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„Förderung kranker Schüler“ kürzen: Wir zerlegen die AfD-Ausreden

von | Feb 17, 2020 | Aktuelles, Bericht, Social Media

„Volksverblöder“ vs Volksverpetzer

Ich setzte mich heute mittag also an den Computer, um nachzulesen, was denn derzeit politisch so passiert. Ich hatte mir eine Tasse Tee vorbereitet, die gemütlich vor sich hin zog. Ein Freund schickte mir dann den Beitrag: „Ideologischer Populismus“, „Hass und Hetze“, die „Volksverblöder“. Die AfD Hessen war mit einem unserer Artikel nicht zufrieden und holte zum „Gegenschlag“ aus. Doch so eindrucksvoll war es am Ende dann doch nicht, wie es sich später herausstellen sollte. Ich ließ meinen Tee erst einmal stehen und arbeitete mich hinein. Aber zuerst: Was war passiert?

Vor zwei Tagen berichteten wir von mehreren Änderungsanträgen der AfD Hessen für den hessischen Haushalt. Die hessische Landtagsabgeordnete Katy Walther (Grüne) hatte 26 Änderungsanträge der AfD veröffentlicht, die neben Kürzungen für Flüchtlingsbetreuung, Förderung vonSchüler*innen mit Migrationshintergrund und Betreuung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen auch die “ Einsparung im Bereich Prävention von sonderpädagogischer Förderung/ Inklusive Beschulung/ Förderung kranker Schülerinnen und Schüler“ (wörtliches Zitat AfD!) forderten. Wir berichteten:

Herzlos: AfD will Förderung für „kranke Kinder“ streichen (& vieles mehr)

Heute hat die AfD Hessen auf den Beitrag von Walther und auf unseren Artikel reagiert. Und sie ist höchst beleidigt, dass wir ihre Anträge korrekt zitiert haben und sie dadurch so schlecht aussehen haben lassen. Sie wirft uns und Frau Walther „ideologischen Populismus“ vor und „Hass und manipulative Hetze“.

Es ist zu befürchten, dass die AfD da etwas verwechselt hat: Den „ideologischen Populismus“, der „Hass und manipulative Hetze“, die sie in unserem Artikel gesehen hat, waren leider die direkten Zitate aus den Änderungsanträgen der AfD Hessen. Das passiert den „Volksverblödern“ (wie sich die AfD glaube ich selbst bezeichnet, denn wenn jemand anderes gemeint wäre, wäre das ja „Hass und manipulative Hetze“) ja immer wieder. Zur Erinnerung, das ist die gleiche Fraktion, die einmal im Parlament ihren eigenen Antrag verschlafen hat (Quelle) oder beim Hessen-Wahlkampf Grenzkontrollen forderte:

Nicht ganz durchdacht: AfD Hessen fordert Grenzkontrollen…

Aber keine Sorge, wir als Faktenchecker und Aufklärer helfen gerne dabei aus, wenn Desinformation gestreut wird. Dekonstruieren wir das ganze einfach mal.

AfD möchte das Budget für kranke Schüler*innen um mehr als die Hälfte kürzen

Der hessische Haushalt für 2020 wurde Ende Januar verabschiedet. Die AfD Fraktion des hessischen Landtages stellte insgesamt 57 Änderungsanträge. Darin formulierte sie, wofür sie lieber weniger oder gar kein Geld ausgeben wolle oder wofür mehr. Frau Walther sagte über die AfD-Anträge „Hier soll alles gekürzt werden, was sozial Benachteiligten hilft, Flüchtlinge integriert, Inklusion ermöglicht, die Gesellschaft bunt, vielfältig und nachhaltig gestaltet“. Die AfD Fraktion weist diese „Anschuldigungen“ von sich.

Robert Lambrou von der AfD weist darauf hin, dass jeweils die Begründungen der Änderungsanträge weggelassen worden seien und ohnehin „nur“ 26 der 57 Anträge von Frau Walther gezeigt worden seien. In der Begründung des Antrags (Drucksache 20/1407) stehe nämlich:

„Pädagogisch begründete Inklusion wird von unserer Seite begrüßt. Die zu beobachtenden Inklusionsmaßnahmen der Landesregierung sind demgegenüber unsachgemäß und ideologiegetrieben. Die Förderung kranker Schüler im Sinne der Produktbeschreibung wird von der Kürzungsmaßnahme ausgenommen. Die hierdurch eingesparten Finanzmittel können zur Stärkung des bewährten Förderschulsystems zum Einsatz kommen.“

AfD begründet die Kürzung nicht einmal

Ironischerweise lässt die AfD in ihrem Facebook-Post selbst einen Teil der Begründung weg – nämlich den Satz „Die zu beobachtenden Inklusionsmaßnahmen der Landesregierung sind demgegenüber unsachgemäß und ideologiegetrieben.“ Warum? Macht es die verzerrte Darstellung der AfD kaputt, wenn man zeigt, wie gerne man mit der Ideologie-Keule um sich wirft? Was soll überhaupt „unsachgemäß und ideologiegetrieben“ heißen? Und warum ist es in Ordnung, wenn die AfD Teile ihres Antrags weglässt, aber nicht, wenn es Frau Walther macht?

