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Midterms: Demokratie stirbt auf der Titelseite – nicht in der Dunkelheit 

von | Nov 8, 2022 | Aktuelles

Gastbeitrag von Annika Brockschmidt

“Demokraten und Republikaner (ringen) so unversöhnlich und brutal wie selten zuvor um die Macht im Land”, es gehe um “Grundsätzliches”. Ein Satz, der exemplarisch das massive Problem großer Teile der Midterms-Berichterstattung etablierter Medien in Deutschland, aber auch in den USA zeigt. Er stammt von Rieke Havertz, “ZEIT”-Korrespondentin in Washington D.C., die in ihrem Artikel “Texas: Ein Kampf verfeindeter Stämme” das Bild eines tief gespaltenen Landes zeichnet, in dem beide politischen Lager mit denselben Mitteln kämpfen. Der Text ist ein klassisches Beispiel für einen Journalismus, der sich von einem falsch verstandenen Neutralitätsbegriff leiten lässt, der davon ausgeht, dass eine ausgewogene Berichterstattung beide politischen Parteien immer gleichermaßen kritisieren muss. In einem funktionierenden demokratischen politischen System mag das eine Zeit lang gut gehen.

Doch wenn sich, wie derzeit in den USA, eine Partei dramatisch nach rechts bewegt, verschieben Journalisten, die meinen, unabhängig von der politischen Lage immer eine Äquidistanz zwischen Demokraten und Republikanern einhalten zu müssen, den Diskurs selbst massiv nach rechts – und lassen sich in ihrem Bemühen, ähnliche Kritik an Demokraten zu üben, ungewollt von rechten Narrativen treiben. Gleichzeitig bilden sie ein extrem verzerrtes Bild der Realität ab, was der Demokratie Schaden zufügt.

Wer seine Informationen allein aus Havertz’ Artikel bezieht, würde nicht darauf kommen, dass diverse Republikanische Politiker und Vertreter der amerikanischen Rechten politische Gewalt im Midterms-Wahlkampf beworben oder gutgeheißen haben, dass sie das aktuelle Klima des Hasses heraufbeschworen haben, das schon zu zwei versuchten Attentaten innerhalb von zwei Jahren auf die Nummer Drei der USA, die Demokratin Nancy Pelosi, geführt hat. Oder dass von vielen Journalisten als moderat dargestellte Republikaner wie der Gouverneur von Virginia, Glenn Youngkin, sich darüber lustig machten, dass Pelosis Ehemann vor nur wenigen Tagen von einem rechten Angreifer der Schädel mit einem Hammer gebrochen wurde.

Hufeisen in den Medien: Der „False Balance“-Fanatismus

Der Historiker Thomas Zimmer beschreibt in unserem Podcast “Kreuz und Flagge” in der aktuellen Folge “Democracy Dies on the Front Page” verschiedene Strategien, mit denen Journalisten versuchen, die so begehrte angebliche “Balance” in ihrer Berichterstattung in extrem asymmetrischen Rennen herzustellen. Eine Variante, erklärt er, sei der Horse Race”-Journalismus, der Wahlkampf wie einen sportlichen Wettkampf behandele. Eine zweite Möglichkeit sei es, “was von den Republikanern kommt, als glaubwürdiger und respektabler darzustellen, als es eigentlich ist.”

Das werde erreicht, indem man den Kontext weglasse, in dem die entsprechenden Äußerungen getroffen werden und indem man die Aussagen inhaltlich nicht überprüfe. Die letzte Variante sei,  bei den Demokraten krampfhaft nach etwas zu suchen, das als gleichwertig kritikwürdig wie die politischen Positionen der Republikaner dargestellt werden könne. 

Anja Wehler-Schöck schreibt im Tagesspiegel über Biden: “Während Trump-Fan-Artikel nach wie vor schier omnipräsent sind, sucht man Biden-T-Shirts und -Andenken vielerorts vergeblich” – als wäre ein faschistoider Persönlichkeitskult ein verlässlicher Gradmesser für Beliebtheitswerte eines Präsidenten. Die Aussage des Textes, dass “in der Politik (…)  die Bereitschaft zur Zusammenarbeit über die Parteigrenzen hinweg gesunken (ist)”, ist extrem verzerrend in ihrer Verallgemeinerung. Jahrelang haben prominente Demokraten sich der berühmten “Bipartisanship” verschrieben, haben versucht, mit Republikanern zu verhandeln, Brücken zu bauen.

