*innen der Normalzustand.

Und ja, diese Dinge gibt es derzeit NICHT. Ich plädiere auch nicht dafür, dass wir es jetzt so mit den Christ*innen aus Frankfurt machen sollten, genau im Gegenteil. Aber wir müssen darüber reden, warum es keine derartigen, schwachsinnigen Reaktionen jetzt nach Frankfurt gibt. Sicherlich nicht in dem Ausmaß, dass eine Partei aus dem Bundestag massiv eine Religion an den Pranger stellt und zum tausendsten Mal erklärt, sie gehöre „nicht zu Deutschland“, was auch immer das heißen soll. Wann sonst soll man aufzeigen, dass die Hetze der AfD (und auch der BILD) nur purer, geheuchelter, unlogischer Rassismus ist?

„Wer Religion über das Gesetz stellt, gehört nicht zu Deutschland“

Dass die AfD und ihre Hetz-Maschine in Social Media aus allen Propaganda-Rohren nach einem Fall wie Frankfurt geschossen hätte, wenn es eine Moschee gewesen wäre, ist eine Unterstellung. Aber eine, von der wir alle wissen, dass sie der Wahrheit entspricht. Nehmen wir beispielsweise einen Fall vor einer Berliner Moschee Anfang April, als die AfD noch teilweise so tun wollte, als würde sie die Gefahr des Virus ernst nehmen. 200.000 Aufrufe zu einem Video, Hetze gegen die Muslime.

Die Kommentare genau so, wie ihr es euch vorstellt:

Und ja, das war bereits zu einem Zeitpunkt, als die AfD selbst ein Ende der Maßnahmen gefordert hat, unter anderem, Gottesdienste zu Ostern zu erlauben:

Die Ramadan-Hysterie der AfD

Gleichzeitig während also die AfD heuchlerisch Muslim*innen kritisierte und eine Öffnung der Maßnahmen zu Ostern forderte, kritisierte sie das völlig frei erfundene (!) Gerücht, die Maßnahmen würden extra für Ramadan gelockert werden.

Die AfD schaffte es, über Muslim*innen zu hetzen für eine falsche (wie sich später ja gezeigt hat) Behauptung, die sie einfach selbst in die Welt gesetzt hat. Nicht nur das: Mit Hilfe der immer gern Hetz-Material liefernden BILD fantasierten sich die Rassist*innen auch ein „Ramadan-Chaos“ herbei. Beatrix von Storch kritisierte buchstäblich die „anderen“, für die unsere „christliche Kultur“ die „Zeche zahlen“ müsse.

Ramadan ist jetzt vorbei und offensichtlich gibt es trotz vieler Lockerungen noch viele Maßnahmen. Eine nächste Lüge der AfD, die nur heiße Luft war. Gleichzeitig wurden andere Fälle von Christ*innen von Anfang April ebenfalls ignoriert: Eine katholische Kirche aus Berlin klagte gegen das Gottesdienstverbot und wollte auch wieder Gottesdienste abhalten (Quelle). Keine Verurteilung durch die AfD. Oder was war mit den christlichen Kirchen in Brasilien, die Maßnahmen ignorierten (Quelle)? Eine christliche Sekte aus Südkorea, die zum “Superverbreiter” von Corona wurde (Quelle)? Und viele Fälle mehr. Der AfD egal, weil man damit nicht hetzen kann.

Lasst euch nicht von heuchlerischen Rassist*innen aufhetzen

In Frankfurt war es keine Moschee, sondern eine christliche Kirche. Wäre es aber eine gewesen, es wäre das Thema Nummer 1 heute gewesen. Und die Diskussion liefe zum millionsten Mal darum, ob „der Islam“ zu „Deutschland gehört“. Ja, dass jetzt keiner (nur) Christ*innen die Schuld gibt, ist so, wie es sein sollte. Ich musste nur darauf aufmerksam machen, dass es immer der Normalzustand sein sollte. Die Propaganda der AfD basiert auf keiner Logik, auf keinen Werten, sie ist nur rassistische Heuchelei, die dazu dient, einen Sündenbock für alles zu finden, gerne bei Muslim*innen/Flüchtlingen/Menschen mit „dunklem Teint“ – was für sie alles das gleiche ist.

Hört auf, ihre Hetze ernst zu nehmen. Die AfD hat NIEMALS valide Kritik. Sie sorgt nur dafür, sich die Fälle herauszupicken, mit welchen es auf den ersten Blick den Anschein erweckt, es wäre so. Wenn eine religiöse Veranstaltung wie in Frankfurt für viele Infektionen sorgt, ist das natürlich schlecht, völlig egal, welches die Religion ist. Der Taschenspielertrick der AfD ist es, diesen negativen Aspekt ausschließlich mit dem Islam und nur mit dem Islam zu verknüpfen. Es ist Scheiße schmeißen, mit der Hoffnung, das etwas kleben bleibt.

Die AfD hat niemals Recht

Wer die Partei oder ihre „Kritik“ (= Hetze) auch nur eine Sekunde ernst nimmt, der hilft der AfD. Der hilft dabei, anti-muslimische Ressentiments zu schüren sowie Rassismus und Faschismus zu verbreiten. Deshalb habe ich den Fall von Frankfurt herausgepickt. Damit wir sehen können, wie ein Diskurs normalerweise aussehen würde, wenn keine gut geölte Propaganda-Maschinerie den Diskurs verzerrt und heuchlerische Logiksprünge macht.

Nein, es ist gut, dass hier keine Grundsatzdiskussion entsteht, auf jeden Fall nicht in dem Ausmaß. Und es ist gut, dass sich die AfD gerade nur in ihrer eigenen Filterblase im Kreis dreht und in Umfragen verliert und auf neue Tiefststände fällt (Quelle). Aber diesen kleinen Denkanstoß sollten wir uns für die nächste Hetz-Welle merken.



Artikelbild: Angelina Bambina