Aber jetzt mal im Ernst: Die AfD möchte die „Inklusive Beschulung“ und „Förderung kranker Schülerinnen und Schüler“ (AfD-Zitat!) „signifikant einsparen“ (AfD-Zitat!) – Und laut eigenem Antrag das Budget von 258 Mio € um mehr als die Hälfte auf 123 Mio € kürzen.

Was stimmt denn jetzt nicht an der Aussage von Frau Walther, die sagt, die AfD möchte Gelder für Inklusion kürzen? Oder negiert der Satz der AfD, dass sie“ begründete Inklusion […] begrüßt“, dass sie dafür 135 Millionen € streichen will? Für die AfD ist es „Hetze“ und „Populismus“, wenn man ihre eigenen Anträge verbreitet. Was mehr über die AfD Hessen aussagt als über Katy Walther – und über uns. Aber für die eigene Anhängerschaft reicht es anscheinend, einfach zu behaupten, man hätte nicht beantragt, was man beantragt hat, damit diese das glauben.

Weglassen von Änderungsanträgen

Die AfD behauptet weiterhin, dass das „Weglassen von Änderungsanträgen […] eindeutig manipulativ versucht, die Wirklichkeit zu verzerren“. Sie vergisst aber in ihrem Beitrag, auch nur ein einziges Gegenbeispiel zu erwähnen oder selbst jene anderen Anträge aufzuzählen oder zu erklären, inwieweit das die Darstellung verändert. Halten wir fest: Die AfD wirft Frau Walther und uns vor, die „Wirklichkeit zu verzerren“, weil wir immerhin gut die Hälfte ihrer Anträge besprochen haben, aber lässt diese selbst weg. Ist das nicht eine… Verzerrung der Realität? Außerdem hat Frau Walther ja einen Link gepostet und ihre Leser*innen aufgefordert: „Nehmt Euch die Zeit und schaut Euch das an!“ Ist die Aufforderung, alle Anträge der AfD (ich nehme an, mit Begründungen) durchzulesen, jetzt „Hass und manipulative Hetze“?

Die AfD behauptet, das sei eine „üble Diffamierungskampagne“ und sie habe „mit Sicherheit andere Vorstellungen als die Grünen“ – aber sie erwähnt nirgendwo, wie es denn ihrer Meinung nach wirklich aussehen soll. Will die AfD etwa nicht Gelder für Kinder mit Migrationshintergrund kürzen? Gelder für Ganztagsschulen? Fördermittel für Religionsgemeinschaften? Die Stabsstelle „Koordinierung Asyl- und Flüchtlingspolitik“ ersatzlos streichen, genau wie die Mittel für die „Respekt- / Wertekampagne“ und das „Förderprodukt Antidiskriminierung“? Will sie nicht Ausgleich von sozialen Benachteiligungen streichen? „Innovative Mobilität“? Gelder kürzen für Naturschutzverbände, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, Schulen in freier Trägerschaft, Ausbildungs- und Berufsvorbereitung?

Sinnfreie Begründungen

Was ändern „Begründungen“ daran, dass das Förderprodukt „Antidiskriminierung“ von 800.000€ gestrichen werden soll? Die Begründung der AfD ist, dass Integration vom Staat nicht gefördert werden soll, weil stattdessen der Staat lieber eine „breit angelegte, akzeptierte und legitimierte Politik“ machen soll. Weil Solidarität nicht eine „Frage des Geldes“ sei, sondern durch Akzeptanz in der Bevölkerung entsteht. (Drucksache 20/1925). Ja wirklich, die Partei, die täglich Hass, Hetze und Lügen über Migranten verbreitet, die ohne Erklärung das Budget für Integrationsmaßnahme kürzen will (Drucksache 20/1922), sagt, Integration müsse anders erreicht werden. Aber als Staat soll man keine Förderprojekte fördern, sondern lieber Politik machen, die das erreicht. Aber … ist die Förderung von Akzeptanzprojekten nicht eine politische Maßnahme?? Die AfD erklärt nicht, wie diese andere Politik denn aussehen soll. Nunja, wenn man in ihre Drucksache 20/1407 schaut, wo die AfD 120 zusätzliche Abschiebehaftplätze schaffen möchte, kann man sich vorstellen, was sie unter „Integration“ versteht. Integration ist anscheinend „keine Frage des Geldes“, Abschiebungen allerdings schon.