Das Zwei-PArteien-System erstickt den Pluralismus

Doch die Republikaner, die dazu bereit wären, haben keine Zukunft mehr in der Partei, scheiden aus oder werden kaltgestellt. Wehler-Schöck blendet das komplett aus und lässt es aussehen, als wären beide politischen Seiten gleichermaßen an der volatilen politischen Situation Schuld:

“Statt überparteilich an den grundlegenden sozioökonomischen Baustellen des Landes zu arbeiten, erschöpft man sich in hoch emotionalen ideologischen Grabenkämpfen. Das rigide Zweiparteiensystem und eine binäre Medienlandschaft, in der Nachrichten ohne ideologische Einfärbung zur Seltenheit geworden sind, ersticken den politischen Pluralismus.”

Beide Seiten hätten dazu beigetragen, dass keinerlei Konsens mehr erreicht werden könne, so lautet ihre Schlussfolgerung – falsch, denn nur eine Seite zeichnet die andere seit Jahren als unamerikanisches Monster, als Pädophile, die Kinder missbrauchten und mit dem Teufel im Bunde seien. 

Medien übernehmen rechte Talking Points

Ein weiteres Beispiel aus dem “ZEIT”-Artikel zu den Midterms: Dass die Demokratische Kandidatin mit den für sie zutreffenden Pronomen angesprochen werden will, während die Republikanische behauptet, “die Linke” – gemeint sind hier wohl die Demokraten – wolle ihr das Land, “die Liebe zu Gott und die Erziehung ihrer eigenen Kinder” wegnehmen, schafft eine falsche Äquivalenz – und suggeriert, beides seien gleichwertig in der Realität verankerte Auffassungen. 

Gleichzeitig werden rechte Narrative übernommen – indem rechte Talking Points als Argumente in good faith wahrgenommen werden. Wenn Fox News nach Wochen plötzlich aufhört, über Inflation zu berichten und sich thematisch alles nur noch um “crime” dreht, muss kontextualisiert werden, dass es sich hier um eine von rechten Medien heraufbeschworene Panik für die Midterms handelt, nachdem die Inflation kurzzeitig wieder gesunken war. 

Politico” titelt: “Midterm-Wähler fokussieren sich auf Verbrechen”: “Verbrechen und öffentliche Sicherheit sind wichtige Themen in den Zwischenwahlen, während Republikaner Demokraten in ihrem Wahlkampf und in Werbespots unbarmherzig zu einem Anstieg der Verbrechensrate während der Pandemie verantwortlich machen.” Auch “The Hill” titelt: “Republikaner reiten auf Verbrechenswelle Richtung Ziellinie in den Midterms.” Eine Überschrift bei “NPR” lautet: “Demokraten wenden sich der Polizei zu, aber kann das von Verbrechen in ihren Städten ablenken?”

Fehlende Einordnung und „Both-Sides-ism“

Was fehlt, ist die Einordnung der Republikanischen Behauptungen – und die der eigenen Rolle bei der Verbreitung rechter Narrative. Zwar sind Mordraten in Städten grundsätzlich höher auf dem Land – logisch, dort wohnen mehr Menschen auf engerem Raum – und besonders große Städte traditionell oft in Demokratischer Hand. Doch nach Berechnungen des liberalen Think Tanks “Third Way” waren 2020 die Mordrate pro Kopf in Staaten, die Trump gewonnen hatte, um 40% höher als in solchen, wo Biden gewonnen hatte. 8 von den 10 Staaten mit den höchsten Mordzahlen 2020 haben in jeder Präsidentschaftswahl in diesem Jahrhundert für den Republikanischen Kandidaten gestimmt.

