Studie: Demokratie weltweit rückläufig
Die Eskalation des Ukraine-Konflikts ist nur ein weiteres Beispiel für den Fakt, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit immer weiter in die Defensive gedrängt werden. Nationalismus und Klientelpolitik sind salonfähig geworden – auch hier, mitten in Europa. Der Transformationsindex der Bertelsmann-Stiftung (BTI) analysiert und bewertet seit 2004 im Abstand von zwei Jahren, ob und in welcher Qualität Entwicklungs- und Transformationsländer einen gesellschaftlichen Wandel hin zu rechtsstaatlicher Demokratie und sozialpolitisch flankierter Marktwirtschaft gestalten. Als weltweit einziger Index stellt der BTI die Managementleistung der maßgeblichen politischen Akteur:innen in den Fokus der Untersuchung.
Nur noch Minderheit der untersuchten Staaten Demokratien
Staaten, deren demokratische Systeme über einen längeren Zeitraum als stabil und die marktwirtschaftlichen Entwicklungen als weit fortschrittlich einzuordnen sind, werden nicht mitgezählt. Ebenso ausgeschlossen von der Erhebung werden Länder mit weniger als einer Million Einwohner:innen, wobei die Kleinstaaten Montenegro, Bhutan und Dschibuti aufgrund ihrer beachtlichen Entwicklungen dennoch in den Transformationsindex aufgenommen wurden (Quelle).
Die methodische Grundlage der Studie ist ein standardisiertes Codebuch, anhand dessen Länderexpert:innen für jeden Staat prüfen, inwieweit die insgesamt 17 Kriterien, darunter Presse- und Meinungsfreiheit sowie die Funktionalität der politischen und gesellschaftlichen Integration, erfüllt werden (Quelle).
Für den aktuellen Index erhoben die Forschenden im Zeitraum vom 01. Februar 2019 bis zum 31. Januar 2021 ökonomische und gesellschaftliche Kennzahlen 137 Entwicklungs- und Transformationsländer.
Das Ergebnis des am Mittwoch veröffentlichten BTI 2022 überrascht zwar nicht, ist aber nicht minder erschütternd: Nur 67 der untersuchten Staaten werden noch als demokratisch eingestuft, die restlichen 70 sind dagegen autoritäre Systeme. Erstmals in seiner Historie verzeichnet der Transformationsindex der Bertelsmann-Stiftung mehr Autokratien als Demokratien.
Fast jede fünfte Demokratie hat an Qualität verloren
Als „sich konsolidierende Demokratien” nennen die Expert:innen unter anderem Uruguay, Tschechien, Südkorea und Botswana. Der Studie zufolge hat jedoch global beinahe jede fünfte Demokratie in den letzten Jahren an Qualität verloren. Stark abgerutscht sind im Ranking beispielsweise Brasilien, Polen, Ungarn und die Türkei. Diese Staaten wurden allesamt vor wenigen Jahren noch als Demokratien geführt und gelten nun als „defekte Demokratien“.
Sieben Länder, die noch vor zwei Jahren als „defekte Demokratien“ galten, sind im BTI 2022 neu als autoritäre Systeme klassifiziert worden, darunter Guinea, Madagaskar und Tansania.
Ursache für den Rückgang von Demokratiequalität seien zumeist die einseitige Konzentration der Eliten auf politische und wirtschaftliche Machtsicherung, der jegliche gesellschaftliche Entwicklung untergeordnet wird, so die Forschenden der Bertelsmann-Stiftung. Der vielerorts vorangetriebene Abbau von Rechtsstaatlichkeit und Freiheitsrechten, die wachsende wirtschaftliche Ungleichheit sowie das Unvermögen von Regierungen, nach einem breiten Konsens für politische Lösungen zu suchen, seien einige der Auswirkungen, welche die Bertelsmann-Stiftung seit mehr als einem Jahrzehnt beobachtet.
Demokratien haben die Pandemie besser überstanden
Die Pandemie wirke zudem wie ein extremer Stresstest für viele Regierungen, der Fehlentwicklungen nochmal verschärfe. Unter den 36 Staaten, die im Pandemie-Krisenmanagement erfolgreich abschnitten, sind im aktuellen Transformationsindex lediglich drei Autokratien verzeichnet. Die große Mehrheit von mehr als 100 Regierungen mit Demokratie-Defiziten habe sich unfähig gezeigt, angemessen auf die Pandemie und die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen zu reagieren, erklärten die Autor:innen. Das ungenügende Krisenmanagement in populistisch geführten Staaten wie etwa Brasilien führte zu einer fast ungehinderten Ausbreitung von Covid-19, was bereits bestehende Probleme im Land zusätzlich vergrößerte (Quelle).
Der durch die Pandemie ausgelöste wirtschaftliche Schock hat dem BTI zufolge in 78 Staaten zu einer deutlich geringeren wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit geführt. Vielen Regierungen fehle jedoch vor allem der politische Wille, Verarmung und sozialer Ausgrenzung entgegenzuwirken, kritisierten die Studien-Autor:innen. Stattdessen hätten vor allem Länder, die bereits vor zwei Jahren als Autokratie eingestuft wurden, Covid-19 genutzt, um die Grundrechte ihrer Bevölkerung noch weiter einzuschränken und kritische Stimmen zu unterdrücken.
Der größte Impuls für Demokratie kommt von Zivilgesellschaften
Positiv hebt die Bertelsmann-Stiftung in ihrer Erklärung das starke zivilgesellschaftliche Engagement in harten autoritären Systemen hervor, etwa in Belarus, Myanmar und im Sudan. Auch hinsichtlich von Korruption und Amtsmissbrauch in Ländern wie Bulgarien, Tschechien oder Rumänien zeigte sich laut der Expert:innen eine ausgeprägte Stärke bürgerschaftlichen Engagements. Die größten Impulse für demokratische Innovation und Erneuerung würden derzeit weitaus seltener von Regierungen als von kritischen Zivilgesellschaften ausgehen, resümieren die Forschenden (Quelle).
Artikelbild: Oleksandr Polonskyi
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