Ich möchte an dieser Stelle auch einmal darauf hinweisen, dass das Land Hessen einen Haushaltsüberschuss von 1,5 Milliarden Euro aufweist (Quelle). Es ist also nicht so, als müsse irgendwo dringend Geld eingespart werden. Nein, die AfD möchte Kulturinitiativen und soziokulturellen Einrichtungen, hochqualifizierten Studierenden und Wissenschaftler*innen, Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und den Ausgleich von sozialen Benachteiligungen streichen und Geld für kranke Schüler*innen, sonderpädagogische Förderung, Naturschutzverbände, Schulen in freier Trägerschaft und Schüler*innen mit Migrationshintergrund ebenfalls, mit Begründungen wie: Man solle lieber „akzeptierte Politik“ machen oder sie seien „unsachgemäß und ideologiegetrieben“.

Das ganze Bild (?)

Weil die AfD es selbst versäumt, einige der anderen Anträge aufzuzählen, die wir und Frau Walther ganz „wirklichkeitsverzerrend“ weggelassen haben, müssen wir offenbar auch den Job der AfD machen: Die AfD möchte unter anderem einen „Hebammenbonus“ (Drucksache 20/1924) einführen, Mittel für den Haftungs- und Beteiligungsfond streichen (20/1913) oder Streichung der Mittel für Zinsverbilligungen (20/1912), um ein paar willkürliche Beispiele zu nennen. Aber egal ob sinnvoll oder nicht – Was hat das mit den restlichen Streichungen zu tun? Inwieweit ändert das etwas? Die AfD wirft ihren naiven Wähler*innen einfach Sand in die Augen, damit sie ihre Taschenspielertricks nicht bemerken. Frau Walther hat ihre Leser*innen aufgefordert, alle Anträge der AfD selbst zu lesen – die AfD tat das nicht.

Ja, es ist Fakt, dass die AfD die Förderung für kranke Schüler*innen streichen will – für „Inklusion“, wie es Frau Walther sagte. Ja, es ist auch richtig, dass die AfD stattdessen 120.000€ für die Förderung und Schaffung von Förderschulen ausgeben möchte (Drucksache 20/1904). Aber halten wir fest: Die Vorwürfe lauteten, dass die AfD kranke und behinderte Kinder aus der Gesellschaft ausschließen möchte (Förderung von Inklusion streichen). Und die AfD streicht diese Fördermaßnahmen um mehr als die Hälfte und will diese Kinder stattdessen in eigene Schulen segregieren.

Ein Blick in das Wahlprogramm der AfD Hessen 2018 (Punkt 7.8.) zeigt, dass die AfD behauptet, Inklusion sei „nicht in allen Fällen sinnvoll“ – und erklärt nicht, was das heißen soll. Sie erklärt dort, die „normalen“ Schulen müssten personell und baulich angepasst werden, um kranke Schüler*innen aufnehmen zu können. Weil das schlecht sei, wolle sie jetzt das halbe Budget dafür kürzen und lieber extra Schulen für sie bauen. Die AfD behauptet, statt umständlich neues Personal zu beschaffen und bauliche Maßnahmen durchzuführen, um eine „politisch gewollte“ Inklusion durchzuführen, solle man lieber neues Personal beschaffen und bauliche Maßnahmen durchführen, um kranke und behinderte Kinder von der Gesellschaft auszuschließen. Oder ist es immer noch „eindeutig manipulativ“ und „verzerrt die Wirklichkeit“, wenn man aus deren Wahlprogramm zitiert?

Walther: „Wenn getroffene Hunde bellen“

In einer Stellungnahme hat Frau Walther noch einmal selbst alle Einsparungen und Kürzungen der AfD aufgezählt. Sie stellt auch fest: „So beantragt die Fraktion im Landtag eine signifikante (sic!) Einsparung im Bereich Prävention von sonderpädagogischer Förderung / Inklusiver Beschulung / Förderung kranker Schülerinnen und Schüler und will im Gegenzug die Bildung und Erziehung in Förderschulen stärken. Der Kontext ist überdeutlich: Kinder mit besonderem Förderungsbedarf sollen raus aus den Regelschulen, weg vom gemischten Schulhof und in Förderschulen gefälligst unter sich bleiben. Ein Zynismus, der sprachlos macht.“