Washington Post Kolumnist Marc Thiessen behauptete im Bezug auf den “Third Way” Bericht, dass in roten Staaten besonders die Demokratisch regierten großen Städte die Verbrechensraten nach oben treiben würden, und nennt als Beispiel Kansas City und St. Louis. Aber selbst wenn man Kansas City und St. Louis im Bundesstaat Missouri aus der Rechnung herausnimmt, wäre die Mordrate in Missouri immer noch höher als die in New York State, inklusive New York City, schreibt der Journalist Radley Balko.

Unaufrichtige Argumente werden nicht eingeordnet und nicht gefaktencheckt

Der Historiker Rick Perlstein beschreibt diese Asymmetrie in seinem Buch Reaganland – denn Both-Sides-ism hat in den USA eine lange Tradition. Die Sehnsucht nach “Balance” und das aktive Verschließen der Augen vor extremen Asymmetrien zugunsten dieser angeblichen “Balance” ist laut Perlstein das Ergebnis davon, dass “Medien die rechtsaußen Kritik an ihnen internalisiert, dass sie durch liberale Voreingenommenheit strukturiert seien.” Um der Kritik der Rechten entgegenzuwirken, versuchen etablierte Medien krampfhaft Ausgeglichenheit zu finden, wo keine ist. 

Perlstein wünscht sich gegenüber der Columbia Journalism Review mehr Selbstreflektion und Geschichtsbewusstsein von Journalisten: “Mein Rat an Reporter wäre, sich nicht manipulieren zu lassen: zu lernen, wie rechte Politiker in der Geschichte die Sorgen von kulturell-elitären Journalisten zur Waffe gemacht haben, um sich selbst mehr Macht zu verschaffen. Die Strategien der Mächtigen ohne Angst oder Gefälligkeiten zu enthüllen ist die höchste Berufung von Journalisten.”  

Fazit: Falsche „Neutralität“ in Wahrheit Wahlkampf für Rechts

Das Fazit aus den letzten Jahren ist ernüchternd: “Die etablierten Medien in den USA werden der Demokratie nicht zu Hilfe kommen. Wenn es gelingt, die Demokratie in den USA zu halten, dann obwohl die Mainstream-Medien entschieden haben, dass es ihre Aufgabe nicht ist, die Demokratie zu verteidigen”, sagt Thomas Zimmer. Denn die angebliche Neutralität ist keine mehr, wenn nicht anerkannt wird, was unter Historikern und Experten zur amerikanischen Rechten unumstritten ist:

Dass Demokratisches Messaging an der nicht zu durchdringenden Schallmauer eines in sich geschlossenen Desinformations-Mediensystems abprallt, zu dem es kein Äquivalent auf der linken oder zentristischen Seite gibt, dass eine der beiden großen Parteien längst den demokratischen Rahmen verlassen hat, Demokraten dämonisieren und politische Gewalt bereitwillig in Kauf nimmt. 

Gleichzeitig wirken rechte Medien weit über ihr eigenes Publikum hinaus – indem Mainstream-Medien im Namen der “Balance” ihre Framings reproduzieren. Wenn Demokratischer Wahlkampf in den Midterms – zu Recht – kritisiert wird, muss trotzdem auch berichtet werden, dass die Republikaner praktisch ohne Programm antreten, ohne Policies – außer Culture Wars und “own the libs”. Wenn eine Partei den demokratischen Rahmen verlässt, hilft es nicht, so zu tun, als handle es sich um eine ganz normale Midterms-Wahl. Die Demokratie steht auf dem Wahlzettel – und wenn Journalisten das nicht erkennen, sei es aus Unkenntnis der amerikanischen Rechten, Naivität oder einer falsch verstandenen Neutralität, helfen sie indirekt, aber aktiv den Kräften, die die Demokratie zerstören wollen. 

Annika Brockschmidt ist Historikerin und Journalistin. Sie beschäftigt sich unter anderem mit dem Einfluss der Religiösen Rechten auf die amerikanische Politik. 2021 erschien ihr aktuelles Buch „Amerikas Gotteskrieger. Wie die Religiöse Rechte die Demokratie gefährdet“ bei Rowohlt. Artikelbild: Screenshots