„Gekürzt werden sollen Leistungen für Schulen in freier Trägerschaft, Leistungen für Ausbildungs- und Berufsvorbereitung an beruflichen Schulen sowie für die Mittelstufe an Schulen für Erwachsene und Ganztagsangebote an Schulen. Im Gegenzug möchte die Fraktion mehr für das dreigliedrige Schulsystem geleistet sehen. Wieder wird die Stoßrichtung deutlich: Wer nicht dem Wertekanon der AfD entspricht, soll abgehängt werden.“

Wie wir auch bemerkt haben: Die AfD hat zwar uns vorgeworfen, wir würden Begründungen und alle anderen Anträge absichtlich weglassen, erwähnt aber keinen der verbliebenen 56 Anträge selbst. So schreibt Walther: „Es ist wenig verwunderlich, dass die AfD ihre Anträge, welche jederzeit öffentlich in der Parlamentsdatenbank einsehbar sind, nicht selbstbewusst und öffentlich bewirbt. Es spricht für sich, dass die Landtagsfraktion und ihre Unterstützer vielmehr diejenigen angreifen, welche Transparenz schaffen. Zu deutlich der rote Faden, zu offensichtlich entfernt von der eigenen Maskerade der Bürgerlichkeit.“

Das große Problem ist, dass die Gegner*innen und Kritiker*innen sich mehr mit den Anträgen der AfD beschäftigen, als die Anhänger*innen der Partei.

A propos „Hass und Hetze“: Fake News gegen Walther

Während also unsere faktentreue Berichterstattung ohne Gegendarstellung von der AfD als „Hass und Hetze“ bezeichnet werden, verbreiten wiederum AfD-Fans *echte* Fake News über Katy Walther. Auf einer Seite, auf der man buchstäblich seine eigenen Fake News kreieren kann, behaupten AfD-Anhänger*innen, Walther hätte sich dafür „entschuldigt“, die Anträge der AfD veröffentlicht zu haben. Besonders lächerlich: Sie soll gesagt haben, sie habe „Fakenews“ „gegen die einzig wahre Opposition“ [sic] verbreitet.

Ich meine – was soll man dazu groß sagen? Wenn man Screenshots der eigenen Anträge der AfD verbreitet und mit den Worten der AfD (!) erklärt, was ihre Pläne sind, wirft die AfD Hessen einem vor, „Hass und manipulative Hetze“ zu verbreiten. Weil man die Begründung der Anträge weglasse, die nichts erklärt und die geforderte Kürzung nicht ungeschehen macht oder andere Anträge – die die AfD Hessen selbst mit keinem Wort erwähnt, nicht aufführt. Ich weiß auch nicht, den eigenen Anhänger*innen reicht das anscheinend.

Fazit

Neben erwartbaren Forderungen wie der Kürzung und Streichung von diversen Integrationsmaßnahmen (Denn die AfD profitiert von nicht-integrierten Flüchtlingen, deswegen erklärt sie auch nicht, wie man sie stattdessen integrieren sollte und fordert mehr Abschiebehaftplätze), will sie so ziemlich alles streichen, was Armen, Schwachen und Kranken hilft. Sie will mehr Gerichtsvollzieher, aber weniger „politische Koordination, Öffentlichkeitsarbeit und Repräsentation in Europaangelegenheiten“ oder Inklusion von „kranken“ Schüler*innen.

Die AfD unterscheidet zwischen „Förderschulkindern als auch Regelschulkindern“ [sic]. Für sie sind das zwei verschiedene. Es sind nicht alles Kinder. Kinder mit Krankheiten oder Behinderungen sollen getrennt von den „normalen“ Kindern aufwachsen. Kinder mit Migrationshintergrund sollen nicht mehr gefördert werden. Warum? Weil alles andere „ideologiegetrieben“ sei. Das ist alles. Das reicht schon als Begründung. Die AfD habe natürlich keine „Ideologie“, was natürlich absurd ist. Die AfD simuliert Empörung, sie simuliert Argumente, um eine sozialdarwinistische Politik durchzusetzen.

Und wenn man eine Grünen-Politikerin zeigt, was sie so für Anträge stellt und alle dazu auffordert, sich ein eigenes Bild davon zu machen, ist das für die AfD „ideologischer Populismus“. Die gleiche AfD, die selbst keinen ihrer eigenen Anträge selbst in ihrer Richtigstellung erwähnt. Selbst das mussten wir für sie übernehmen Die AfD kriegt dafür Steuergelder, wir leben ausschließlich von Spenden. Mein Tee ist inzwischen kalt, aber was soll’s, Prost.

Diese Tasse kann man auch nicht zufällig in unserem Shop kaufen und sie soll auch gar keine subtile Botschaft an die AfD sein.



Artikelbild: pixabay.com, CC0